Gewag­ter Kreis

Der Vortex – zu Deutsch Wirbel – ist ein ringförmiger Wohnbau auf dem Campus der Uni Lausanne. Trotz gigantischen Ausmassen und einem Laubengang, der tiefe Einblicke gewährt, soll das Haus rund 900 Angehörigen von Uni und EPFL ein Gefühl der Gemeinschaft vermitteln. Dieser Tage ziehen Bewohnerinnen und Bewohner ein. Wird das Experiment gelingen?

 

Data di pubblicazione
02-09-2020

Kaum eingeweiht und schon zweimal umgenutzt: Auf dem Campus der Universität Lausanne in Chavannes-près-Renens VD, unmittelbar neben dem EPFL-Campus, wurde Ende 2019 der Neubau Vortex fertiggestellt. Im Januar 2020 diente er als Unterkunft für die Athletinnen und Athleten der Winter­jugendolympiade in Lausanne; auf dem Höhepunkt der Covid-19-Pandemie im Frühling bzw. Frühsommer 2020 wurde er als provisorische Wohnstätte für Spitalpersonal gebraucht; nun, im Spätsommer 2020, beginnt seine dritte – geplant eigentlich als zweite – Nutzung als Wohnhaus für Studierende und Gäste der Universität und der EPF Lausanne. Die neuen Bewohnerinnen und Bewohner sind zurzeit daran, ihre Zimmer und Studios einzurichten; bis Beginn des Herbstsemesters Mitte September werden alle 712 Wohnungen bezogen sein.

Das noch nicht einmal einjährige Gebäude hat also schon eine bewegte Geschichte hinter sich. Es ist aber auch aus anderen Gründen bemerkenswert. Die schiere Grösse – der Aussendurchmesser beträgt 137 m – und die gewagte Konzeption machen es zu einem Experiment, das es zu beachten gilt. Sein Leitgedanke äussert sich in der Synthese zweier Elemente: der monu­men­talen Kreisform und der Erschliessung durch einen Laubengang.

Der Kreis: Gemeinschaft im Panoptikum

Die Form beruht auf der Erwartung, dass ein Rundbau dieser Dimensionen bei den rund tausend Bewohnerinnen und Bewohnern, die einander nicht unbedingt kennen, ein Gemeinschaftsgefühl weckt. Diese Tendenz machen sich heute unterschiedlichste grossmassstäbliche Projekte zunutze, von neuen Stadtquartieren über Ferienanlagen und gemeinnützige Wohnbauten bis hin zu Firmensitzen. Das Prinzip könnte sich daher auch für studentische Gemeinschaften eignen, deren Mitglieder ebenso vorübergehend wie austauschbar sind; verwirklicht wurde es in neuerer Zeit im berühmten Tietgenkollegiet in Kopenhagen (Lundgaard & Tran­berg, 2006), aber auch schon vor 26 Jahren in ­Lausanne (Studierendenwohnheim Campagne des ­Cèdres, Ceccaroli & Golay, 1994).

Jenseits der Symbolik schafft die runde Form vergleichbare Bedingungen für alle Bewohnerinnen und Bewohner. Indem sie die panoptischen Blickwinkel vervielfacht, entsteht auf natürliche Weise ein selbstregulierendes Netzwerk: Alle können sich gegenseitig beobachten – und überwachen. Es ist kein Zufall, dass diese planimetrische Figur sowohl in Gefängnissen als auch in Bibliotheken vorkommt. Für die Studierenden könnte sie sich als hilfreich erweisen: Wer war nicht schon froh um die motivierende Gesellschaft seiner Kommilitoninnen, um sich abends zum Lernen aufzuraffen? Als «demokratische» Form par excellence versetzt der Vortex alle in dieselbe Lage; es ist gleichsam ein auf sich selbst orientiertes Theater, in dem Schauspieler und Publikum eins sind.

Typologisch entspricht der Vortex hingegen ­einer Girlande. Gewöhnlich sind Studierendenunterkünfte für Gruppen konzipiert: In Cluster- oder Gemeinschaftswohnungen sind die Zimmer üblicherweise um soziale Kernelemente wie Aufenthaltsraum und Gemeinschaftsküche herum angeordnet. Im Vortex dagegen werden zwei Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner in individuellen «Wohnboxen» leben: in einfachen Wohnräumen, die direkt an einen 3.5 km langen spi­ral­förmigen Laubengang angeschlossen sind.

Den vollständigen Artikel finden Sie in TEC21 26/2020 «800 Fenster zum Hof».

Der Laubengang: olympische Vision, spartanische Lebensweise

Der Laubengang steht sowohl für eine gesellschaftliche Vision als auch für die Kargheit der Mittel: Er fördert nicht nur Begegnungen, sondern dient auch dazu, ­beheizte Fläche einzusparen. Entsprechend findet das gegenwärtige Revival des Laubengangs im besonderen Umfeld von Baugenossenschaften und bei Umbauten statt. Im Bereich des studentischen Wohnens, wo das Budget zwangsläufig begrenzt ist, wurde die Laubengangerschliessung in neuerer Zeit in der Maison des étudiants in Genf (Lacroix Chessex, 2012) und in La Ciguë in Carouge (Dreier Frenzel, 2018) mit Bravour umgesetzt.

Allerdings dient der Laubengang in diesen beiden Fällen nur als sekundäre Erschliessung: Begegnungen werden gefördert, aber nicht erzwungen. Hinzu kommt, dass jeweils die Eingangsbereiche oder die Küchen auf den Laubengang orientiert sind, nicht die Schlafzimmer. Im Vortex dagegen ist der einzige private Raum, über den die Bewohnerinnen und Bewohner verfügen, ein Schlafzimmer von 12.4 m² – und dieses mündet direkt in den Laubengang, den alle Nachbarn täglich nutzen. Das schränkt die Privatsphäre ein; im Alltag könnte es damit enden, dass die Menschen ihre Fenster verbarrikadieren. Um in die Gemeinschaftsküche zu gelangen, muss man ins Freie, auch im Winter. Ob sich das ­bewähren wird?

Der Artikel «L’expérience Vortex» ist in der Originalfassung in TRACÉS 23–24/2019 erschienen. Übersetzung Französisch – Deutsch: Zieltext, Zollikon.

 

Geplante und ungeplante Nutzungen – was bisher geschah


«C’est un succès incroyable, ein unglaublicher Erfolg», berichtet Alexandre Dayer, Co-Direktor der Fondation Maisons pour Etudiants Lausanne (FMEL). Die Stiftung, die ihren Sitz im Juni 2020 in den Vortex-Neubau verlegt hat, ist für die Vermietung der darin befindlichen Wohneinheiten zuständig. Der Bau liegt auf dem Campus der Universität Lau­sanne, direkt neben dem EPFL-Campus, und die Nachfrage war riesig: Alle Zimmer und Studios sind vermietet. Für die Verpachtung der anderen Einheiten – darunter die Wohnungen für die akademischen Gäste, ein Restaurant, eine Rooftop-Bar mit Sicht auf den Lac Léman und die französischen Alpen, eine Kindertagesstätte, ein Mehrzweckraum und verschiedene Läden – ist die Universität Lausanne selbst zuständig. Anfang August begannen die Einwohnerinnen und Einwohner einzuziehen, am 15. September beginnt das Semester.

«So war es vorgesehen», erläutert Dayer. «Das Haus wurde zur Winterjugendolympiade 2020 Lausanne erbaut, und zuerst wohnten die rund 1700 Teilnehmenden darin. Stellen Sie sich vor: 1700! Es war das erste Mal in der ganzen Geschichte der Olympischen Spiele, nicht nur der Jugendspiele, sondern aller Olympiaden, dass sämtliche Athletinnen und Athleten unter einem Dach wohnten.» Anschliessend sollten die Wohneinheiten für die Nutzung durch die Angehörigen der Universität und der EPF Lausanne angepasst werden. «Die Schlüsselübergabe war für Mai 2020 geplant.»

Doch dann kam Covid-19 dazwischen und mit dem Virus auch eine ­improvisierte Zwischennutzung: «Die Mitarbeitenden des Centre hospitalier uni­versitaire vaudois (CHUV), des Unispitals, standen unter einem enormen Druck. Deshalb bewirkte der Bevölkerungsschutz des Kantons Waadt die provisorische Nutzung des Gebäudes als Unterkunft für das dortige Pflege- und Reinigungspersonal», so Dayer. «Später kamen auch Opfer häuslicher Gewalt hinzu, deren Anzahl während des Shutdowns leider gestiegen ist.»

So blieb im Sommer nur noch wenig Zeit, um die Umnutzung für die Studierenden und akademischen Gäste vorzunehmen. Da deren Bedürfnisse nicht in allen Punkten gleich sind wie jene der Sportlerinnen und Sportler, wurde das Mobiliar der Olympia-Unterkünfte nur partiell übernommen, der Rest wurde verkauft und – nach einer öffentlichen Ausschreibung – durch Neues ersetzt.

«Auch die Signaletik ist neu: Wir haben die Kennzeichnung der Einheiten mit Graden übernommen, wie sie auf den Werkplänen bestand, und mit Farben.» Unter dem Strich ist Alexandre Dayer sehr zufrieden: «Es ist die dritte Nutzung des Gebäudes innert neun Monaten, und alles klappt: Das ist doch fantastisch!»
(Judit Solt, Chefredaktorin TEC21)

Ausblick

Der Vortex lässt sich schlecht im kartesischen Koordinatensystem darstellen: Es gibt keine horizontalen Referenzwerte, und es ist schwer, Schnittpunkte zwischen den Bauteilen mittels orthogonalen Schnitten darzustellen. Deshalb wurde der Bau mit der Open-BIM-Methode geplant. Ein Bericht zu dieser digitalen Planung erscheint Ende Oktober 2020 in unserem dreisprachigen Sonderheft BIM – reality check II.

Hinweis

Vor zehn Jahren wurde auf dem Campus der EPFl ein weiterer wichtiger Bau eröffnet, das Learning Center von SANAA. Aus aktuellem Anlass haben wir die Artikel unserer damaligen Ausgabe (TEC21 26/2010) zu Architektur und Tragwerk sowie das Editorial für Sie aus dem Archiv geholt.

Articoli correlati