«Es war der Be­ginn ei­ner wun­der­ba­ren Zu­sam­me­nar­beit»

Gespräch mit den Architekten Madir Shah und Stefan Graf über den Europaplatz in Bern

Der Europaplatz verbindet Strassen, Bahnhöfe und Häuser im ehemaligen Gangloff-Areal. Und das Zentrum steht selbstbewusst neben der dominanten Autobahn. Das Siegerprojekt eines Europan-Wettbewerbs musste zuerst in einer Schublade verschwinden, damit ihn dort eine Gruppe wiederentdecken konnte.

Data di pubblicazione
17-04-2018
Revision
17-04-2018

TEC21: Herr Shah, Sie haben 1998 den Europan am Europaplatz gewonnen. Wie kam es dazu?

Madir Shah: Ich hatte einige Jahre in Bern gearbeitet, und als ich nach Amsterdam zurückging, habe ich einen Wettbewerb gesucht, der komplex war und an dem ich mitmachen konnte. Da bin ich auf den Europan gestossen, und die Situation hat mich fasziniert.

TEC21: Was war denn so komplex an diesem Ort?

Shah: Einerseits sind es die Infrastrukturbauten auf mehreren Ebenen. Andererseits musste das
Projekt die Aufwertung von Ausserholligen einleiten. Der Europaplatz sollte zu einem Ort werden, an dem sich die Leute gern aufhalten, und nicht nur ein Umsteigeplatz für die Pendler in Berns Westen.

TEC21: Wie wollten Sie diese Qualität erreichen?

Shah: Unsere Idee war eng an den Platz gebunden, der sich gegen Bümpliz öffnet. Wir waren die Einzigen, die ein langes Gebäude mit einem grossen Platz davor entworfen haben. Wir haben das Gebäude so nah wie möglich an die Bahngleise gerückt.

TEC21: Was hat dessen Entwurf bestimmt?

Shah: Das Gebäude war sehr «generic», um den Jargon der damaligen Zeit zu gebrauchen: Es war enorm wichtig, dass das Haus weitgehend unspezifisch bleibt. Nur so konnte es die Bedürfnisse des Markts aufnehmen und umsetzen. Zudem mussten wir einen Mehrwert erzeugen, um Investoren anzulocken, denn die Gegend war nicht sehr attraktiv.

TEC21: Und worin lag dieser Mehrwert?

Shah: Basis war die hybride Nutzung: Einkaufszentrum, Alterswohnungen und ein Hotel. Zudem haben wir auf dem Dach einen 180 m langen Gemeinschaftsraum mit hochwertigen Nutzungen vorgesehen wie Sauna, Fitnessraum, Bibliothek und Gärten – und das Ganze in einem Glasbau mit Blick auf die Alpen und die Berner Altstadt.

TEC21: Ein sehr niederländisches Konzept …

Shah: Der Titel des Projekts lautete «inflated urbanism». An diesem schwierigen Ort musste das Projekt Qualitäten aufweisen, die über das Übliche hinausgehen, um erfolgreich zu sein.

Stefan Graf: Dieses «Mehr» bezog sich aber nicht auf die Fläche, denn der Gestaltungsplan legte die Nutzfläche auf 35 000 m2 fest.

Shah: Daran mussten wir uns halten. Das Extra waren zusätzliche 5 m Gebäudetiefe. Das Gebäude wurde dadurch 20 m tief, was natürlich spezifische Reaktionen auf das unspezifische Volumen nach sich zieht. Das war die Ausgangslage.

TEC21: Also, der Städtebau war «Urbanismus plus», und das Volumen war «Nutzung plus»?

Shah: Genau. Das war der Deal: Wir haben alles maximiert. Wir wollten einen Platz, der gross genug ist, um einen attraktiven Ort zu schaffen, und eine vielversprechende Ausgangslage für die Investoren.

TEC21: Wie ging es weiter nach dem Europan?

Shah: Wir haben eine Studie für die Stadt erstellt, in der wir den Entwurf an die Bauvorschriften angepasst und drei Etappen ausgewiesen haben, von denen das Zentrum Europaplatz die erste darstellt.

Graf: Danach stand die Entwicklung still. Und an diesem Punkt begann unsere Geschichte mit dem Europaplatz. Am Anfang war die Studie «Ohne Grund geht niemand nach Bümpliz» aus dem Jahr 1998. Das Stadtplanungsamt wollte von Christian Jaquet, damals an der Hochschule der Künste in Bern tätig, erfahren, wie das Leben in Bern West verbessert werden könnte – ein Problem war der hohe Anteil an Migranten. Jaquet hat einen Sieben-Punkte-Plan erstellt; einer dieser sieben Punkte war die Forderung, würdige Gebetsräume für die verschiedenen Religionsgemeinschaften zu erstellen.

TEC21: Daraus wurde das Haus der Religionen?

Graf: Jaquet hat lediglich festgestellt, dass es einen Ort braucht, an dem Kultur und Religion zusammenkommen. Zur gleichen Zeit haben wir für die Gruppe «Runder Tisch der Religionen», in der seit mehr als 20 Jahren die Vertreter der Weltreligionen zusammensitzen und über alltägliche Probleme diskutieren, ein kleines Projekt in der Heiliggeistkirche in Bern umgesetzt. Diese Gruppe hat die Idee von Jaquet aufgenommen und diskutiert. So sind wir Teil dieses Projekts geworden, das wir über zehn Jahre lang begleiten durften.

TEC21: Was waren die ersten Schritte?

Graf: Zunächst mussten wir verstehen, welche Bedürfnisse die einzelnen Religionsgruppen haben. Wir sind in deren Welt eingetaucht und haben Informationen gesammelt. Aus der Kerngruppe ist dann ein Verein entstanden. In einer ersten Studie haben wir die Optionen Neubau und Umbau untersucht, danach haben wir 2003 bei der Stadt nach einem geeigneten Gelände gefragt. 2004 haben wir eine zweite Studie an konkreten Standorten gemacht, und davon schien uns der Europaplatz der geeignetste.

TEC21: Welche Qualitäten gaben den Ausschlag?

Graf: Wie Madir schon gesagt hat: Es war der komplexeste Ort, aber auch der mit den grössten Chancen. Er liegt an der Schnittstelle zwischen der Kernstadt und dem Westen und ist verkehrstechnisch gut erschlossen. Zudem handelt es sich um eine Zone mit Planungspflicht (ZPP), für die es aber schon einen Wettbewerb gegeben hatte, den Europan von 1998. Die Stadt akzeptierte diesen als Grundlage; damit war die Hürde der Planung genommen, und die Bewilligungsphase konnte beginnen. Damals dachten wir noch, dass wir uns beeilen müssen … Auf dieser Basis haben wir 2004 Urbanoffice und Madir Shah kontaktiert.

TEC21: Und dann hat es doch zehn Jahre gedauert?

Shah: Ja, das war erst der Beginn einer wunderbaren Zusammenarbeit.

TEC21: Wie war der erste Kontakt?

Shah: Da ich Bern von früher her kannte, habe ich nach dem Europan die Fühler ausgestreckt für eine Zusammenarbeit. Ich kannte Projekte von Bauart, die mir sehr gefallen haben. Trotzdem war ich skeptisch, als sie mich anriefen. Ich wusste ja nicht, ob sie nicht einfach das Projekt übernehmen wollten.

Graf: Für uns war absolut klar, dass wir mit Urbanoffice kooperieren, wenn wir auf dem Europan aufbauen. Einerseits ist das Ehrensache, andererseits eine Blutauffrischung für unser Büro. Die Zusammenarbeit und das Vertrauen mussten aber erst wachsen. Vor allem, da es ein Missverhältnis in der Grösse gab: Urbanoffice als junges Büro und Bauart als gestandenes Büro mit 50 Mitarbeitern.

Shah: Wir haben von Anfang an das klassische Rollenmodell verworfen, das zwischen entwerfendem und ausführendem Büro unterscheidet. Es gab eine ganz einfache Regel: Ihr macht alles, wir machen alles. So sind wir den ganzen Weg zusammen gegangen und haben uns gegenseitig befruchtet.

TEC21: Dann war alles für das Projekt aufgegleist?

Graf: Die Ausgangslage war: Wir hatten den Europan und unsere Studie, wir hatten die Stadt hinter uns und mit dem Verein einen ersten Mieter – aber keinen Investor. 2005 bis 2007 versuchten wir erfolglos, einen zu finden. Da mussten wir entscheiden: Entweder landet das Projekt in der Schublade, oder wir suchen einen Partner, der uns weiterhilft.

TEC21: Und wie haben Sie ihn schliesslich gefunden?

Graf: Unser letzter Versuch war, einen Wettbewerb für General- respektive Totalunternehmer durchzuführen. Damit haben wir den Spiess umgedreht: Jetzt mussten die Entwickler uns überzeugen. Wenn das nicht geklappt hätte, wäre das Projekt nie zustande gekommen.

Shah: Bis dahin hatten wir den Markt gespielt, aber jetzt kam der echte Markt mit seinen Bedingungen. Der wichtigste Punkt für uns war, einen Entwickler zu finden, der das Haus der Religionen nicht aus dem Projekt kippt. Mit Halter ist das gelungen.

TEC21: Was hat sich danach geändert?

Graf: Wir mussten die Ausführungsplanung an ein anderes Büro abgeben. Nach so langer Zeit fiel uns das schwer – aber es war eine Bedingung von TU Halter, die wir akzeptiert haben.

Shah: Die Berner Architekten Schwaar & Partner haben Mitte 2012 den Stab von uns übernommen und das Projekt sauber über die Ziellinie gebracht. Der Entwickler hat wichtige Korrekturen eingebracht: Er hat uns gesagt, welche Funktionen wo am besten funktionieren, und er hat vorgeschlagen, das Haus der Religionen, das für uns lang unter dem Platz liegen sollte, an den heutigen Ort zu verlegen.

TEC21: Eine gute Entscheidung?

Shah: Ja. Und eine sehr wichtige. Ich finde es richtig, dass die Migrantinnen und Migranten einen Schritt in die Gesellschaft hinein wagen – und trotzdem geschützt bleiben. Die Architektur drückt dies mit Transparenz und Spiegelungen aus. Dafür ist der Ort mit den bedruckten Glasfassaden prädestiniert.

Graf: Auch die restlichen Fassaden haben sich im Dialog mit Halter verändert. Sie wurden für die jeweilige Nutzung optimiert. Uns war es ein Anliegen, dass die Funktionen gegen aussen sichtbar sind.

Shah: Da das Haus der Religionen für einen
Investor ein riskanter Mix ist, mussten die anderen Gebäudeteile konventioneller ausfallen. Das heisst: Bandfenster für die Büros und Lochfenster für die Wohnungen.

TEC21: Das Haus der Religionen ist das Herzstück des Gebäudes. Wie ist es umgesetzt?

Graf: Es gibt ein Schema aus dem Jahr 2002, das die räumliche Aufteilung zeigt: Je nach Grösse der Religion die Gebetsräume, dazu eine Verwaltung, kommerzielle Flächen und in der Mitte ein Gemeinschaftsbereich.

Shah: Dieser Raum in der Mitte, der Dialogbereich, ist essenziell. Er gehört allen. Es ist ein offener und weitgehend auch öffentlicher Raum, der nicht nur durch die Religion besetzt ist. Hier entfaltet das Haus seine gesellschaftliche Wirkung.

TEC21: Wie war die Zusammenarbeit mit den Religionsgemeinschaften?

Graf: Es war eine sehr prozessorientierte Arbeit und eine harte noch dazu! Wir wollten mit Migranten, die kaum Deutsch sprechen, eine Typologie entwickeln, die es noch nicht gibt. Die Sitzungen waren sehr lebhaft und die Wünsche oft widersprüchlich: Die einen wollten in ihrem Gebetsraum Tote aufbahren, andere empfanden das als Verunreinigung des Gebäudes; die einen wollten Prozessionen um ihren Tempel machen, andere akzeptierten nicht, dass der Weg auch um ihren Gebetsraum herum führte; manche wollten kein gemeinsames Dach, andere keine gemeinsame Wand … und das nach so vielen Jahren Projektarbeit in ständigem Dialog!

Shah: Wir mussten immer wieder darauf pochen, dass sie ihre Vorstellungen hinterfragen und Kompromisse eingehen. Wir brauchten einen sehr langen Atem, um diesen Prozess zu einem Ende zu bringen.

TEC21: Und die weitere Entwicklung am Europaplatz?

Graf: Von uns aus ist der Tisch gedeckt für die nächsten Etappen. Die städtebauliche Vision hat sich bewährt, und sie könnte fertiggestellt werden.

Shah: Für mich war das Wichtigste, dass das «Plus» im Gebäude eine gemischte Nutzung ermöglicht. Das war immer die Absicht. Ich hoffe, dass sie auch in den nächsten Etappen Wirklichkeit wird.

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