Die Ge­schi­ch­te mit der Tra­di­tion

Wiederaufgebaut

Der Wiederaufbau von 13 abgebrannten Walserhäusern in der Nähe von Davos war Anlass, über Tradition im Holzbau, einen einfachen Baustandard und massvoll integrierte Entwicklungen nachzudenken.

Data di pubblicazione
16-06-2016
Revision
16-06-2016

Auf den ersten Blick ist Wiesen ein Berg­dorf wie viele andere. Gut 350 Einwohner leben an dem Ort, etwa 18 km von Davos entfernt am Südhang des Landwassertals. Das ehemalige Kurhotel Bellevue, die Schule und die Kirche mit ihrer gut erhaltenen Rokokoorgel im alten Dorfteil bilden neben der Strasse, die Davos mit Thusis verbindet, die wesentliche Infrastruktur.

Eine Besonderheit des Orts befindet sich jedoch auf der rund 1900 m ü. M. gelegenen, gleichnamigen Alp: Eine Stunde Aufstieg durch den moosigen Kiefernwald führt zu einer der ältesten und grössten Walsersiedlungen Graubündens. Es handelte sich um eine homogene Gruppierung von jahr­hundertealten Sennhütten mit Stall- und Heuteil, die nach einem einheitlichen Muster aufgebaut waren. Auf ­der Terrasse umgeben die 40 Häuser in lockerem Verbund eine Gemeinschaftswiese. Auf dieser sogenannten ­Sopa spriessen im Mai tausende von Bergkrokussen. Dahinter erhebt sich die über 3000 m hohe Bergkette mit Piz Michel, Ela, Kesch und dem Tinzenhorn.

Die idyllisch gelegene Alp hat über die Jahrhunderte schon viele Gemüter bewegt. Emotionsbeladen war wohl bereits die Einwanderung der Walser, die im 13./14 Jahrhundert infolge des Bevölkerungswachstums im Wallis auf der Suche nach Acker- und Weideland nach Graubünden kamen. Im Landwassertal fanden sie eine neue Heimat. Die lokale Bevölkerung tolerierte sie allerdings nur dort, wo sie ihre Weidegründe nicht konkurrenzierten – also an der Baumgrenze, wo der Schnee länger liegen bleibt und der Zugang mühsamer ist.

Eine kalte Nacht mit Folgen

Weitaus dramatischer als die Gründung der Siedlung war wohl die Novembernacht im Jahr 2007, als zwei Jäger, die eines der Häuser aufheizen wollten, einen Brand entfachten. Bis auf dem Weg zur Alp der Schnee geräumt war und die Feuerwehr Albula sowie eine ­Einsatzgruppe aus Davos den Löschhelikopter unterstützen konnte, waren 13 Häuser abgebrannt und neun teilweise zerstört. 

Der Bündner Heimatschutz, die kantonale Denkmalpflege und das Amt für Raumentwicklung beauftragten die Architekten Valentin Bearth, Andrea Deplazes und Daniel Ladner mit einer Studie für gestalterische Richtlinen für den Wiederaufbau. Diese umfasste sowohl die Positionierung der Bauten als auch deren Architektur. Der naheliegende Vorschlag, sie am gleichen Ort wieder zu errichten, wurde jedoch aus feuerpolizeilichen Gründen abgelehnt. In den folgenden ausführlichen Studien diente die Position dreier Häuser, die bereits in der alten Siedlung etwas abseits standen, als Vorlage.

In Anlehnung daran schlugen die Architekten vor, die 13 Bauten in grösserer Distanz zueinander und zum Siedlungskern anzuordnen. Die bauliche Dichte – Ausdruck des ursprünglichen Gemeinschaftsgefühls der Walser, das sich hier speziell artikulierte – trat so hinter feuerpolizei­lichen Vorschriften zurück. Der Heimatschutz stellte zudem die Bedingung, dass die Grundfläche der neuen Bauten mit derjenigen der alten identisch sein musste. Die Architekten arbeiteten deshalb drei Typen nach denselben räumlichen Kriterien aus: ein Doppelhaus, ein Einzelhaus sowie ein kleines Einzelhaus von 5 × 5 m Grundfläche.

Faszinierend einfach

Anders als die lokalen Steinbauten im Tal konstruier­-ten die Walser ihre Häuser aus Holz. Oft standen sie mit der Rückseite gegen den Hang. In einem talseitigen­ zweistöckigen Raum, der Sennerei, gab es eine Feuerstelle, daneben lag der eingeschossige Stall und darüber ein Wohn- und Heuteil. Da das Haus kaminlos war, zog der Rauch durch die offenen Ritzen des Rundholzes im Obergeschoss ab. Das Untergeschosses war aus Strickholz gebaut. Auf der Bergseite führte ein Weg zu einem Tor, um das Heu direkt in den oberen Stock anzuliefern.

Der variantenreich umgesetzte Bautyp auf der Wiesner Alp spricht für den kulturellen Reichtum und den Sachverstand der damaligen Erbauer. Ausgehend von den traditionellen Bauten entwarf Daniel Ladner ein modern adaptiertes Gebäude: Der Wohnteil ist durch eine raumhohe Glasfront von einem eingezogenen, wettergeschützten Eingangs­bereich abgetrennt. Statisch trägt ein mächtiges dreidimensionales Kreuz auch im Winter die beachtlichen Schneelasten ab.

Das Fundament ist nach dem Vorbild der alten Stelzenspeicher leicht vom Boden abgehoben, und das Dach, an dessen Vorsprung die Schindeln durch die Unterkonstruktion erkennbar sind, wirkt überraschend leicht. Bei Minustemperaturen wärmt der Specksteinofen das Haus innert vier Stunden wohnlich auf. Da das neue Gebäude nicht den energetischen Anforderungen eines konventionellen Wohnhauses entsprechen muss, verzichtete man auf die Isolation der 12 cm dicken, massiven Strickholzwände, und auch Durchlüftungsschichten oder Dampfsperren waren nicht notwendig.

Weil wegen des relativ trockenen ­Klimas moderne bauphysikalische Massnahmen fast überflüssig sind, eignet sich Holz in diesen Höhenlagen ausgezeichnet zum Bauen. Die damit verbundenen baulichen Qualitäten sind offensichtlich: Das neue Walserhaus ist genauso wie das alte vollkommen aus Holz. In einer Zeit, in der komplexe mehrschichtige Wandaufbauten und aus verschiedenen Komponenten zusammengesetzte Materialien die Regel sind, fasziniert diese Einfachheit. 

Bearth & Deplazes setzten einen zeitgemässen Wiederaufbau um, basierend auf den traditionellen Typen und ihrer Bauweise, und nicht eine Kopie der alten Gebäude. Sie distanzierten sich durch diese Entwurfshaltung von einer ausschliesslich nostalgischen Annäherung an die Aufgabe. Ihr gestalterischer Ansatz reflektiert die Tradition über das Bestehende hinaus und integriert massvoll neue Entwicklungen. Zentral war dabei die Frage, was funktional notwendig, was entbehrlich und was gestalterisch angebracht ist.

So erzeugt ein Solarpaneel neben dem Eingang die Elek­trizität fürs Licht, aber auf Warmwasser wird verzichtet. Der Rundholzteil des Obergeschosses wurde zugunsten einer Konstruktion aus Strickholz weggelassen, denn die rechteckigen Querschnitte der Balken sind in modernen Schreinereien einfach und effizient herzustellen. Beim verglasten Eingangsbereich zeigt sich aber, dass die Gestaltung über den Ansatz des Notwendigen hinausgeht: Die geschützte, von aussen nicht sichtbare Vorzone lädt zum Sitzen ein und lässt Licht ins Innere des sonst dunklen Hauses. Es erstaunt nicht, dass der Bau den 1. Rang Region Ost des Prix Lignum 2015 erhalten hat.

Individuell statt einheitlich 

Doch das Einzelhaus am Rand zur Sopa blieb das einzige, das nach den Plänen der Architekten umgesetzt wurde. Denn der räumlich und materiell überschaulichen Architekturaufgabe standen die unterschiedlichen Auffassungen der Hausbesitzer, wie Tradition zu interpretieren sei, gegenüber.

Die Gemeindeversammlung im Jahr 2008 lehnte den Gestaltungsvorschlag der ­Architekten ab, und in der Folge wurde jedes Haus individuell wieder aufgebaut. Durch dieses Vorgehen ging weit mehr der gestalterischen Einheitlichkeit der Siedlung verloren, als dies bereits vor dem Brand geschehen war, als die Nutzungsänderung von den Sennereien zu Wochenend- und Jagdhäusern ihre Spuren an der ­Architektur hinterlassen hatte. Beim Wiederaufbau wünschen einige Eigentümer beispielsweise die traditionelle Zweiteilung mit Strick- und Rundholzbau im Obergeschoss beizubehalten.

Die heute unterschiedlichen Wandkonstruktionen – sie reichen von dickem Rundholz über Massivholzbalken bis hin zu Brettsperrholz – haben verschiedene Durchmesser und Stirnseiten. Einige der neuen Häuser erinnern mit ihren überdimensionalen Dachbalken eher an konventionelle Block­hütten denn an Walserhäuser. Ein Wiederaufbau nach einem Gesamtplan wäre eine Chance gewesen, die charakteristische Handschrift der Siedlung teilweise wiederherzustellen.

Am Bau Beteiligte


Bauherr
Reto Bernhard

Architektur
Bearth & Deplazes Architekten AG, Zürich, Daniel Ladner

Holzbau
ARGE Ruwa Holzbau, Küblis, mit Holzbau Christian Kasper, Buchen

Bauleitung
Hans Palmy, Wiesen

Weitere Informationen
 

Bauzeit
2010 bis 2011
 

Gebäudevolumen
78 m3 (SIA 416)
 

Gebäudegrundfläche
25 m2
 

Geschosse
2

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