17 glo­bale Ziele, die auch das Bauen be­tref­fen

Die globale Agenda 2030, die den Planeten und die Erdbevölkerung umfassend schützen will, ist wenig bekannt. Aber leistet die Architektur – in der Schweiz oder anderswo – nicht schon genug für eine lebenswerte und gerechte Welt?

Date de publication
06-01-2023

«Was muss Architektur heute leisten?» fragte ein Sanitärbedarf-Hersteller Prominenz aus der deutschen und österreichischen Architekturszene vor zehn Jahren. Die Antworten fielen schon damals bemerkenswert selbstkritisch und dialektisch aus. Was nicht geht, sagt man zuerst. Der Stuttgarter Architekt Stefan ­Behnisch distanziert sich von «beliebigen Investitions­objekten». Und für die in Wien tätige Gerda Maria ­Gerner sind «seelenlose Schuhschachteln» nichts ­Erstrebenswertes.

Zum positiven Arbeitsverständnis der befragten Fachpersonen gehört dagegen: Ästhetik und Nachhaltigkeit. «Architektur muss dauerhaft und schön sein – wie zu allen Zeiten», sagt der Frankfurter Professor Michael Schumacher. «Ressourcen einsparen und obendrein dem Menschen dienen», ergänzen Rüdiger Ebel, Volker Halbach und Carsten Venus, die zusammen das Hamburger Büro Blauraum Architekten sind.

Bedenken, Sorgen und Proteste

Seit 2013 ist viel (oder wenig?) passiert. Der CO2-Ausstoss steigt fast ungebremst, obwohl die internationale Staatengemeinschaft das Netto-Null-Ziel anstrebt. Und auch die Armut blieb, obwohl dieselben Regierungen vor acht Jahren die Agenda 2030 vereinbarten. Anstatt dass Politik und Wirtschaft alles Mögliche unternahmen, ­geschah, gemessen an den eigenen Zielen, zu wenig: Inzwischen protestiert die Jugend laut dagegen, die Umwelt weiteren Katastrophen und Krisen tatenlos auszuliefern. Und andere Teile der Gesellschaft sind ebenfalls besorgt über den bedenklichen Zustand des Planeten.

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Von der Sinnfrage bleibt die Welt des Bauens ebensowenig verschont: Braucht es ein nachhaltigeres Design für die wachsenden Städte? Wie kann sich die bauliche Umwelt weiterentwickeln, ohne noch mehr Ressourcen zu verschleissen? Und müsste die Architektur dazu nicht etwas anderes leisten als bisher? Stellvertretend ergreifen nun Architekturschaffende und -theoretiker aus dem hohen Norden das Wort. «Architektur muss langfristige Werte schaffen und die Umwelt so wenig wie möglich belasten», bestätigt Anna Graaf, Nachhaltigkeitsdirektorin beim Stockholmer Büro White Arkitekter. Und Natalie Mossin von der Königlich-Dänischen Akademie für Architektur, Design und Baukultur erwartet von ihresgleichen nichts weniger als ein «aktives Engagement für den Schutz des Planeten und die nachhaltige Entwicklung auf globaler Ebene».

Unmittelbaren Anlass zu diesen Statements gibt der Weltkongress der Architekten, der im kommenden Juli in Kopenhagen stattfindet und das grosse Ganze zum Tagungsprogramm erklärt: Die eingeladenen Spea­ker aus Asien, Afrika, Europa und auch aus der Schweiz sprechen über die Agenda 2030 und über die 17 globalen Nachhaltigkeitsziele. Die Organisatorin, die «Union Internationale des Architectes UIA», die 1948 in Lausanne gegründet wurde, greift den UN-Claim auf: «Leave no one behind» und regt zum direkten Austausch zwischen Architektinnen und Städteplanern sowie Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten aus allen Kontinenten an.

Der Veranstaltungsort passt irgendwie gut zum Findungsprozess in der Bauszene: Das Bella Congress Center liegt etwas ausserhalb von Kopenhagen-City und inszeniert sich selbst als eher beliebiges Investitionsobjekt. Doch ansonsten eignet sich die dänische Hauptstadt bestens für eine Architekturdebatte über das Nachhaltigkeitsthema: Dänemark belegt Platz zwei im internatio­nalen SDG-Ranking. Und nur einen kurzen Spaziergang vom Kongresszentrum entfernt wird das «UN17-Village» fertiggestellt. Es soll das erste Bauvorhaben weltweit sein, das alle 17 Nachhaltigkeitsziele berücksich­tigt und «zu allen Aspekten ­einen Lösungsansatz entwirft», bestätigt der dänische Architekt Anders Lendager.

Reichhaltige, kreative Entwurfspalette

Das urbane UN17-Dorf ist ein privat finanziertes Immobilienprojekt, das Teil einer Stadterweiterung im Süden Kopenhagens ist. Bis 2024 entsteht daraus ein kleines Wohnquartier für etwa 800 Personen. Noch ist das Gelände eine konventionelle Grossbaustelle mit Bagger, Kran und viel Materialumschlag. Was die virtuellen ­Präsentationen des Investors und die visualisierten Entwürfe der Architekten jedoch zeigen, erzeugt einen gewissen Wow-Effekt: An diesem Standort wird zirkulär und klimagerecht und nachhaltig und sozial und integrativ gebaut. Und offensichtlich ist, wie problemlos sich selbst 17 Nachhaltigkeitsziele in Architektur verpacken lassen. «Wir hatten viel mehr Ideen; bereits im Entwurf mussten wir uns aber auf die Nachhaltigkeitsinputs konzentrieren», so Lendager.

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Einen Vorbehalt gibt es: Das Architekturstudio Lendager Group, das den gedanklichen Input und das nordische Design für das besondere Projektsetting lieferte, ist mit der Ausführung nicht mehr betraut. Zur Trennung kam es, weil der Investor «aus Wirtschaftlichkeitsüberlegungen» auf gewisse Vorschläge verzichten will. Dennoch zeigt die Entwurfspalette, wie reichhaltig und kreativ der Beitrag der Architektur an eine nachhaltige Entwicklung sein könnte. Er beginnt beim Wohnungsbau: Um Personen verschiedener Altersgruppen und sozialer Milieus anzusprechen, braucht es ein breites und differenziertes Angebot an Grundrissen. Und dazu gehört der Anspruch, hochwertige Komfortparameter mit preiswerten Standards zu verbinden. So beinhaltet der UN17-Originalentwurf ausgesprochen kompakte Grundrisse, die möglichst natürlich belichtet sind. Bei den fünf Wohnblocks sollen weitere umwelt- und kreislaufgerechte Bauprinzipien zur Anwendung kommen und den Ressourcenbedarf deutlich minimieren, darunter Recyclingbeton und Re-use-Bauteile für tragende Strukturen und die Innenausstattung.

Auch bei der Energie- und Wasserversorgung sollen lokale, emissionsarme Kreisläufe bevorzugt ­werden, mithilfe von Erdwärme und Solarenergie ­respektive der Regen- und Grauwassernutzung. Rein architektonische und gebäudetechnische Massnahmen decken erst einen Drittel der vielfarbigen SDG-Skala ab – die Nummern 3, 6, 7, 11, 12 und 13. Aber gelingt dies auch bei Zielen, auf die die Architektur jeweils nur indirekt Einfluss nimmt – wie SDG 1: Armutsbekämpfung, SDG 8: faire Arbeitsbedingungen oder SDG 10: Chancengleichheit?

Architekt, Kurator oder Gärtner?

Nimmt man das UN17-Village von Kopenhagen als Referenz, muss die Architektur weit über den bisherigen Nachhaltigkeitsrahmen hinausdenken und «sich mit globalen Fragen und der eigenen Verantwortung für soziale Strukturen und faire Arbeitsprozesse befassen», bestätigt Anders Lendager. Die Rolle des Architekturschaffenden ändert, will er sich aktiv an der Umsetzung der Agenda 2030 beteiligen. Nachhaltiges Bauen be­nötigt neben Designern und Konstrukteuren auch Kuratoren oder Gärtner für das gute Leben.

Im SDG-Wohnprojekt von Kopenhagen ist das wortwörtlich gemeint: Dächer und Umgebung sind für den Eigenanbau von Gemüse und Getreide reserviert. Von der Ernte sollen noch anzusiedelnde Gastrobetriebe profitieren, die sich zudem verpflichten müssen, arbeitsintegrativ zu wirken. Die Architekten haben sogar ein eigenes Eingliederungsprogramm verfasst. Für die Aufbereitung und Montage von Re-use-Bauteilen seien ungelernte ­Arbeitskräfte zu fairen Bedingungen anzustellen. Das Nachhaltigkeitsziel Nummer 8 gibt hierzu Nachhilfeunterricht.

Es sind hehre Absichten und gute Pläne. Doch wie viel nach dem Rückzug der Architekten davon überlebt, bleibt offen. Allerdings ist dieses Dilemma durchaus typisch für die Umsetzung der Agenda 2030: Die eigene Verantwortung geht bisweilen weit, ist aber oft beschränkt, weil die Nachhaltigkeit auf Zusammen­arbeit beruht. Allerdings haben Architekten dranzubleiben und «weiterhin Entwürfe und Geschäftsmo­delle für die nachhaltige Gestaltung der Umwelt zu ent­wickeln», so Lendager.

Und auch die Union Internationale des Architectes ist überzeugt, dass die 17 Nachhaltigkeitsziele eine wichtige Inspirationsquelle für architektonische Entwürfe sind. Die Organisation will selbst darüber aufklären und publiziert bereits in zweiter Auflage einen anschaulichen «Architecture Guide to the UN 17 Sustainable Development Goals». Diese Dokumentation sammelt gute Beispiele aus aller Welt und sogar meh­rere Vorzeigeprojekte aus der Schweiz. Das «Geschäftshaus ohne Heizung» Emmenweid in der Agglomeration Luzern vertritt zum Beispiel SDG 7 – bezahlbare und saubere Energie; die Flussrevitalisierung Aire in Genf steht für SDG 6 – sauberes Wasser und SDG 15 – Leben an Land.

Doch damit nicht genug: Die Architektur-Internatio­nale wählte letzten Sommer die besten Nachhaltigkeitsprojekte aus, wovon einige Bilder in diesem Thementeil stammen. Unter den Finalisten des UIA-Awards Agenda 2030 befanden sich abermals Bauwerke aus einheimischer Provenienz: das Landwirtschaftszentrum Salez – SDG 4: Zugang zu Bildung, SDG 11: Nachhaltige Städte und Gemeinden, SDG 13: Klimaschutz – sowie der Stampflehmturm im Ziegeleimuseum Cham – SDG 11: Nachhaltige Städte und Gemeinden: lokale Baustoffe.

Aber wie repräsentativ sind diese Einzelwerke für die Nachhaltigkeit der Schweizer Architektur? ­Tatsächlich ergibt die Recherche zum Beispiel im «Länderbericht der Schweiz 2022» (vgl. «Reich und glücklich – aber wie nachhaltig?») keine weiteren Treffer: Obwohl die SDG 7, 11 oder 13 Kernaufgaben der Architektur sind, fehlen in den betreffenden Kapiteln konkrete Umsetzungsbeiträge. Und wer im Bausektor auf die Suche nach dem bunten Nachhaltigkeitsrad geht, wird ebenso wenig finden: Die Nomenklatur der 17 Ziele ist unter Bauherrschaften und Planern spärlich bekannt. Und erste Versuche, darüber branchenintern aufzuklären, scheinen noch zu verpuffen.

Ein für Nachhaltigkeitsinteressierte relevantes Dokument, das sich mit den farbigen SDG-Kacheln ziert, ist das Merkblatt «SNBS 2.1 Hochbau und die Agenda 2030». Das Netzwerk Nachhaltiges Bauen Schweiz verdeutlicht darin das enge Verhältnis zwischen dem nationalen Gebäudestandard SNBS und der Nachhaltigkeitsagenda. 10 von 17 Zielen korrespondieren mit den Zertifizierungskriterien unmittelbar. Das bisherige Echo auf diese «alltagstaugliche Übersetzung der Agenda 2030» ist dennoch gering. Mit der Agenda 2030 setzt sich auch der Schweizerische Ingenieur- und Archi­tektenverein SIA auseinander. Auf dem SDG-Portal des Bundes regt der Verein an, die Baukultur als Zusatz­aspekt in die Agenda 2030 zu integrieren.

Aber nochmals die Grundsatzfrage: Was kann die Architektur für die nachhaltige Entwicklung leisten? Eine einzige Antwort darauf gibt es nicht, um jedem SDG gerecht zu werden. Architekturschaffende halten sich dennoch bemerkenswert kurz. Die dänische Architektin Martha Lewis, die am UIA-Kongress sprechen wird: «Unser Ehrgeiz muss sein, die Architektur als Game-Changer zugunsten der Nachhaltigkeit zu be­treiben.» Anders Lendager ergänzt noch bündiger: «We need action: realising sustainablity and creating regenerative architecture!»

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