Land­schaft, wei­ter­ge­dacht

Auszeichnung «Umsicht – Regards – Sguardi»: Revitalisation de l’Aire, Genève

«Dem Projekt ‹Revitalisation de l’Aire› ist es gelungen, ein stimmiges Gleichgewicht zwischen den ländlichen und städtischen Anwenderbedürfnissen herzustellen. Der gewählte Ansatz verleiht der renaturierten Landschaft einen starken architektonischen Charakter und stellt gleichzeitig sicher, dass die essenziellen Funktionen eines künstlich geschaffenen Ökosystems erfüllt bleiben. Ein bis dato auf nationaler und internationaler Ebene einzigartiger Ansatz.» (Aus dem Jurybericht)

Publikationsdatum
06-04-2017
Revision
12-04-2017

Der Kanton im südwestlichsten Zipfel der Schweiz ist ein verkanntes Landkind: Mit dem Hauptort Genf wird er als vollständig urbanisiert wahrgenommen, tatsächlich ist aber nur ein Viertel seiner Fläche überbaut, die Hälfte wird landwirtschaftlich genutzt. In der «campagne genevoise» betreibt man in-tensiven Gemüseanbau, bei den Gewächshäusern steht Genf unter den Schweizer Kantonen an dritter Stelle. Topografisch geprägt wird der Kanton durch den Genfersee und die beiden Flüsse Arve und Rhone, die sich am westlichen Stadtrand vereinen. Aber auch kleinere Gewässer kennzeichnen die Landschaft, darunter die Aire, die am Mont Salève in Frankreich entspringt, dann zunächst nordostwärts durch intensiv genutzte Ackerflächen und später durch die Vororte von Genf verläuft und kurz vor dem Zusammenfluss von Arve und Rhone in die Arve mündet. 

Ab Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1940er-Jahre griff man stark in den Flusslauf ein und kanalisierte ihn weitgehend – zum einen, um das Wasser landwirtschaftlich nutzen zu können, zum anderen, um der wiederkehrenden Überschwemmungen Herr zu werden. Zwischen Certoux und den Gemeinden Confignon und Onex wurde die Aire auf 5 km Länge eingedeicht und kanalisiert. Darunter sowie unter den Einträgen aus (geklärtem) Abwasser und Meteorwasser litt nicht nur die Wasserqualität, sondern auch die Artenvielfalt im und am Fluss. Ab 1982 war das Fischen hier aus gesundheitlichen Gründen verboten. Zu dieser Zeit war die Aire ein nahezu totes Gewässer. 

Ein fliessender Garten 

1998 lancierte der Kanton Genf ein Programm zur -Renaturierung all seiner Flussläufe mit dem Ziel, die Anrainer besser vor Hochwasser zu schützen, aber auch die Flüsse zu revitalisieren und der Bevölkerung den Zugang zu den Gewässern zu ermöglichen. 2000 schrieb der Kanton einen Studienauftrag aus für die Revitalisierung der Aire, teilnehmen konnten nur interdisziplinäre Gruppen. Siegreich aus dem Wettbewerb hervor ging das Team «Groupement Superpositions» aus Architekten, Biologen, Hydrologen sowie Bau- und Umweltingenieuren. Sein Vorschlag beruhte auf einem Mit-, Neben- und Übereinander von kanalartigen und natürlichen Elementen der Aire, eben den «superpositions».

2002 begannen die Arbeiten an der ersten Etappe zwischen den Brücken Pont des Marais und Pont du Centenaire, begleitet von einem intensiven und partizipativen Austausch mit Anwohnern, Landwirten, Umweltorganisationen und Vertretern von Kanton und Gemeinden. In der zweiten Phase lag der Fokus insbesondere auf dem Hochwasserschutz, denn erst 2002 hatten Überschwemmungen das Dorf Lully stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Aire erhielt
hier unter anderem ein breiteres Bett zwischen Perly-Certoux und dem Pont de Lully. Weitere Arbeiten umfassten den Bau von neuen Steinschwellen mit Fischtreppen, inspiriert von solchen bereits existierenden Schwellen; teilweise liess man der Aire einen «Raum der kontrollierten Freiheit»: ein seitlich limitiertes, aber breiteres Bett als anhin. 

Inszenierte Natur

Spezielles Augenmerk lag auf der Etappe des besonders trostlosen eingedeichten und betonierten Kanals östlich von Lully. Die Planer projektierten hier auf ungefähr einem Kilometer die Wiederherstellung des natürlichen Wasserlaufs entlang des rechten Ufers des früheren Kanals. Letzterer wurde ebenfalls erhalten. Teilweise aufgeschüttet, dient er nun als Verbreiterung der Uferpromenade, die anstelle der ehemaligen Deiche abwechselnd an beiden Seiten des Kanals verläuft. Die jeweils gegenüberliegende Seite stellte man unter Naturschutz. An den nicht überdeckten Abschnitten erleichtern Sitzstufen den Zugang zum ehemaligen Kanal, das Gewässer wird zu einem «Wassergarten». Picknickplätze machen den Uferbereich zum Naherholungsgebiet für die Bevölkerung. 

Flussabwärts von Certoux verlässt die Aire den Kanal und darf sich auf einer zwischen 50 und 80 m breiten Fläche ihren eigenen Lauf suchen. Um einen möglichst natürlichen Verlauf zu evozieren, gewährten die Planer dem Gewässer Starthilfe: Das Gelände wurde in Form eines rautenförmigen Gitters ausgehoben, ähnlich einer Buckelpiste im Schnee. So suchte sich das Wasser in natürlichen Mäandern seinen Weg, die Rauten sind heute noch ablesbar. Aus dem Miteinander von Wasserbau, Biologie und Landschaftsgestaltung entstand eine differenzierte Landschaft, ein Hybrid aus Natur und Artifiziellem. Oder ganz einfach «eine Kette unterschiedlicher Gärten», wie Georges Descombes es nennt, der für das Projekt verantwortliche Architekt. 

Im Herbst 2015 konnten die Arbeiten abgeschlossen werden. Entstanden ist eine künstliche Landschaft, der der Spagat zwischen zivilisatorischen und ökologischen Ansprüchen gelingt und die darüber hinaus eine aussergewöhnliche und spürbare Gestaltungsfreude über alle Disziplinen auszeichnet. Das interdisziplinäre und partizipative Vorgehen, der umfassende Ansatz und die sorgfältige Umsetzung sind schweizweit beispielhaft – und der Jury eine Umsicht-Auszeichnung wert. 

 

Verwandte Beiträge