«Kommt run­ter vom El­fen­bein­turm der Bau­kunst»

15. Architekturbiennale in Venedig – «Reporting from the Front»

Mit positiven bis enthusiastischen Eindrücken kehrten einige Mitglieder des SIA-Vorstands von ihrem Ausflug zur Architekturbiennale in Venedig zurück. Stimmen zur Ausstellung und einige persönliche Empfehlungen.

Date de publication
14-07-2016
Revision
14-07-2016

Im Blickfeld der weltweit wichtigsten Architekturschau stehen 2016 humanistische Werte und auf das Gemeinwohl gerichtete Ziele, die im Zusammenhang der grossen Weltprobleme stehen: Verstädterung, Klimawandel, Verknappung natürlicher Ressourcen. Alejandro Aravena, Direktor der 15. Architekturbiennale, wählte mit «Reporting from the Front» bewusst ein Motto, das sprachlich anspielt auf die Berichterstattung von den Schauplätzen kriegerischer Auseinandersetzungen. Der chilenische Architekt und Pritzker-Preisträger konfrontiert Architektur und Architekten mit der Agenda des Lebensnotwendigen: Obdach, Hygiene, Sicherheit, funktionierende Städte. Die 15. Architekturbiennale zeigt viele dieser Orte und unternimmt einen Streifzug entlang «der Front». 

Die Architektur, schreibt Biennale-Präsident Paolo Baratta, soll an dieser Schau wieder wahrnehmbar werden als Instrument sozialer und politischer Ziele und als öffentliches Gut, das helfen kann, die Lebensbedingungen auch der Mittellosen zu verbessern. Eine Architektur zudem, die stärker an ­vorhandene Ressourcen anknüpft.

Für Alejandro Aravena verläuft die Frontlinie der Architektur nicht zwischen Staaten, sondern quer durch die Gesellschaften, durch Länder und Kulturen. Die Auswahl der Projekte der von Aravena verantworteten Ausstellung im Arsenale und der zentralen Biennale-Halle fokussiert auf Brennpunkte aktueller ­Entwicklungen und Herausforderungen – und zeigt eindrucksvoll, wie die Architektur mit konstruk­tiven Innovationen und gestalterischer Raffinesse Antworten auf die drängenden Fragen der Gegenwart liefern kann.

Noch bis 27. November 2016 in Venedig; Giardini, Arsenale und an zahlreichen Orten in der Stadt. Der zweibändige Katalog kostet 80 Euro. www.labiennale.org/


Ariane Widmer

Ariane Widmer Pham, Lausanne, Dipl. Arch./Raumplanerin EPF/SIA/fsu/fas, Projektleiterin SDOL, Schéma directeur de l’Ouest lausannois.Ich war begeistert von dem Thema, das Alejandro Aravena als Kurator dieser Biennale bestimmt hat. Die hier gezeigte Architektur aus einfachen Materialien und oft mit einfachsten Mitteln relativiert wirkungsvoll unsere Suche nach Ästhetik und Perfektion – und kontrastiert unser Architekturverständnis mit jenem des unbedingt Notwen­digen. Bei einem solchen elementaren Ar­chitekturverständnis geht es dann um Fragen wie diese: Wie bekomme ich Licht in eine Hütte, wenn kein Geld für Fenster da ist? Die Antwort zeigt ein Beispiel aus Lateinamerika – eine wassergefüllte PET-Flasche wird in eine Öffnung im Dach des Hauses gesteckt und streut so das Licht nach innen.

Im Französischen sprechen wir von architecture vernaculaire, also Bauten, die ohne Architekten gebaut sind, aus Bautraditionen schöpfen und eine Antwort auf den sozialen Kontext geben. Die gezeigten Projekte aus Entwicklungs- und Schwellenländern machen uns deutlich, dass wir z. B. mit Minergie-Plus-Häusern einem auf aufwendiger Technik basierenden Nachhaltigkeitsbegriff folgen. Für mich ist das der Schritt, der nach Minergie-Plus kommt − für all jene auf der Welt, denen nur einfache Mate­rialien zur Verfügung stehen. Denn viele der in Venedig gezeigten Häuser haben nur dort Öffnungen zur Sonne, wo man sie auch braucht, und sind so konzipiert, dass man zum Heizen oder Kühlen ohne Hightech auskommt.

Der Jahrgang 2016 ist eine starke Architekturbiennale, denn sie ist denkbar zeitgemäss – es geht um ein engagiertes, soziales Bauen.


Eric Frei

Eric Frei, Genf, Arch. dipl. EPF/FAS/SIA, Mit­inhaber von Frei Rezakhanlou ArchitectesDer beste Teil der Ausstellung war für mich im Arsenale, wo Kurator Aravena selbst verantwortlich war für die Inhalte und ihre Umsetzung – die räumliche Inszenierung ist ihm dort auch architektonisch sehr gut geglückt. Gut und passend fand ich etwa die Idee, für die Einbauten Material von der zurückliegenden Architekturbiennale zu recyceln. Die Ausstellung hat eine zurückhaltende, aber kraftvolle Sprache. Ungeachtet des gesellschaftlich-sozial geprägten Themas sind auch Architekturstars beteiligt − aber Aravena gelingt es, dass auch prominente Architekten in der Ausstellung hinter ihr Thema zurücktreten. Er hat sie gut ins Thema eingebunden.

Die Kerez-Installation im Schweizer Pavillon finde ich sehr archaisch. Das amorphe Gebilde erinnert an eine Höhle – und bietet bemerkenswerte Raumer­leb­nisse. Zugleich sieht man dem organisch und naturhaft wirkenden Ergebnis paradoxerweise die intensive Konzept­arbeit und den vorangegangenen hohen technischen Aufwand nicht an. Der Beitrag ist in meinem Augen typisch für Schweizer Biennale-Beiträge: etwas prätentiös und ein hochintellek­tueller und innovativer Ansatz. Ich fand das sehr anregend und auch angemessen für eine Biennale.


Daniele Biaggi

Daniele Biaggi, Bern, Dipl. Geologe CHGEOL SIA, Geotechnisches Institut AGIch bin von Beruf Geologe. In Venedig wurde mir in aller Deutlichkeit bewusst, weshalb die Architekten im Gegensatz zu uns Geologen ihr Berufsbild nicht eindeutig abgrenzen können. Alejandro Aravena hat als künstlerische Leiter der Biennale den Diskurs um die Rolle der Architektur in der Gesellschaft pointiert und auch provokativ aufgegriffen. Ich habe seine Botschaft so verstanden: Liebe Architektinnen und Architekten, kommt runter vom Elfenbeinturm der reinen Baukunst, kümmert euch um die Behausungen der Benachteiligten in Favelas, Kriegsgebieten und in den durch Naturkatastrophen zerstörten Regionen. Insofern verstand ich, weshalb Aravena «Berichte von der Front» als Motto gewählt hat. Zahlreiche Länder sind seinem Motiv und Thema sehr anschaulich gefolgt. Lebhaft in Erinnerung bleiben mir eine Hüttenkonstruktion aus Abfällen in Indien, die spielerische Visualisierung erdbeben­sicherer Schulhäuser und gut gemachte Containersiedlungen für die Unterbringung von Flüchtlingen.

Und der Schweizer Pavillon? Er wurde kontrovers wahrgenommen, auch unter den anwesenden SIA-Vertretern. Ich fand die Installation von Christian Kerez total cool − und nahm mir die Freiheit, meine Annahmen in seine Konstruktion hineinzuinterpretieren, die vielleicht auch falsch sind. Aber lassen wir den Geologen etwas fantasieren: Kerez liess sich von der Geometrie verschlungener Karsthöhlen inspirieren. Er präsentiert einen Rückzugsort, in den man sich teils stehend, teils gebückt verkriechen kann. Das «Sich-Zurückziehen» in eine Höhle ist auch eine Antwort auf die Frage, wie man sich als Betroffener «an der Front» verhalten kann. Mein Fazit: Danke, Herr Kerez, Sie haben den Grundstein für eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Architekten und Speläologen gelegt!


Anna Suter

Anna Suter, Bern, Dipl. Arch. ETH/SIA, Inhaberin von Suter und Partner ArchitektenMit dem, was Alejandro Aravena und seine Gäste aus aller Herren Länder zeigen, erinnern sie uns daran, dass Architektur auch ein politisches Thema ist – und dass sie das Potenzial hat, Antworten auf gesellschaftliche Probleme zu liefern. Für einmal sehen wir anstelle des Schaulaufens der internationalen Architekturstars eine Architektur der Notwendigkeit. Ein Hauptfokus liegt auf Low-Tech-Bauweisen, die einfach und ressourcenschonend umzusetzen sind. So präsentiert die Block Research Group der ETH Zürich beispielsweise im Arsenale unter dem Titel «Beyond bending» Tragwerke, die ohne Stahl auskommen. Zu sehen sind auch Architekturkonzepte für den Plan B: Im spanischen Pavillon wird an einer Reihe von Bauten – allesamt Investmentruinen der spanischen Immobilienblase – gezeigt, wie man solche gescheiterten Projekte sinnvoll umnutzen oder weiterent­wickeln kann.


Prof. Sacha Menz

Prof. Sacha Menz, Zürich, Dipl. Arch. ETH/SIA/BSA, Partner von s a m architekten.Beeindruckt hat mich die unglaub­liche Vielfalt, mit der die Biennale-Teilnehmer das Thema «Reporting from the Front» in Venedig aufgegriffen haben. Die Schweiz vergibt die Gestaltung ihres Pavillons offenbar recht früh und lässt einen breiten Interpretationsspielraum offen. Der Beitrag im Schweizer Pavillon interpretiert das Leitthema aus einer gelassenen Entfernung. Dessen ungeachtet spielt dieser Beitrag mit den Grenzen des Machbaren, dem Zufälligen und der Suche nach der Fassbarkeit und Benutzbarkeit von gebautem Raum.

Auch der ETH-Beitrag im Arsenale ist spannend – er widmet sich der Neuinterpretation von räumlichen Schalen. Äusserst interessant zeigt sich der Pavillon von Belgien – hier wird mit Leichtigkeit und Frische das Thema des Alltäglichen demonstriert.13 Architekten und Fotografen setzen sich mit dem Handwerk auseinander. Ihre Medien sind dabei das 1 : 1 gebaute und erfahrbare Muster und daneben die Fotografie der realisierten Objekte.

Die ausgestellten Fragmente von Projekten aus Flandern beeindrucken durch ihre Klarheit und Einfachheit sowie dem sparsamen Einsatz der Mittel. Eine Ästhetik der Ökonomie. Plötzlich werden Regenrinnen aus dem Baumarkt im neuen Kontext zu hochwertigen architektonischen Elementen.

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