Ein Ort zum Sein und Blei­ben

Wohnen schafft Wohlbefinden, wenn die Randbedingungen stimmen: die Kosten einer Wohnung, deren Grösse und Qualität, die Lage und die Gewähr, das Zuhause langfristig sicher zu haben. Andererseits spielen die Wohnverhältnisse für soziale Ausgrenzung und Armut eine entscheidende Rolle.

Publikationsdatum
14-11-2017
Revision
14-11-2017

Wohnen schafft Wohlbefinden, wenn die Randbedingungen stimmen: die Kosten einer Wohnung, deren Grösse und Qualität, die Lage und die Gewähr, das Zuhause langfristig sicher zu haben. Andererseits spielen die Wohnverhältnisse für soziale Ausgrenzung und Armut eine entscheidende Rolle. Eine Fachtagung der Wohntage 2017 in Grenchen warf die Frage auf, ob Wohnen ein Fundament für gesellschaftliche Integration sei oder die Gefahr einer Verarmung bergen könne. Das «Nationale Programm gegen Armut» hat das Wohnen zu einem seiner Handlungsfelder erkoren und beteiligte sich als Partner an der Fachtagung.

Arme wohnen schlechter

Die Wohnversorgung ist bei armutsbetroffenen Haushalten viermal häufiger unzureichend als in der Gesamtbevölkerung. Besonders betroffen sind Haushalte von Rentnern, Alleinerziehenden und jene mit Migrationshintergrund. Hauptsächliche Ursache einer ungenügenden Wohnsituation ist die zu hohe Belastung durch die Wohnkosten. 82 Prozent der armutsbetroffenen Haushalte und fast die Hälfte der Haushalte in prekärer Lebenslage wohnen im Vergleich zu ihrem Bruttoeinkommen zu kostspielig – mit Wohnkosten von mehr als 30 Prozent ihres Einkommens.1

Mit andern Worten: Es gibt einen spürbaren, derzeit nicht gedeckten Bedarf an bezahlbarem Wohnraum in passender Grösse. Die Belastung der Haushalte ist tendenziell umso grösser, je kleiner das Einkommen ist. Die Statistik zeigt: Bei einem monatlichen Einkommen um 4000 Fr. beträgt dieser Anteil um 35%, bei Einkommen um 12 000 Fr. rund 13%. Mittlere Einkommen um 8000 Fr. investieren bloss noch ein Fünftel für die Wohnkosten.

Diesen Zahlen aus der Schweiz entsprechen weitgehend auch die Erhebungen in Frankreich. Opale Echegu, Studienbeauftragte am Observatoire national de la pauvreté et de l'exclusion sociale (ONPES), präsentierte Statistiken, die belegen: Einkommensschwache Haushalte leben öfter in überfüllten, lärmigen Wohnungen minderer Qualität. Echegu betonte, dass schlechte Wohnverhältnisse indirekt auch ein erhöhtes Risiko für ein «Vererben der Armut» an die nächste Generation in sich tragen.

Wer hat, dem wird gegeben

Ein hohes Einkommen führt zu mehr Wohnmobilität, z.B. zum Umzug in eine reichere Gemeinde. Tiefe Einkommen verhindern Umzüge oder führen in ärmere Gemeinden. Vielfach bleiben Haushalte mit weniger Einkommen auch in derselben Gemeinde wohnen. Insbesondere wer Sozialhilfe erhält, verlässt nur ungern seine Wohngemeinde, um die Hilfsleistungen nicht aufs Spiel zu setzen. Philippe Wanner vom Institut für Demografie und Sozioökonomie der Universität Genf formulierte zudem die Hypothese, privat aufgebaute Netzwerke z.B. für Kinderbetreuung könnten einer Wohnmobilität im Weg stehen. Seine Untersuchungen erstreckten sich über die sechs Agglomerationen Zürich, Bern, Basel, Genf, Lausanne und Lugano, und die jeweiligen Verhaltensmuster sind überall vergleichbar.

Brücken bauen

Das Sichern von Wohnraum und Wohnintegration sowie die Unterstützung sozial Benachteiligter bei der Suche und Sicherung von Wohnraum sind Kompetenzen der Stiftungen «Domicil» in Zürich und «Apollo» in Vevey und Yverdon-les-Bains. Claudia Biagini (Domicil) und Rachèle Féret mit Thierry Humair (Apollo) zeigten in einer Gesprächsrunde auf, wie sozial engagierte Organisationen als Brückenbauer zwischen Anbietern von Wohnraum und den Wohnungssuchenden auftreten können.

In Lausanne kümmert sich die Abteilung Wohnen des Sozialdiensts um Wohnprobleme benachteiligter Familien und Personen. Ziel ist es, den Verlust einer Wohnung zu vermeiden, provisorische Unterkunft ausserhalb von Hotels zu organisieren und den stark Belasteten Obdach und dauerhaften Wohnraum zu vermitteln. Tatjana Rodriguez und Yann Secrest präsentierten drei mit Audiodateien gestützte Erfahrungsberichte. Ende September 2017 verwaltete die Abteilung 580 Mietobjekte aufgrund einer Partnerschaft mit 50 Immobilienverwaltungen und Abkommen mit fünf Hotels.

Insbesondere Personen mit Asylhintergrund führen ein Leben mit prekären Wohnverhältnissen und konzentrieren sich auffällig stark in grossen und kleineren Kernstädten, selten im ländlichen Raum. Corinna Heye von raumdaten GmbH, Zürich, zeigte die Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Gemeinden auf. Weniger der Übertritt von den Asylunterkünften in die erste Wohnung sei eine zentrale Herausforderung als vielmehr die langfristige Integration in den Wohnungsmarkt. Eine zielführende Massnahme, um die Wohnverhältnisse zu stabilisieren, sei insbesondere eine Mietzinsgarantie, z.B. vonseiten der Sozialämter gegenüber den Vermietern.

Kommunale Wohnungen

Eine Umfrage zeigt: Rund 80% der Gemeinden in der Schweiz besitzen Wohnungen und bieten sie an. Etwa ein Fünftel davon ist an bestimmte Zwecke gebunden – für Angestellte, ältere Personen oder Asylsuchende. Zahlreiche Mietobjekte sind also ohne Zweckbindung, jedoch an Vergabekriterien gebunden: Arbeit in der Gemeinde, minimale Belegung oder maximales Einkommen. Lukas Beck (EBP Schweiz) stellte fest, dass solche Wohnungen eher günstiger als marktüblich angeboten werden, jedoch nur in Einzelfällen gezielt an sozial Benachteiligte gehen.

Marie A. Glaser vom ETH Wohnforum – ETH CASE, Zürich, präsentierte in diesem Zusammenhang eine Orientierungshilfe für Kantone, Städte und Gemeinden. In Form von Steckbriefen liefert sie einen Überblick über die möglichen Angebote im Bereich der unterstützenden Wohnhilfen für sozial benachteiligte Haushalte. Sie bietet konkrete Hinweise zur Ausgestaltung und zu den Erfolgsfaktoren und zeigt auf, worauf Städte und Gemeinden konkret bei solchen Angeboten achten sollten.

Über Erfahrungen mit Mietzinsgarantien berichtete Henk van Hootegem vom «Dienst zur Bekämpfung von Armut, prekären Lebensumständen und sozialer Ausgrenzung» in Belgien. Dessen Ziel ist es, den Zugang zum Wohnungsmarkt erleichtern. Nach ersten Erfahrungen verfolgt man dort den Ansatz eines zentralen Fonds, der den finanziellen Zugang zur Mietzinsgarantie erleichtern und das Risiko einer Stigmatisierung unterbinden soll.

Lösungen dank einer Allianz mit breiter Basis?

Bei einem Podiumsgespräch kamen die Rollen der verschiedenen Akteure, mögliche Allianzen und Chancen und Risiken der während der Tagung angesprochenen Handlungsstrategien zur Sprache. Daran beteiligt waren der für das Wohnungswesen im Kanton Genf zuständige Staatsrat Antonio Hodgers, der stellvertretende Direktor des Schweizerischen Städteverbands, Martin Tschirren, der Geschäftsführer von SVIT Zürich, Pascal Stutz, sowie die Leiterin der Fachstelle Sozialpolitik von Caritas Schweiz, Bettina Friedrich.

Einigkeit herrschte über die Tatsache, dass es heutzutage – nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Regulierungsdichte – kaum mehr möglich ist, preiswerte Wohnungen zu bauen. Gleichzeitig sind die Ansprüche an die verfügbare Wohnfläche während der letzten Jahre stetig gestiegen. All dies erschwert Massnahmen für Armutsgefährdete und Arme zunehmend. Einen Ort zum Sein und Bleiben zu finden und zu erhalten ist gerade für jene schwierig, die eher am Rand der Gesellschaft stehen. Doch seien kleine Schritte bei dieser Problematik in jedem Fall immer noch besser als pure Untätigkeit.

Anmerkung

  1. Carlo Knöpfel, Yann Bochsler et al. (2015), Wohnversorgung in der Schweiz. Bestandsaufnahme über Haushalte von Menschen in Armut und in prekären Lebenslagen. Ein Forschungsprojekt im Rahmen des Programms zur Prävention und Bekämpfung von Armut in der Schweiz. Bern und Basel: SKOS und Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit.

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