Zwei nicht ge­bau­te Mail­lart-Brü­cken

Jürg Conzett stellt zwei nicht ausgeführten Strassenbrücken von Robert Maillart der 1930er-Jahre vor: die Strassenbrücke über die Sitter zwischen den St. Gallen-Haggen und Stein von 1934 sowie die Brücke über die Rhone zwischen Aire-la-Ville und Peney von 1939. Ihre grossen Dimensionen verleihen beiden Brücken eine einzigartige Stellung in Maillarts Gesamtwerk, und die in ihnen erkennbaren Konstruktionsprinzipien weisen über die «klassischen» Maillart-Werke hinaus weit in die Zukunft.

Publikationsdatum
30-09-2021
Jürg Conzett
dipl. Bauingenieur ETH / SIA, Mitglied der Geschäfts­leitung Conzett Bronzini Partner, Chur

Beide Brücken entsprechen dem, was man heute «integrale» oder «semi-integrale» Brücken nennt; also Konstruktionen ohne Fugen und Lager (oder bei semi-integralen Brücken, wie in Peney, nur mit beweglichen Lagern an den Brückenenden). Auch ist in beiden Entwürfen Maillarts Lebensthema erkennbar, leistungsfähige Tragwerke durch das sinnvolle Zusammenwirken aller Konstruktionsteile zu schaffen. Dies führt zu einem komplexen, nicht unbedingt auf Anhieb erkennbaren Tragverhalten.

Bemerkenswert sind darüber hinaus die formalen Gegensätze: Die Sitterbrücke wirkt kantig, bis hin zu den merkwürdigen unter 45°-Winkeln verlaufenden Sprüngen, die an den Stützenköpfen zwischen den unterschiedlich hohen Balken vermitteln; die Rhonebrücke weist dagegen fliessende Übergänge zwischen Träger und Rahmenstielen auf, was sich in ähnlicher Form auch im Kleinen beim Übergang zwischen Fahrbahnplatte und Trägerstegen äussert.

Die Sitterbrücke ist ein 200 m weit gespannter Bogen mit einer schmalen, nur 3.50 m breiten Fahrbahn. Einzig bei den Stützen über den Kämpfern verbreitert sich der Trägerquerschnitt und bildet damit zwei Kreuzungsstellen für Fahrzeuge. Das Tragwerk entspricht nicht mehr dem gewohnten, formal äusserst reduzierten «versteiften Stabbogen» Maillarts, sondern fällt durch seine differenzierten, den Beanspruchungen angepassten Querschnitte auf.

Der Bogen ist ein U-Querschnitt, Fahrbahn, Pfeiler und Aufständerungen zeigen H-Querschnitte. Der lange, fugenlos durchlaufende Fahrbahnträger ist in den zwei Feldern neben den Kämpferstützen am stärksten. Die Trägerhöhe – und auch die jeweilige Feldweite – nimmt dann abgestuft pro Feld gegen die Brückenenden und den Bogenscheitel hin ab. Dieses auffälligste Merkmal der Brücke, der durchlaufende Versteifungsträger mit einem zentralen Bogen, wird bei keinem andern Entwurf Maillarts derart ausgeprägt zur Schau gestellt.

Weitere spannende Beiträge gibt es in Archi 5/2021, das dem Werk von Robert Maillart gewidmet ist.

Die ersten versteiften Stabbogen im Wägital (1924) oder im Val Tschiel (1925) waren von den Widerlagern oder den Anschlussbrücken durch Fugen getrennt. Auch später machte Maillart keinen Gebrauch vom versteifenden Effekt des über den Bogen hinaus weiterlaufenden Fahrbahnträgers, weder bei der Landquartbrücke in Klosters (1930) noch bei der Traubachbrücke mit ihren massigen Widerlagern (1932).

Der Durchlaufträger in Verbindung mit einem versteiften Stabbogen ist eine späte Entwicklung in Maillarts Werk. Wir finden ihn zuerst beim Entwurf der Tessinbrücke zwischen Giubiasco und Sementina (1932) und bei der Schwandbachbrücke (1933). Die Vorteile des durchlaufenden Versteifungsträgers liegen bei der Sitterbrücke auf der Hand: Die Verstärkung korrespondiert mit den Beanspruchungen aus ständigen Einwirkungen im hohen Bereich der Brücke und ihren grösseren Spannweiten; dann besitzen die ersten Felder der Anschlussbrücken, die direkt auf den Boden fundiert sind, eine grosse Steifigkeit, was heisst, dass ein grosser Teil der durch asymmetrische Lasten entstehenden Biegemomente auf kurzem Weg «nach hinten» abgetragen werden kann.

Die meisten ausgeführten Stabbogenbrücken Maillarts weisen flache Bogen mit niedrigen Aufständerungen und enge Abstände zwischen den Aufständerungen auf. Beides ist bei der Sitterbrücke nicht möglich. Nahe der Kämpfer müssen die hohen Aufständerungen grössere Abstände besitzen. Der Bogen braucht entsprechende Querschnitte, um nicht auszuknicken. Damit ist der Steifigkeitsunterschied zwischen Bogen und Fahrbahn weniger ausgeprägt als bei den kürzeren und flacheren Stabbogenbrücken. Entsprechend teilen sich die Biegemomente aus asymmetrischen Lasten zwischen Fahrbahnträger und Bogen auf. Diese Aufteilung ist nicht eindeutig bestimmt; der entwerfende Ingenieur kann durch die Querschnittsgestaltung die Arbeitsteilung zwischen Bogen und Fahrbahnträger weitgehend bestimmen.

Als Illustration dieser Verhältnisse habe ich eine grob angenäherte eigene statische Berechnung durchgeführt, da die erhaltenen originalen Berechnungen eher den Charakter von Notizen aufweisen und teilweise schwer verständlich sind. Dies ist selbstverständlich nicht als Nachrechnung der Brücke gedacht, sondern soll einfach das Prinzip erläutern, nach dem diese Brücke trägt.

Die Aufteilung der Momente beträgt etwa 2/3 zu 1/3 zwischen Fahrbahnträger und Bogen. Die trotz ihrer Grösse leichte Struktur reagiert sensibel auf Verkehrslasten. Über den Kämpferstützen erreichen die veränderlichen Momente die gleiche Grössenordnung wie die Momente aus ständigen Einwirkungen. Zur Brückenmitte und zu den Brückenenden hin nehmen sie rasch ab. Dies im Gegensatz zu den versteiften Stabbogen mit losgelöstem Versteifungsträger, bei dem die maximalen Momente in den Viertelspunkten der Spannweite auftreten.

Die Überlagerung der Momente ergibt im versteifenden Fahrbahnträger über dem Bogen eine Bandstruktur der Extremwerte der Momente. Dies erklärt, warum Maillart auf die seinerzeit sonst üblichen «Vouten» verzichtete und stattdessen die eigentümlich gestuften Übergänge schuf. Sie weisen darauf hin, dass die Beanspruchungen im Träger (über dem Bogen) zum grössten Teil aus der «globalen» Tragwirkung über die gesamte Länge der Brückenkonstruktion her stammen und weniger durch die Lasten auf die einzelnen Felder beeinflusst sind. Mit Ausnahme des ersten Felds bei der Kämpferstütze verhalten sich die seitlichen Felder der Anschlussbrücken wie konventionelle Durchlaufrahmen. Die sich verkleinernden Spannweiten und die somit variable Trägerhöhe rechtfertigen auch hier die gestufte Form bis zu einem gewissen Grad, für ihre Wahl waren aber bestimmt auch ästhetische Gründe wichtig, im Dienst eines zusammenhängenden Gesamtbilds.

Mit dem gleichen statischen Prinzip hat später Christian Menn seine Bogenbrücken entlang der San-Bernardino-Nationalstrasse konstruiert. Er war der Meinung, dass die durch die Bogendruckkraft «natürlich» vorgespannten Bogenquerschnitte einen Teil der Biegemomente des Gesamtsystems aus asymmetrischen Lasten aufnehmen sollten. Die Fahrbahnquerschnitte bildete er als vorgespannte Hohlkästen aus. Ebenfalls vom Entwurf der Sitterbrücke beeinflusst ist die räumliche Disposition der Lavoitobelbrücke bei Tamins, die Maillarts erster Biograf Max Bill (1908–1994), Künstler und Architekt, zusammen mit Ingenieur Mirko Robin Roš (1912–1968) im Jahr 1967 erbaute. 

Rhonebrücke zwischen Aire-la-Ville und Peney 

Wegen eines neuen Flusskraftwerks in der Rhone musste die Strasse von Aire-la-Ville nach Peney höher gesetzt und mit einer neuen Brücke über die Rhone geführt werden. Maillart entwarf eine höchst aussergewöhnliche Rahmenbrücke, die dann leider in anderer Form mit kürzeren Spannweiten ausgeführt wurde.

Er begann seine Arbeit im Frühjahr 1938, die endgültige Fassung der Pläne datiert dann vom Januar 1939. Die Brücke ist ein dreifeldriger Rahmen mit Spannweiten von 53 + 75 + 53 m. Diese Spannweiten hätten zu den grössten gehört, die in der Zeit vor der Vorspannung gebaut worden wären. Der Entwurf folgt dem Konzept der Überführung der Weissensteinstrasse in Bern von 1938, extrapoliert diesen jedoch in ganz andere Dimensionen.

Die Brücke ist «schwimmend gelagert», das heisst, sie wird in Längsrichtung nur über die beiden mittleren Rahmenstiele stabilisiert, während sie sich an beiden Widerlagern längs bewegen kann. Der Querschnitt variiert von einem Plattenbalken in den Feldern zu einem Hohlkasten im Stützenbereich, der nach unten in den Rahmenstiel mit rechteckigem Vollquerschnitt übergeht.

Das Studium der Weissenstein-Überführung hat Max Bill in seiner Biografie Maillarts zu der Überzeugung gebracht, «dass eines der Brückenprojekte Maillarts – das ich vorher kaum beachtet hatte –, sein Entwurf für die Rhone-Brücke in Aire-la-Ville–Peney, vielleicht seine höchste, geschlossenste, konstruktiv und künstlerisch reifste Lösung darstellt».

In der Tat wecken die Pläne der Rhonebrücke sowohl in der Ansicht als auch im Längsschnitt grosse Neugier auf die Funktionsweise dieser Konstruktion; einerseits durch die extremen Kontraste der Proportionen von Träger und Rahmenstielen, aber auch durch die Konstruktion des Übergangs zwischen diesen Bauelementen. So verführerisch die Brücke wirkt, so fragwürdig erscheint sie: Hat sich Maillart hier zu rein formalen Experimenten verleiten lassen? Worin liegt der Sinn der Viertelskreise zwischen Fahrbahnplatte und Stegen im Querschnitt (siehe Bildergalerie), die weder vorher noch nachher in einem Werk Maillarts erscheinen? Und wie verhält es sich mit den scharf gebogenen Druckplatten zwischen Träger und Pfeiler? Hier hilft nur eine geduldige und genaue Untersuchung weiter. Betrachten wir den Schnitt nahe der Zwischenabstützungen mit den 34 Bewehrungseisen von je 50 mm Durchmesser zuoberst in den Stegen, ergibt die Ausrundung des Anschlusses der Fahrbahnplatten im Hinblick auf die Überdeckung der Bewehrung und das Einbringen des Stegbetons auf einmal wieder Sinn.

Die Formgebung der Rahmenstiele ist ein höchst heikles Austarieren: Zunächst macht Maillart sie möglichst dünn, damit sie den Verbiegungen des Trägers unter ungleich verteilten Lasten ohne grosse Zwängungen folgen können. Natürlich sind die aus der Verbiegung entstehenden Biegemomente im Vergleich zu denjenigen des Trägers klein. Im Verhältnis zu den Druckspannungen aus vertikalen Einwirkungen erzeugen sie nur geringe Biegespannungen (siehe Bildergalerie). 

Zu dünn dürfen die Rahmenstiele dann doch nicht sein, denn sie müssen den ganzen schweren Überbau, der an den Enden beweglich gelagert ist, in Längsrichtung stabilisieren. Unter der Wirkung einer Bremskraft von 900 kN und einer unbeabsichtigten Schiefstellung der Pfeiler von 10 cm entstehen in den Rahmenstielen zwar wesentlich grössere Biegemomente als unter den vorher untersuchten Verbiegungen; in den von Maillart angegebenen Bewehrungseisen des Durchmessers 25 mm in Abständen von 25 cm entstehen dadurch aber Spannungen, die nur etwa 2/3 der damals zulässigen Werte erreichen. Die Dimensionierung der Rahmenstiele erscheint mit diesen Ergebnissen also gut durchdacht und sinnvoll.

Interessant ist, dass eine Abschätzung der Erdbebenstabilität nach heutiger Norm (was zu Zeiten Maillarts nicht untersucht wurde) geringere Auswirkungen zeigt als der Einfluss der Bremskraft. Dies ist dem in Längsrichtung elastisch nachgiebigen System zu verdanken, das keine grossen Trägheitskräfte entstehen lässt. Das gute Verhalten der Rahmenstiele ist vor allem auf die leichte Einschnürung des Querschnitts etwa 6 m über dem Fundament zurückzuführen, die ähnlich wie ein Gelenk wirkt. Diese Anordnung reduziert die Biegebeanspruchung gegenüber einem Rahmenstiel mit Fussgelenk, ohne dabei die Steifigkeit zu vermindern. Die Anordnung von «vorgezogenen» Gelenken findet sich oft in Maillarts Werk und erweist sich auch hier als fruchtbar.

Die starke Krümmung der Platte des definitiven Entwurfs erinnert an Probleme, die sich mit gebogenen Stahlblechen in den oberen Endknoten von Fachwerken stellen – die Kräfte, die um die Kurve fliessen, verbiegen die Platte nach aussen. Die frühere Anordnung erscheint «vernünftiger», wenn auch sicher weniger elegant.

Nehmen wir an, dass Maillart in der definitiven Version aussen in die gekrümmte Platte eine quer laufende Bewehrung mit Stäben des Durchmessers 20 mm alle 15 cm eingelegt hätte, könnte die 45 cm starke Platte ein Querbiegemoment von 135 kNm/m ertragen. Bei einem Krümmungsradius von 5.30 m entspräche dies einer Längskraft von 1145 kN, entsprechend einer Spannung in der Platte von -0.51 MPa (bei einem gegen die Seiten hin konzentrierten Kraftfluss könnte dieser Wert zwar verdoppelt werden; doch auch dann bleibt er gering). In der gebogenen Partie kann die Platte also nur zu einem Bruchteil ihrer Festigkeit ausgenutzt werden, sie wirkt – plakativ gesagt – wie eine Feder. Was sind nun die Konsequenzen dieser doch irritierenden Feststellung?

Betrachtung von oben: In einer Scheibenberechnung führt die gegen die Rahmenstiele hin plötzlich stark zunehmende Trägerhöhe zu einer markanten Abnahme der «Gurtkräfte». Die Längskräfte und damit die Spannungen in der unteren Druckplatte werden rasch geringer, die Kräftedifferenz fliesst in die Stege, die Kräfte in den oben liegenden Eisen bleiben annähernd konstant. Die Momentenspitze über dem Zwischenauflager wird abgeflacht, was auf Maillarts Skizze anschaulich dargestellt wird. Die Spannungen in der Gurtplatte bleiben trotz niedrigem Niveau immer noch grösser als die oben erwähnten ca. -1 MPa, selbst wenn die gekrümmte Platte mit einer reduzierten Steifigkeit eingesetzt wird. Die Spannungen in den Stegen sind höher; ihr Betrag von maximal etwa -8 MPa liegt aber immer noch unter den zulässigen Werten.

Betrachtung von unten: Unter dem Lastfall «Bremskraft» werden am Kopf des Rahmenstiels ein Biegemoment von 6'450 kNm und eine Normalkraft von -21'000 kN in den Träger eingeleitet. Auch hier erfolgt eine plötzliche Aufweitung des Querschnitts mit einer Reduktion der Spannungen. Diese betragen am oberen Ende des Vollquerschnitts noch grob angenähert -3.15 MPa.

Man kann diese nicht abschliessenden Einsichten wie folgt zusammenfassen: Der grosszügig ausgerundete Übergang zwischen Träger und Rahmenstiel weitet die Querschnitte auf und sorgt dadurch für eine Reduktion der Biegespannungen. Gleichzeitig wird die Kapazität der unteren Kastenplatte, Druckkräfte aufzunehmen, durch die starke Krümmung empfindlich geschmälert. Die konstruktive Ausbildung des Übergangs führt also gleichzeitig zu zwei Folgen: Die Krümmung schwächt zwar die Druckplatte, reduziert aber auch die in ihr herrschenden Spannungen.

Auf jeden Fall ist die seitlich stützende Wirkung der starken Stege wichtig. Maillart ist nicht in der heutigen Lehrmeinung befangen, nach der die Gurtkräfte ausschliesslich von den Kastenplatten aufgenommen werden sollten und die Stege für den Querkraftwiderstand reserviert würden. Eine Betrachtung der Scheitelpartie der Arvebrücke in Vessy zeigt eindrücklich, wie Maillart die Bogendruckkraft in die Fahrbahn leitet, sie dann in die Stege übergehen und schliesslich in der unteren Kastenplatte enden lässt.

Leider sind in Maillarts Archivunterlagen keine Bemerkungen zu der gekrümmten Druckplatte der Rhonebrücke zu finden. Es bleibt offen, ob es sich bei dieser (nota bene von aussen nicht sichtbaren) eigenartigen Krümmung der Druckplatte um ein noch nicht fertig ausgereiftes Experiment in einem sich in Entwicklung befindenden Projekt handelt – oder um eine geniale Doppelstrategie des Meisters.

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