Bio­lo­gi­sche Viel­falt über und un­ter Was­ser

Am Südufer des Urnersees entstanden Anfang der 2000er-Jahre mithilfe von Ausbruchmaterial aus dem Gotthard und dem Axen neue Inseln und Flachwasserzonen. Das förderte die Artenvielfalt von Pflanzen und Tieren. Eine zweite Schüttung soll nun an den Erfolg anschliessen.

Publikationsdatum
25-11-2023

Aus alten Dokumenten lässt sich schliessen, dass der natürlichen Reussmündung am Urnersee bereits früher Flachwasserzonen vorgelagert waren, die aber nach und nach verschwanden. Je nach Wasserstand ragten sie aus den Wellen. Die Idee, solche «Inseln» durch bauliche Ersatzmassnahmen wiederherzustellen, wurde schon lange planerisch verfolgt und in jüngerer Zeit umgesetzt. Aus 2.5 Mio. t Ausbruchmaterial aus dem Gotthard-Basistunnel und dem N4-Umfahrungstunnel in Flüelen schuf man zwischen 2001 und 2008 zwei Inselgruppen und neue Flachwasserzonen. Das neu erstellte Gebiet hat sich inzwischen ins bestehende Ökosystem integriert und trägt massgeblich zur Er­höhung der Biodiversität im Reussdelta bei. Heute existieren die Lebensräume für die Tier- und Pflanzenwelt, die landwirtschaftliche und touristische Nutzung sowie der Kiesabbau1 nebeneinander – Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft befinden sich im Gleichgewicht und profitieren voneinander. Mit dem Projekt Seeschüttung hat man schweizweit Neuland betreten.2

Vorzeigeprojekt für Flora und Fauna

Ökologische Auswirkungen sind bei einer Seeschüttung in jedem Fall zu erwarten. Wasserpflanzen und Fischlaichgebiete werden mit Gestein überschüttet. Zudem besteht die Gefahr, dass im See Trübungen auftreten. So war es auch bei der ersten Seeschüttung im Urner Reussdelta vor 20 Jahren. Doch zwischenzeitlich hat sich im neu entstandenen Delta eine vielfältige Vegetation gebildet. Die vom Kanton Uri eingesetzte Reuss­deltakommission3 begleitet die Entwicklung von ­Fauna und Flora. Über die Jahre ändern sich die Randbedingungen und entsprechend sollte die Situation überwacht werden. Gegebenenfalls muss man mit gezielten Massnahmen reagieren.

Die Langzeitkontrollen der Biologinnen und Biologen zeichnen ein positives Bild: Bei den Vegetationsaufnahmen im Sommer 2015 fanden sie 335 Pflanzenarten. Zehn der gefundenen Arten sind gefährdet oder gesamtschweizerisch geschützt, so zum Beispiel die kleine unscheinbare Gelbe Zyperbinse oder die rosa blühende Sprossende Felsennelke. Ein Vergleich der Kartierungen von 2015 und 2009 zeigt deutlich, dass im Delta eine grosse Dynamik herrscht. Auf der linken Seite sind grosse Pionierflächen entstanden, ebenso im ganz rechts liegenden Seitenarm der Reuss. Auf den früheren Pionierflächen sind entweder Weidengebüsche gewachsen oder sie wurden vom Wasser weggeschwemmt.

Die Dynamik zeigt sich auch in der Artenliste. So verschwanden in den sechs Jahren rund 55 Pflanzen­arten, rund 100 tauchten neu auf. Am grössten waren die Schwankungen in der Pioniergesellschaft; hier standen 48 verschollene Arten 66 Neufunden gegenüber. Aus botanischer Sicht ist die Entwicklung des Mündungsbereichs ein Highlight. Einziger Wermutstropfen ist die Ausbreitung von Problempflanzen, wie dem Drüsigen Springkraut, dem Japanknöterich oder dem giftigen Südafrikanischen Greiskraut.

Doch nicht nur die Pflanzenwelt hat profitiert, auch die Bestände der Vogel-, Insekten- und Reptilienarten haben rasch zugenommen. Das gilt ebenso unter Wasser: Wasserpflanzen besiedelten schnell die neu geschütteten Flachwasserzonen. Die Fischbestände haben sich nicht nur verdreifacht, auch deren Artenvielfalt hat zugenommen. Heute gibt es 30 statt dazumal neun Fisch­arten.

Das Reussdelta im Wandel

 

Die Reuss mit einem Einzugsgebiet von 832 km² verursachte seit jeher grosse Überschwemmungen im Talgrund zwischen Amsteg und dem Urnersee.

  • Im 19. Jahrhundert entschied der Urner Landrat, die Reuss zu kanalisieren.
  • 1850 bis 1852 erfolgte der Bau von Hochwasserschutzdämmen. Später wurde das Profil verbreitert, doch durch zunehmende Ablagerungen im Gerinne vor der Mündung in den Urnersee erhöhte sich die Sohle, es kam zu einem Rückstau und zu neuen Hochwasserschäden.
  • Um 1900 begann der Kiesabbau, als man das von der Reuss laufend angeschwemmte Material als Rohstoffquelle entdeckte. Doch der Kiesabbau führte zum Verlust der Flachwasserzonen und zu einer Verschiebung der Uferlinie landeinwärts.
  • 1970 regte das kantonale Bauamt Uri die Regenerierung des Reussdeltas an, dessen Uferschäden immer deutlicher wurden.
  • Zwischen 1970 und 1979 erarbeitete man ein Gesamtprojekt «Revitalisierung Reussdelta». Dieses berücksichtigte sowohl die Möglichkeit eines weiteren Kiesabbaus als auch die Interessen des Schutzes und Nutzens des Südufers des Urnersees.
  • Bis Anfang der 1980er-Jahre sah es dennoch schlecht aus für das Urner Reussdelta: Meter für Meter verschwand die Uferlandschaft im See.
  • 1985 nahm das Urner Stimmvolk das kantonale Gesetz zum Schutz des Reussdeltas an.
  • 2001 bis 2005 wurden am Südufer des Urnersees sechs Inseln und Flachwasserzonen im Rahmen des Projekts «Seeschüttung» geschaffen.
  • 2024 startet die Seeschüttung zur Schaffung weiterer Flachwasserzonen.

Zweite Schüttung ab 2024

Schon bei der ersten Schüttung hätte man gerne mehr Flachwasserzonen geschaffen – so, wie sie im Reuss­delta um 1900 vor dem industriellen Kiesabbau vorhanden waren – aber es fehlte das Schüttmaterial.

In den letzten Jahren zeigte sich, dass die neuen Bade­inseln – die sogenannten Lorelei-Inseln – immer wieder durch Treibholz und Schwebstoffe aus der Reuss beeinträchtigt wurden. Mit dem Bau einer Lahnung, einer Uferschutzanlage vor den Badeinseln, konnte dieser Einfluss abgeschwächt werden. Trotzdem überzeugt das Resultat noch nicht vollständig. Abhilfe soll eine weitere Seeschüttung schaffen, indem die bestehenden Flachwasserzonen vergrössert werden. Man verspricht sich davon eine Schonung der Badeinseln und ein Umlenken der Schwebstoffe weiter in den See hinaus.

Derzeit wird im Gotthardmassiv mit der zweiten Röhre des Strassentunnels (vgl. TEC21 9/2022 «Der Längste mal zwei») wieder gebaut und auch bei den Projekten am Axen (vgl. TEC21 36/2021 «Uferloses Unter­fangen») fällt neues Ausbruchmaterial an. Teile davon können hier kostengünstig und ökologisch ein­gesetzt werden (vgl. «Bereit für die grossen Materialmengen»).

Im Gegensatz zur letzten Seeschüttung erfolgen die Massnahmen in den nächsten Jahren ausschliesslich unter Wasser; es wird keine sichtbaren Inseln geben. Dafür entstehen zwei Flachwasserzonen, das heisst Flächen mit bis zu 10 m Wassertiefe, wo das Sonnenlicht den Seegrund noch erreicht und somit den Wasserpflanzen optimale Lebensbedingungen zur Verfügung stehen.

Lesen Sie auch: «Be­reit für die gros­sen Ma­te­ri­al­men­gen»Im Kanton Uri Gestein aus dem Gotthard-­Strassentunnel und dem Sisikoner Tunnel verwendet, um das Reussdelta aufzuwerten.

Der Projektleiter «Seeschüttung» Roland Senn sagt: «Unsere Intention ist es, mit möglichst wenig ­Material eine möglichst weitläufige Flachwasserzone zu generieren.» Geplant sind 7 ha neue Flächen.

Erfolge wiederholen

Die Verantwortlichen können bei den kommenden Schütt­arbeiten auf die Erfahrungen ihrer Vorgängerinnen und Vorgänger zurückgreifen. Die Auswirkungen sind weitgehend bekannt; somit kann man die entsprechenden Vorkehrungen treffen, um die Beeinträchtigung von Mensch und Umwelt möglichst gering zu halten. Es ist zum Beispiel ein jahreszeitlich differenzierter Ablauf geplant: Im Winter schüttet man näher am Ufer, im Sommer weiter draussen. So könne optimal auf die Freizeitbedürfnisse der Menschen wie auch auf die Schonzeiten der Fischerei Rücksicht genommen werden, erklärt Senn. Eine Umweltbau­begleitung wird erneut die Einhaltung sämtlicher Umweltschutzauflagen und gesetzlicher Grenzwerte sicherstellen. Man möchte die Erfolgsgeschichte der ersten Schüttung fortführen und die biologische Vielfalt im Urner Reussdelta weiter erhöhen. Mit dieser zweiten Schüttung sei die Wiederherstellung der Flachwasserzonen und die «Sanierung» des Reussdeltas dann im Jahr 2029 auch beendet. «Weitere Seeschüttungen wird es nach heutigem Kenntnisstand nicht geben», meint Roland Senn.

Die ausführliche Version des Artikels ist erschienen in TEC21 38/2023

Anmerkungen

 

1 «Die Gewinnung von Kies und Sand wurde [übrigens] nie grundsätzlich in Frage gestellt, war sie doch aus wirtschaftlicher Sicht für den Kanton Uri bedeutend.» Urs Wüthrich, Walter Brückner, Ruedi Hauser, Das Urner Reussdelta. Arbeitsgruppe Reussmündung (Berichte der naturforschenden Gesellschaft Uri, 25), 2011. ISBN 978-3-906130-72-9.

 

2 Das Projekt Seeschüttung im Urnersee hat die SIA-Auszeichnung «Umsicht – Regards – Sguardi 2006/2007» für zukunftsfähige Beiträge zum Bauwerk Schweiz erhalten.

 

3 Bereits 1992 wurde das Reussdelta in das Inventar der Auengebiete von nationaler Bedeutung aufgenommen. Für die Überwachung und Betreuung ist die Reussdeltakommission zuständig (www.reussdelta.ch).

Zweite Seeschüttung, Urnersee

 

Bauherrschaft / Vertretung Kanton Uri
Gesundheits-, Sozial- und Umweltdirektion, Altdorf

 

Beratendes Gremium
Ämter für Umwelt, Raumentwicklung und Tiefbau, Altdorf

 

Projektleitung
Gesundheits-, Sozial- und Umweltdirektion, Altdorf

 

Bauherrenunterstützung/OBL
EBP Schweiz, Zürich

 

Kommunikation
Incendio, Amsteg; Myriam Arnold

 

Bauleitung/Projekt­ingenieur
Bigler Ingenieure und Planer SIA, Altdorf

 

Umweltplanung / Umweltbaubegleitung
IG Reussdelta: ilu, Uster; Enviso, Altdorf; oeko-b, Stans

 

Vermessung
Schällibaum, Wattwil

 

Schüttfirma für Material ab Flüelen
Arnold & Co., Flüelen

 

Materiallieferant 2TG
Bundesamt für Strassen ASTRA, Bellinzona

 

Materiallieferant A4 Axen
Tiefbauamt Kanton Schwyz, Brunnen

 

Kosten
Kostenvoranschlag für das Gesamtprojekt: ca. 62 Mio. Fr. Für den Kanton Uri als Bauherrschaft ist die Schüttung kostenneutral.

 

Kostenträger
Tunnelprojekte: Bauherrschaft A4, Neue Axenstrasse; Bauherrschaft zweite Röhre Gotthard-Strassentunnel

 

Projektdauer
2023–2029

 

Probeschüttungen
April und Juni 2023

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