Vom Wohn­zim­mer ins Fahr­zeug

Mit öffentlichen Verkehrsmitteln sicher und komfortabel reisen

Die Anforderungen an die öffentlichen Verkehrsmittel sind enorm gestiegen. Der zunehmenden Komplexität steht die lange Lebensdauer der Fahrzeuge gegenüber – Gestalter und Ingenieure müssen Trends und technische Entwicklungen über mehrere Jahrzehnte antizipieren.

Publikationsdatum
05-11-2015
Revision
15-11-2015

Beim Einsteigen zählt der erste Eindruck. Jeder Fahrgast entscheidet individuell, ob er sich wohlfühlt oder nicht, abhängig vom Reiseziel oder vom bisher Erlebten, aber auch davon, was er in der jeweiligen Situation sieht, riecht oder hört. Unangenehmer Geruch oder störende Geräusche wiegen dabei schwerer als zum Beispiel unbequemes Sitzen.

Dieses subjektive Empfinden, gepaart mit den langen Lebenszyklen der Fahrzeuge (25 bis 40 Jahre), macht es für die Gestalter schwer, den ästhetischen und funktionalen Zeitgeist zu treffen. Das betrifft zum Beispiel die Ergonomie der Sitze, die ­Materialwahl, die Farbgebung oder die Art und Weise, Informationen zu transportieren. Dabei gilt: Ästhetik ist gewünscht, wird sich aber nicht durchsetzen, wenn sie zu teuer ist. 

Sicherheit und Komfort für Passagiere und Chauffeure

Bezogen auf den Fahrgast geht es in erster Linie um Sicherheit, Komfort und die Konkurrenz zum eigenen Auto. Die Nachteile des motorisierten Individual­verkehrs im urbanen Raum sind bekannt, trotzdem sind die Strassen voll. Mit einem wachsenden Verkehrs­aufkommen ist damit zu rechnen, dass auch das ­Bedürfnis nach Privatsphäre im öffentlichen Verkehr steigen wird.

Die Designer versuchen, den Raum in den öffentlichen Verkehrsmitteln so anzubieten, dass eine Personalisierung gelingt. «Die Wertvorstellung der Nutzer kommt aus ihrem alltäglichen Privat- und Arbeitsumfeld. Elemente und Funktionen aus diesen Bereichen möchten sie auch in den Fahrzeugen ­wiederfinden», sagt Andrea Lipp, Studiendekanin Transportation Interior Design an der Hochschule Reutlingen1

Ein Beispiel ist die Wiederentdeckung von Holz. Diese Renaissance hängt nicht mit der früher gängigen Holzklasse zusammen, sondern damit, dass die Leitbilder der Innenarchitektur auf die Fahrzeuge übertragen werden. In der heutigen Form, also sphärisch verformt und ergonomisch angepasst, sind Holzsitze im Kommen. Das zeigen die Umfragen für die neue Tramgeneration in Zürich und die neuen Fahrzeuge in Basel (vgl. «Neue Drämmli»). 

Bei Fahrzeugen, die sich im städtischen Umfeld bewegen, geht der Trend dahin, den Fahrer abzukapseln und ihm mehr eigenen Raum zu geben – auch um ihn vor Übergriffen zu schützen. Umgekehrt verlangt dies Gestaltungskonzepte, die der «sozialen Kontrolle» mehr Gewicht beimessen.

Die Hemmschwelle, etwas im Fahrzeug zu zerstören oder jemanden anzugreifen, ist grundsätzlich höher, wenn man gesehen werden könnte. Das Fahrzeuginnere ist deshalb oft transparent gestaltet, verspiegelte Panoramafenster erlauben den Blick nach draussen, schützen aber umgekehrt vor Blicken. Nicht zuletzt um das subjektive Sicherheitsgefühl von Fahrgästen und Personal zu befriedigen, werden zunehmend Überwachungskameras installiert. 

Gewicht, Kosten und Flexibilität sind ­elementar für den Betreiber

Für die Betreiber ist der Zusammenhang höheres Gewicht gleich höherer Kraftstoffverbrauch gleich höhere Kosten zentral. Auf innerstädtischen Linien werden Gepäckablagen immer seltener gebraucht. Die Digitalisierung führt zu leichterem Gepäck. Und die Fläche für die Gepäckabstellplätze füllen die Betreiber lieber mit Sitzplätzen – und damit zahlenden Kunden – als mit Stauraum. Die heutigen Sitze sind in der Regel modular aufgebaut, sodass sie sich problemlos ausbauen lassen und der Raum anders genutzt werden kann.

Ein viel diskutiertes Thema sind die Sitzbezüge in den Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs. Die Theorie, dass Sitze mit bunten Mustern seltener zerstört werden, bestätigt Andrea Lipp: «Es ist einfach nicht reizvoll, auf den bunten Mustern etwas zu malen oder zu schreiben.» Grundsätzlich könne man feststellen, dass Hochwertiges seltener zerstört werde. Oft werden die Oberflächen wegen des Vandalismus beschichtet oder mit Folien beklebt – dies ist zwar in der Anschaffung teurer, wirkt sich aber positiv auf den Unterhalt aus.

Für den Betreiber geht es beim Design in erster Linie um seinen Wiedererkennungswert, sein Image und das Erscheinungsbild. Er wird versuchen herauszufinden, welche Farben und welche Formgebung seine Zielgruppe mit welchen Eigenschaften verbindet. Die Herausforderung für die Gestalter liegt zudem darin, die Fahrzeuge so zuzuschneiden, dass sie bezahlbar sind, um wettbewerbsfähig zu sein. Möglicherweise geht ein Betreiber noch auf den kulturellen Hintergrund des Landes ein. Dies äussert sich in der Farbgebung oder der Anordnung der Sitze.

Hat sich ein Betreiber entschieden, wird dieses Layout genutzt und über die Masse kostengünstig produziert. «Öffentliche Verkehrssysteme werden seit den 1960er-Jahren auf Massenleistungs­fähigkeit und Wirtschaftlichkeit, aber nicht auf Reise­erlebnisse hin optimiert», sagt Lipp. Dennoch sind die Vorgaben der Verkehrsbetriebe für die Gestalter wahrscheinlich die geringste Einschränkung. Schwerer wiegen die Vorgaben zu Material (schwer entflammbar, rutschsicher, abwaschbar, resistent gegen Feuchtigkeit), Massen (Durchgangsbreite, Kopfhöhe, Sitzabstand, Barrierefreiheit) oder Farbgebung (Kontrastfarben). 

Vorausdenken ist entscheidend

Wegen der langen Lebenszyklen der Fahrzeuge im öffentlichen Verkehr orientiert man sich bei der Gestaltung gern an ästhetischen Ideen, die sich lang gehalten haben: z. B. optische Leichtigkeit, die Hochwertigkeit suggeriert. Laut Lipp kommen auch Naturmaterialien, recyceltes Material oder insgesamt die Wiederverwertbarkeit der Materialien gut an. «Ein leichter Sitz deutet darauf hin, dass der Aufwand für die Herstellung nicht zu gross war», sagt sie. 

Die künftigen Nutzer sind die heutigen Kindergartenkinder. In dieser Generation werden Infotainment und Digitalisierung wichtiger Bestandteil der Ausstattung sein. «Die Ausstattung entwickelt sich weg vom Material als Dekoration, hin zu interaktiven Materialien. Beispielsweise modernen Ledersitzen, die die Temperatur des Passagiers erfühlen und sich entsprechend erwärmen oder abkühlen.»

Für neue Gestaltungsideen braucht man allerdings Platz im Fahrzeug. «Heute haben alle Fahrzeuge ihre Energiespeicher dabei oder sind dadurch in irgendeiner Form limitiert. Sobald sich die Form des Antriebs ändert, wird es wieder mehr Raum für Gestaltung geben», ist Andrea Lipp überzeugt.

 

Anmerkung

1 Die Hochschule Reutlingen (D) bietet einen Studiengang Transportation Interior Design (TID). Die Bachelor- und Masterprogramme basieren auf den Themenbereichen Textiltechnologie, Textilmanagement, Textilhandel, Textildesign, Modedesign, Fahrzeuginnendesign und Künstlerische Konzeption. Die Studierenden erwerben fachübergreifend die nötige Kompetenz zur Gestaltung von Innenräumen für Verkehrsmittel aller Art – von der Konzeption bis zur praxisnahen Umsetzung. Wichtiger Bestandteil der Ausbildung ist neben dem dreidimensionalen Styling des Innenraums und seiner Komponenten der richtige Umgang und Einsatz von Materialien. Weitere Informationen: www.td.reutlingen-university.de

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