Neue «Drämm­li»

Basels Tramflotte wird erneuert

Bevor die 61 Trams des Typs FLEXITYBasel aufs Netz gehen, werden sie auf Herz und Nieren geprüft. Der Gestaltung massen die BVB grosse Bedeutung zu.

Publikationsdatum
04-11-2015
Revision
15-11-2015

Ein nagelneues Tram der Basler Verkehrs-Betriebe (BVB) steht im Depot Wiesenplatz. Das geräumige Fahrzeug wirkt leicht und einladend: breite Gänge, grosse Fenster, verglaste Türen. Im Innenraum dominieren helle Farben. Ungewohnt wirken die Sitze aus Buchenholz. Das gleiche Holzdesign findet man auch an der Decke wieder. Gepäckablagen oder Mülleimer gibt es nicht, dafür grosszügige Mehrzweckbereiche. Noch ist dieses Tram klinisch rein.

Das Auge des Betreibers

Im November 2014 fuhr zum ersten Mal ein Tram des Typs FLEXITYBasel auf der Linie 8 von der Neuweilerstrasse nach Weil am Rhein (D). Insgesamt haben die BVB beim Hersteller 61 solcher Trams für rund 255 Millionen Franken bestellt. Seit Juli kommen monatlich zwei Fahrzeuge bestehend aus je fünf bzw. sieben Modulen in Basel an, bis 2017 sollen alle geliefert werden. Bevor die Trams aufs Netz gehen, werden sie umfangreichen Tests unterzogen.

«Im Gegensatz zu einem Auto, bei dem der Typ beim Kauf üblicherweise bereits zugelassen ist, werden Schienenfahrzeuge für den Strassenbahnbereich speziell für ein bestimmtes Netz gefertigt. Spur- und Fahrzeugbreite sowie Zwangspunkte wie minimale ­Gleisradien, Radien für Wannen oder Kuppen oder Durchfahrtsbreiten und vorhandener Freiraum bei Begegnungsfahrten zweier Trams unterscheiden sich von Stadt zu Stadt», erklärt Michel Baudraz, Projektleiter bei den BVB. Deshalb beschäftigten die Erprobung und die Typentests ihn und seine Kollegen beim ersten, im letzten Jahr gelieferten Tram intensiv. 

Die Baubegleitung beginnt schon früh im Werk in Bautzen (D). Die Inbetriebsetzungsingenieure der BVB oder von ihr beauftragte unabhängige Fachspezialisten begleiten stichprobenartig die einzelnen Fertigungsstände, wie Rohbau, Korrosionsschutz, elektrische Einbauten oder den Einbau von Decken und Designelemente. So sind z. B. eine sichere und im späteren Fahrgastbetrieb robuste Fahrzeugsoftware oder der normgerechte Nachweis der Festigkeit der Wagenkästen und Fahrwerke zentrale Themen. Für den Betreiber ist neben dem sicheren und robusten Betrieb vor allem die wirtschaftliche Instandhaltung über die Einsatzdauer von rund 35 Jahren wichtig. 

Die unterschiedliche Sicht auf Gestaltung, Ausführung und Nutzung (z. B. Instandhaltung) kann bei der dem Fahrzeugbau vorangehenden Pflichtenheft­erstellung, aber auch noch zum Teil bei der Fertigung des ersten Fahrzeugs Anlass für Grundsatzdiskussionen zwischen verschiedenen Anspruchsgruppen sein. Als Beispiel führt Baudraz die neuen Holzsitze an. «Als Betreiber ist uns neben einer gegen Vandalismus resistenten Sitzoberfläche ein unkomplizierter Ein- und Ausbau wichtig. Verschmierte Sitze schaden dem Image, und an kaputten Holzsitzen könnten sich unsere Fahrgäste verletzen. In einem solchen Fall müssen wir schnell reagieren können.»

Im Fahrzeug zeigt er, dass sich das Tüfteln gelohnt hat. Mit einem Spezialschlüssel und etwas Übung ist ein Sitz in wenigen Sekunden von der Unterkonstruktion getrennt. Trotzdem und dank der ausgeklügelten Verschlussmechanik wackelt der einmal befestigte Sitz nicht. Damit alles reibungslos funktioniert und die Sitzschalen auch an jeder anderen Position im Tram wieder eingebaut werden können, prüfen die Ingenieure das Austauschen stichprobenartig in jedem neuen Fahrzeug bei der Werks­abnahme in Bautzen. 

Nach der Fertigung und Endmontage geht jedes Fahrzeug in Bautzen auf den werkseigenen Testring für Schienenfahrzeuge.1 Dort werden alle Systeme in Betrieb genommen und zum Beispiel Brems- und Fahr­eigenschaften geprüft, aber auch die Robustheit der Systeme in verschiedenen Ausfallszenarien getestet. Sobald die Inbetriebsetzungsingenieure des Herstellers alle diese Arbeiten abgeschlossen haben, erfolgt die Werksabnahme durch die BVB. Sie ist in zwei Teile gegliedert: eine dynamische Abnahme auf dem Testring, wo stichprobenartig die 1300 vorab definierten Funktionen geprüft werden, und eine statische Abnahme in der Halle, wo das Finish im, aussen am und unter dem Fahrzeug sowie auf dem Dach kontrolliert wird. Danach folgt die rund 800 km weite Reise von Bautzen nach Basel mit speziellen Lkw – ein fertiges Tram wiegt weit über 100 t. Nach der Ankunft werden die Fahrzeuge nochmals untersucht: auf Transportschäden oder Mängel. Dabei geht es vor allem um «Schönheitsfehler», die nicht sicherheitsrelevant sind. 

Das Bundesamt für Verkehr (BAV), das für die Zulassung der Fahrzeuge auf Bundesebene zuständig ist, wird früh in den Prozess eingebunden. Bereits das Pflichtenheft und die Typenskizze werden dem BAV vorgelegt. Es erhält umfangreiche, zur Genehmigung nötige Unterlagen und Nachweise. Bevor das erste Tram für den Fahrgastbetrieb aufs Netz geht, wird es zudem von einem Vertreter des BAV in Augenschein genommen und werden diverse Prüfungen im Stand und während einer Probefahrt durchgeführt. 

Schön, einfach, pflegeleicht

Für das FLEXITYBasel-Tram wurde u. a. aus Kostengründen kein aufwendiges 1:1-Mock-up des Fahrgast­raums gebaut. Mithilfe eines Moodboards liessen sich Farben, Materialien und Oberflächenbeschaffenheit aber gut beurteilen, findet Baudraz. Bei der Farbwahl des Innenraums hatten die Gestalter der Herstellerfirma und die zusätzlich von den BVB beauftragten De­signer am meisten Freiheit. Mit der Oberflächenbeschaffenheit war es bereits schwieriger, da diese viele Anforderungen hinsichtlich Brandschutz, Griffigkeit, Rutschfestigkeit und Reinigungsfreundlichkeit erfüllen muss.

Insgesamt war der Spielraum aufgrund vieler standardisierter Raumelemente und technischer Rahmenbedingungen eher gering. Als Beispiel nennt Baudraz die Türsysteme – die über den Türen liegenden Verkleidungen und zu öffnenden Deckel ragen üblicherweise in den Innenraum hinein. Der Grund dafür: Hinter diesen Verkleidungen sind umfangreiche Elemente der Türsteuerung und -mechanik enthalten. Sie müssen gut erreichbar und schnell aus- und einbaubar sein. Die Reduktion des Einbauraums für diese technischen Elemente durch Zusammenschieben oder Übereinandermontieren würde die Zugänglichkeit stark einschränken.

Alltägliche Befestigungstechniken scheitern im Bahnbereich oft, da hier hohe, auch normativ festgelegte Ansprüche an die Festigkeit gestellt werden. Die Gestaltung sei immer ein Kompromiss zwischen den Wünschen und Ideen des Designers, den Rahmenbedingungen des Fahrzeuglieferanten und den Betriebsanforderungen des Betreibers. Anspruchsvoll sei es, die ganze Bandbreite von der Idee bis zur Umsetzung im Detail abzudecken und über die lange Phase vom Pflichtenheft bis zur Fertigung der Fahrzeuge diese Aspekte zu verfolgen und durchzusetzen, so Baudraz.

Kopf aus Holz nachgebildet

Der Kopf der Fahrzeuge wurde an die Designbedürfnisse von Basel angepasst. Der Fahrzeugkopf musste in das «Gesicht» der vorhandenen Fahrzeugflotte passen, Traditionen wahren und gleichzeitig, die moderne Tramflotte der BVB verkörpern. Bei der Gestaltung ihres künftigen Arbeitsplatzes wurde das Fahrpersonal einbezogen. Für den Kopfbereich der Fahrzeuge wurde ein 1:1-Mock-up aus Holz gebaut, noch ohne Seiten- und Frontscheiben. So konnten sie die Positionierung der Bedienelemente wie Taster oder Leuchtmelder auf Benutzertauglichkeit hinsichtlich Haptik und Ergonomie testen.

Auch ein Originalsitz mit funktionierender ­Luftfederung wurde eingebaut, wobei die erste Version aufgrund der Umfrageresultate beim involvierten ­Fahrpersonal verworfen wurde. Es konnte auch die Anordnung der Bedienelemente in den beiden Armlehnen überprüfen. Schwierig ist es bei solchen Modellen, die üblicherweise in einer Halle aufgestellt werden, die «dynamischen» Eigenschaften zu überprüfen, wie Sicht und Lichtverhältnisse aufgrund Lichteinfalls von vorn und vom beleuchteten Fahrgastraum. Diese Eigenschaften können erst bei ausgedehnten Probefahrten bei Tag und bei Nacht mit einem Team des Fahrpersonals geprüft und die Lösungen abschliessend festgelegt werden.

Das Tram verfügt links und rechts am Fahrzeugkopf über Rücksehkameras anstelle von konventionellen ­Seitenspiegeln. Auch der Innenraum ist mit mehreren Kameras ausgestattet. Die Überwachungsmonitore im Fahrerraum helfen bei Notfällen oder Unregelmässigkeiten im Innenraum und bei den Fahrgasttüren, die Situation einzuschätzen und zu reagieren. Zudem schrecken Überwachungskameras auch hinsichtlich Vandalismus ab. Sechs Doppelbildschirme in jedem Fahrzeug liefern den Passagieren Informationen zu Linienverlauf, Haltestellen und Umsteigemöglichkeiten, bieten aber auch Infotainment-Inhalte wie Werbung oder tagesaktuelle News.

Resistent gegen Farbe, Schmutz und Fett

Vor der Planung der neuen Trams hatten die BVB 2012 eine Umfrage durchgeführt. Zwei von drei Fahrgästen stimmten damals für Holzsitze und gegen Stoffbezüge. Bei vielen dürfte das eine Frage der Hygiene gewesen sein. Dass diese etwas härter sind als die gepolsterten Sitze, muss man hinnehmen. Holzsitze waren früher etabliert. In den 1960er-Jahren verkehrten in Basel und anderen Städten ausschliesslich Trams mit Holzsitzen.

Inzwischen ist das Spezialwissen hinsichtlich der Herstellung von Schienenfahrzeugsitzen verloren gegangen. Besonders die langfristige Formstabilität, Reduktion der üblicherweise vorhandenen Fertigungstoleranzen und Robustheit gegen Nässe sowie mechanische und chemische Einflüsse wie Kratzfestigkeit, Vandalismusresistenz, einfache Montage- und Demontage und schliesslich Einhaltung von geltenden Normen wie Brandschutz machen das Engineering anspruchsvoll. 

Für die Formgebung lassen sich erfahrene Sitzdesigner finden. Die Ergonomie in einem fahrenden System darf dabei nicht unterschätzt werden (Stichwort: Rutschfestigkeit). Für die Herstellung wird es noch schwieriger: «Man möchte ja gern Pionier im Design sein, aber in der Herstellung nicht unbedingt», sagt Baudraz. Unerprobte Produkte können, wenn die Mängel erst im Fahrgastbetrieb festgestellt werden, angesichts der hohen Stückzahl sehr kostspielig für den Betreiber werden.

Es war nicht einfach für den Fahrzeughersteller, auf dem Markt einen Lieferanten zu finden, der alle Anforderungen der BVB erfüllt. Schliesslich fand man mit dem Sitzhersteller Kiel aus dem ­bayerischen Nördlingen einen passenden Partner. Dieser zog den für Holzsitze erfahrenen Hersteller Becker im westfälischen Brakel bei. Gemeinsam wurde in mehreren Schritten die Form der jetzt eingebauten Sitzschalen gefunden. Nach dem Grundsatzentscheid aufgrund der Umfrage bei den Fahrgästen fuhr eine Querschnittsgruppe von potenziellen Fahrgästen zur iterativen Sitzflächen­gestaltung mittels Schalenform­überarbeitung am ­Prototyp und immer wieder neuen Probesitzens zum Hersteller. Anschliessend folgten weitere Feinabstimmungen. 

Parallel dazu haben Fachspezialisten der BVB, die für den Unterhalt und die Oberflächenpflege der Fahrzeuge zuständig sind, die Sitze mit verschiedenen chemischen Substanzen, wie Farbe aus Spraydosen, wasserfesten Stiften, Leimen, Dreckmischungen und Fetten beschmiert. Die Anforderung an die Oberfläche lautete: Nach 24 Stunden müssen diese Verunreinigungen mit den üblichen Reinigungsmitteln der BVB rückstandfrei und ohne Angriff der Oberfläche entfernt werden können. «Auch wenn wir uns hochwertige Sitze leisten, darf der Instandhaltungsaufwand nicht steigen», sagt Baudraz. Eingebaut sind nun helle Sitzschalen mit einem Buchenholzkern und einer zusätzlichen HPL-Platte. 

Durchs Tram hangeln

Mit den Haltestangen haben sich die Designer ebenfalls intensiv beschäftigt. Früher waren die Stangen oft in der Mitte des Innern angebracht oder ragten in verschiedenen Radien und Winkeln unterschiedlich in den Raum hinein. Dies führte oft zu einem unruhig wirkenden Innenraum. Um einen offenen Raum und eine freie Sicht durch das ganze Fahrzeug gewährleisten zu können, wurde nun eine Lösung auf Basis von orthogonal angeordneten Haltestangen favorisiert.

Zudem wurde die Anzahl im zulässigen Rahmen reduziert bzw. eine Vielzahl von senkrecht von der Decke zum Boden führenden Haltestangen durch Haltegriffe auf den Sitzen ersetzt. Was bleibt, ist die Forderung, dass eine Strassenbahn so mit Haltestangen ausgerüstet sein muss, dass sich ein Fahrgast, der sich durchs Fahrzeug bewegt, durchgängig festhalten kann. 

Die BVB haben sich entschieden, die Haltestangen am Sitz durch Griffe zu ersetzen. Um aus Sicht der geltenden Vorschriften als Haltemöglichkeit zu gelten, muss ein solcher Griff auf einer bestimmten Höhe beginnen. Dies ist bei der Gestaltung des eigentlichen Halteteils und des Befestigungsteils zu berücksichtigen. Weitere Kriterien sind Material und Farbe. Für Halte­stangen sind nach geltenden Vorschriften mit dem Hinter­grund kontrastierende Farben zulässig, oft gelb oder rot. Auch Edelstahlausführungen sind möglich. Knackpunkt dabei ist der richtige Schliff der Oberfläche, damit die Stange auch für sehschwache Passagiere ­erkennbar bleibt. Denn je nach Schliff ergeben sich ungleichmässige Spiegelungen oder gleichmässige Schattenwürfe. 

Über Grenzen fahren

In Europa gibt es nur wenige grenzüberquerende Tramlinien. Es gab bisher praktisch keine Notwendigkeit für gegenseitig anerkannte oder sogar gemeinsam entwickelte Vorgaben für Tramzulassungen. Insgesamt sind, getrieben vor allem durch die Industrie, die Herstellungsvorschriften z. B. zur Festigkeit europaweit geregelt, andere wie Brandschutz wurden unlängst harmonisiert, die betrieblichen Vorschriften jedoch sind sehr unterschiedlich. Da die FLEXITY­Basel-Trams auf der Linie 8 nach Deutschland fahren und ab 2017 auch auf der Linie 3 nach Frankreich eingesetzt werden sollen, haben die BVB mit den verantwortlichen Behörden ennet der Grenze gesprochen, um herauszufinden, welche nationalen Normen und Vorschriften sich ­wider­sprechen. 

Eine Diskrepanz gab es hinsichtlich des Bremslichts: In Frankreich und Deutschland benötigt das Tram seit Langem wie ein Auto oder ein Bus ein Schluss- und ein Bremslicht. Nicht so in der Schweiz. Hierzulande reichte bis vor Kurzem ein Schlusslicht. Die Idee, das Problem mit einem Umschaltbetrieb an der Grenze zu lösen, wurde u. a. aus Sicherheitsgründen verworfen.

«Denken Sie an einen Autofahrer, der von Deutschland in die Schweiz hinter dem Tram herfährt und beim Aufleuchten des Bremslichts entsprechend reagiert. An der Grenze stellt das Fahrpersonal des Trams auf reines Schlusslicht ohne Bremslicht um. Die Gefahr wäre durchaus gegeben, dass es zu einem Auffahrunfall kommt», erklärt Baudraz. In Abstimmung mit dem BAV wurde festgelegt, auch in der Schweiz ein Bremslicht einzusetzen. Inzwischen ist es auch hierzulande allgemein für Strassenbahnen vorgeschrieben.

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