Ver­edel­tes Eli­xier

Stausee Muttsee

Bergseen werden oft als Edelsteine in der Alpenlandschaft bezeichnet. Wie Juwelen werden sie wertvoller, je grösser sie sind. Die längste Staumauer der Schweiz vergrössert den Muttsee nun zu einem hochkarätigen Schatz.

Publikationsdatum
12-05-2017
Revision
12-05-2017

Höhenlage und nutzbares Wasservolumen sind die Zauberwörter, die bei der Wasserwirtschaft die Augen feucht werden lassen. Zusammen ergeben diese beiden Faktoren potenzielle Energie, die über Turbinen und Generatoren in Strom umsetzbar ist. Im Fall des Muttsees war die Höhenlage schon üppig, lag sein Wasserspiegel vor dem Aufstau doch auf 2446 m ü. M. Die Talsohle im Talschluss bei Tierfehd liegt nur noch auf 803 m ü. M., reichlich Potenzial also für die Stromgewinnung. Beim Wasservolumen half die Axpo als Nutzerin des Wassers mit einer neuen Staumauer etwas nach. Die Mauer ist mit ihrer Länge von 1054 m die längste der Schweiz und die höchstgelegene Europas. Sie erhöht nun den Inhalt des Muttsees von 9 auf 23 Millionen Kubikmeter.

Beton statt Steine

Die Gewichtsstaumauer mit dem markanten Knick, die sich an die frühere Form des Muttsees anschmiegt, war nicht von Beginn an so gedacht. Anfängliche Pla­nungen zum Aufstau des Sees gingen noch von einem Steinschüttdamm aus. Dieser hätte jedoch aufgrund seines trapezförmigen Querschnitts eine bedeutend grössere Aufstandsfläche erfordert. Der nun umgesetzte dreieckige Querschnitt der Betonstaumauer vermindert den Flächenverbrauch der Stauanlage. Dadurch gelang es, mehrere kleine Seen und Lachen in der gewellten Landschaft der Muttenalp zu erhalten. Das Hochplateau Mutten mit seiner hochalpinen Flora und Fauna wurde im Zuge der Bauarbeiten sogar zur Schutzzone erklärt. Ein festgesetztes Weggebot für Wanderer und Bauarbeiter half, die Einwirkungen ausserhalb der Baustelle auf die ursprüngliche Alpenlandschaft zu minimieren.

Die Wahl einer Schwergewichtsmauer hat jedoch noch weiter reichende positive Aspekte auf die Umgebung. Für einen Schüttdamm hätte das Steinvolumen, das aus den Kavernen und Stollen der Kraftwerksanlage ausgebrochen wurde, nicht ausgereicht. Zur Gewinnung von Steinen für einen Damm wären folglich ein oder mehrere Steinbrüche nötig gewesen. Die grösseren Mengen an zu verarbeitendem Material hätten bedeutend grössere Deponieflächen nach sich gezogen. Somit stellte die Staumauer mit ihrem Betonvolumen von etwa 250 000 m3 die ökologisch besser ­verträgliche Lösung dar.

Bis die Staumauer wie aus einem Guss dastand, brauchte es eine Bauzeit von drei Jahren, wobei nur in den Sommerperioden gearbeitet werden konnte. Aufgrund des hochalpinen Klimas ruhten die Arbeiten im Winterhalbjahr. Beim Bauablauf sind drei zeitliche und räumliche Abschnitte zu unterscheiden: 2012 entstand der westliche, im Jahr darauf der östliche Teil der Mauer mit der integrierten Hochwasserentlastungsanlage. Der Lückenschluss erfolgte im Herbst 2014.

Block für Block – im Pilgerschritt

Innerhalb der einzelnen Abschnitte wurde die Mauer blockweise erstellt. Ein Mauerblock hatte je 15 m Länge, sodass 68 Blöcke für die gesamte Staumauer nötig waren. Gebaut wurden sogar 69 Blöcke – ein Block ­musste teilweise rückgebaut und neu errichtet werden, da er partiell eine ungenügende Betonqualität aufwies. Die Errichtung der Blöcke im sogenannten Pilger­schrittverfahren – es wird zuerst jeder zweite Block betoniert, danach füllt man die dazwischenliegenden Lücken – bietet bautechnische und logistische ­Vorteile. Die Hydratationswärme, die beim Abbinden des Betons entsteht, kann gleichmässiger entweichen, und bereits erstellte Mauerblöcke dienen den dazwischenliegenden als seitliche Schalung. Aussparungen in den Seitenwänden der zuerst gebauten Blöcke, der sogenannten Vorläufer, sichern eine gute Verzahnung mit dem Nachläufer beim jeweiligen Lückenschluss. ­

Das abwechselnde Erstellen vereinfacht ausserdem ­die Arbeitsabläufe, da verschiedene Einsatzmannschaften nicht gleichzeitig am selben Ort mit beschränktem Platzangebot eingesetzt werden müssen.

Weiter Horizont, beengter Platz

Das Betonieren der einzelnen Blöcke erfolgte in Etappen von je 3 m Höhe. Die sechs jeweils einen halben Meter starken Betonschichten einer Etappe konnten somit in einer Zwölfstundenschicht erledigt werden. Bedurfte in den unteren Bereichen der Staumauer die entstehende Hydratationswärme des Massenbetons besonderer ­Aufmerksamkeit, ging es in den oberen, verjüngten Querschnitten eher aufgrund der beengten Arbeitsverhältnisse heiss her.

Die nur 4 m breite Mauerkrone der obersten Etappe liess wenig räumlichen und zeitlichen Spielraum für Maschinen und Arbeiter. Da der einzubringende Beton zügig zu erhärten begann, blieben für die Erstellung einer Schicht nur zwei Stunden Zeit, bevor mit der nächsten, oberhalb liegenden begonnen werden musste. Eine Verzögerung beim Einbau hätte sich negativ auf den Verbund der einzelnen Schichten ausgewirkt.

Schleifenförmig ausgelegte Kühlschläuche in den flächenmässig grossen unteren Staumauerbereichen senkten die Temperatur des Betons beim Abbindevorgang. Zu hohe Temperaturen im Kern des Bauteils hätten hohe Temperaturunterschiede zu den aussenliegenden Bereichen gezeitigt und die Gefahr von Rissbildungen erhöht. Auch der Zusatz von Flugasche wirkte sich günstig auf die Temperaturentwicklung des Mauerbetons aus. Ausserdem erhöhte die Beimengung die Fliessfähigkeit und Verdichtbarkeit des Betons. Ein Nebenprodukt aus Verbrennungskraftwerken kommt so noch zu einem positiven Einsatz in der Wasserkraft.

Den Verbund der Betonoberflächen zwischen einzelnen Etappen gewährleistete der Einsatz von Hochdruckwasser. Mit diesem raute man die Oberfläche der bereits vorhandenen Etappe auf, sodass sich der Beton der nächsten Etappe gut verzahnen konnte.

Dichter Boden, partiell abgedichtet

Die Einbindung der Mauer in den Untergrund war etwas aufwendiger als die Oberflächenanpassung der einzelnen Etappen. Solider Fels stand zwar schon in einer Tiefe von etwa 2 m unter der Oberfläche an, allerdings waren im karstfähigen Gestein Klüfte und Störzonen vorhanden. Diese mussten mit einem Spezialbeton, einem sogenannten «dental concrete», zunächst abgedichtet ­werden, bevor anstehende Felsunebenheiten mit Kontaktbeton ausgeglichen wurden. Erst anschliessend kam der eigentliche Massenbeton der Staumauer zum Einsatz.

Durch das untere Drittel der Mauer führt ein Kontrollgang, in dem Messungen zur Bauwerkssicherheit stattfinden. Sickerwassermengen etwa, Mauerverschiebungen, Verkippungen oder Druckmessungen können in diesem überwacht werden. Ein Injektionsschirm, der die Sickerwasserwege im Untergrund der Sperre verlängert, wurde ebenfalls aus dem Kontrollgang heraus verpresst. Dies macht das ganze System wasserundurchlässiger und erhöht die Standfestigkeit der Mauer zusätzlich.

Die bestehende Sohle des Muttsees weist eine praktisch wasserundurchlässige Gesteinsschicht auf. Auf­wen­dige, grossflächige Dichtungsmassnahmen konnte man sich somit ersparen. Die Planungen einer oberfläch­lichen Abdichtung mit Spritzbeton im neuen, vergrösserten Aufstaubereich am wasserseitigen Fuss der Staumauer konnten im Zuge der Bauarbeiten eingestellt werden. Eine detaillierte geologische Abklärung bestätigte nach Freilegung dieses Felsbereichs eine genügende Dichtheit des Areals.

Hochwasser: den Buckel hinunter

Auch die Hochwasserentlastung konnte mit wenig Aufwand bewerkstelligt werden. Über einen abgesenkten Abschnitt der Staumauerkrone gelangen Hochwasserabflüsse in eine Schussrinne auf dem Mauerrücken und in ein Tosbecken am Staumauerfuss. Die Auslegung der Entlastungsanlage setzt sich aus den Hochwasserabflüssen des sehr kleinen Einzugsgebiets des Muttsees und der zusätzlichen maximalen Pumpwassermenge von etwa 145 m3 zusammen. Redundante Seestandsmessungen des unten gelegenen Limmernsees und des Muttsees mit einer automatischen Absicherung im ­Leitsystem schliessen ein Überlaufen aufgrund des Pumpenbetriebs praktisch aus. Dank der felsigen Topo­grafie war ein Ausbau des Gerinnes unterhalb des Tosbeckens verzichtbar. Es konnte in seinem ursprüng­lichen Zustand belassen werden.

Rückgebauter Rekord, versinkende Logistik

Die Materialbewirtschaftung und deren Logistik hing sprichwörtlich an den Bauseilbahnen 1 und 2, die vom Talboden zum Chalchtrittli respektive vom Ochsen­stäfeli am Limmernsee zum Muttsee hinaufführten (vgl. Grafik S. 34). Mit Fertigstellung der Baumassnahmen wurden sie zwar rückgebaut, jedoch hält die untere Bauseilbahn 1 noch immer einen Weltrekord: Mit ihrer Nutzlast bis zu 40 t für Sonderlasten war sie die grösste Materialseilbahn der Welt. Bei vier möglichen Fahrten pro Stunde war sie enorm ausgelastet. Sämtliche Güter für den Staumauerbau und grosse Teile für den Untertagebau wie Zement, Gestein, Stahl, Maschinen und auch die Arbeitskräfte wurden mit den Seilbahnen zu ihrem ­Bestimmungsort hinaufbefördert. Allein für den ­Staumauerbau mussten etwa 100 000 t Zement und knapp 500 000 t Gestein die Luftreise antreten.

Die für die Materialien nötigen Deponie- und Aufbereitungsflächen lagen grösstenteils auf der Wasserseite der Staumauer. Sie versanken nach Rückbau des Betonwerks und der Gesteinsaufbereitungsanlagen zusammen mit den meisten Baustellenzufahrten unter dem Wasserspiegel des Sees – auch dies eine Form des Landschaftsschutzes.

Was für das Auge sichtbar bleibt, ist dem einen ein Dorn in selbigem, dem anderen, gemessen an den umgebenden Dimensionen der Glarner Alpen, ein Strich in der Landschaft – oder aber ein Diadem, das den Edelstein des Muttsees und sein nun veredeltes Elixier einfasst. Je nach Betrachtungsweise.
 

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