Tra­gen­des Po­ten­zi­al

Die Tragkonstruktion des Toni-Areals

Das Betonskelett der Toni-Molkerei blieb erhalten, weil bereits bei seiner Erstellung ein enormes Anpassungspotenzial einkalkuliert wurde. Die Ingenieure von Walt + Galmarini haben diese Stärke in die Neunutzung einbezogen.

Publikationsdatum
24-09-2014
Revision
19-05-2017

Die Toni-Molkerei in Zürich erfuhr eine radikale Erneuerung. Bis auf den 40 Jahre alten Rohbau wurde das ganze Bauwerk rückgebaut. Dabei wurde die Umnutzung des Areals im Gestaltungsplan von 2003 festgehalten. Studien in den Jahren 2001 bis 2005 belegten die Machbarkeit von Nutzungsänderungen der damals 30-jährigen Liegenschaft und zeigten auf, dass ein totaler Rückbau weder ökonomisch, ökologisch noch städtebaulich sinnvoll sei. Zum einen hätte er viel graue Energie freigesetzt. Allein die Bodenplatte besteht aus ein bis zwei Meter dickem Beton, insgesamt wurden 12.000t Stahl verbaut.

Zum anderen liegt die Fabrik tiefer, als es das Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft heute genehmigen würde, denn seit dem Bau ist der Grundwasserspiegel um 1 bis 1.5m gestiegen. Bei einem Neubau hätten sich die Planenden an die höher liegende Kote halten müssen, womit man Nutzfläche verloren hätte. Gegen einen Rückbau sprach auch die gut erhaltene Tragkonstruktion, die grossräumig ausgelegt und für hohe Lasten bemessen ist. Das ermöglicht eine grosse Flexibilität und verschiedene Nutzungen; die Grundsteine für das Projekt.

Das Tragwerk, das Dialma Jakob Bänziger 1973 plante und ausführen liess, besteht aus vier Haupttrakten: das Kesselhaus mit Trockenwerk und die markante Rampe an den beiden Enden des Gebäudes sowie der Fabrikationstrakt und das Kühllager als Flachbau dazwischen. Drei quer verlaufende Dilatationsfugen gliedern das Bauwerk in die vier Hauptabschnitte. Jeweils zwei Treppenkerne und eine Windscheibe stabilisieren jeden Trakt.

Der Skelettbau im Flachbau ist auf einem Raster von 10x10m Abmessung aufgebaut. Die bis zu 7.28m hohen und schlanken Stützen (=36–15) sind als Pendelstützen ausgebildet. Die Flachdecken sind 52 bis 74cm dick und nicht vorgespannt, da es möglich sein sollte, nachträglich grosszügige Aussparungen aus der Stahlbetondecke auszuschneiden. Darin liegt das dem Projekt eigene Veränderungspotenzia.

Das Tragwerk: vorausschauend geplant

Die Tragkonstruktion war eine ausgeprägte Stärke des Bauwerks, die die Ingenieure von Walt + Galmarini für den Umbau zu nutzen wussten. Der Bestand war in den Ausführungsplänen ersichtlich, die alle im Archiv des Ingenieurbüros Bänziger Partner vorhanden sind. «Wir scannten über 200 Schalungspläne und 1000 Dokumente ein und zeichneten alles neu», berichtete Gregorij Meleshko, Projektleiter bei Walt + Galmarini. Die Ingenieure bauten das Projekt auf einem digitalisierten Zustand der damaligen Planung auf. Abweichungen des Bestands von den Plänen nahm ein Geometer auf; ebenfalls digitalisiert bot sich eine komfortable Situation für die Planung und die Ausführung des Umbaus. Der Aufwand war gross, doch das Risiko für Unvorhergesehenes in der Ausführung verkleinerte sich dadurch. Ingenieure und Architekten liessen sich zusammen auf den Bestand, d. h. den bestehenden Rohbau ein, und in einem intensiven iterativen Prozess kristallisierten sich die Grundrisse heraus und insbesondere die markanten Durchstösse für die Lichthöfe.

Den Schnittkraftlinien folgend

Die Neubaumassnahmen passten die Ingenieure den Erkenntnissen an, die sie aus der Bestandsanalyse gewonnen hatten. Dabei setzten sie tragwerkspezifische Regeln virtuos in die Architektur um. Die Lichthöfe stehen exemplarisch dafür: Ihre Platzierungen sind auf die statischen Rahmenbedingungen abgestimmt, damit möglichst wenige kostspielige Tragwerksverstärkungen vorgenommen werden mussten.

Bänziger hatte sein Tragwerk für nachträgliche Öffnungen von 7x7m konzipiert – aus betrieblichen Gründen war es notwendig, die Maschinerie für den Milchverarbeitungsprozess auswechseln zu können. Bänziger legte deshalb die schlaffe Bewehrung in 3m breite Streifen. Für die Platzierung der Perforierungen hielten sich die Ingenieure an diese planerisch dokumentierten Angaben. Sie reizten das statische Konzept allerdings weiter aus, um grössere Ausschnitte zu ermöglichen: Sie schnitten die Stahlbetondecke dort, wo die Momentenschnittkraftlinie null ist.

Folgt man diesem Prinzip, sind auch bei grösseren Öffnungen als 7x7m in der Regel keine Verstärkungen notwendig, denn die Beanspruchung der Decke bleibt gleich. So gelang eine Symbiose zwischen dem architektonischen Raumprogramm und dem statischen Kräftefluss: Licht gelangt bis in den Kern des 90m tiefen Gebäudes.

Konzept der Gebäudestabilität erhalten

Auch das Konzept der Gebäudestabilität ist erhalten. Nach wie vor stabilisieren dieselben Tragelemente das Bauwerk – auch bei aussergewöhnlichen Ereignissen wie einem Erdbeben. Dank dem Erdbebenkonzept waren alle notwendigen Elemente da. Allerdings mussten einzelne Bauteile verstärkt werden, denn die auf damalige Anforderungen ausgelegte Tragkonstruktion genügte den aktuellen Normen nicht mehr. Die rechnerisch aufzubringenden Einwirkungen sind seit der Erstellung des Gebäudes um den Faktor vier angestiegen. Die Neunutzung als Schule bedingt für die Dimensionierung zudem eine höhere Gebäudeklasse; die Bauwerksklasse II. Das erhöht die rechnerischen Einwirkungen nochmals um 20%.

Um die Flexibilität des Grundrisses zu bewahren, verstärkten die Ingenieure möglichst nur den Bestand, indem sie bestehende Scheiben aufdoppelten. Wo zusätzliche Tragelemente für die horizontale Lastabtragung notwendig waren, nutzten sie aus dem architektonischen Konzept notwendige Elemente wie die neuen Fluchttreppenhäuser. In einzelnen Fällen erneuerte man die Konstruktion ganz, um die Tragsicherheit zu erreichen. So entkernte man zwei Treppenhäuser, und zwei weitere trug man ab, um sie entsprechend dimensioniert neu aufzubauen.

Für die Lastabtragung im Erdbebenfall fehlte im Untergeschoss die sogenannte «steife Kiste», worin die Erdbebenwände geschosshoch eingespannt werden sollten. Um die Stützenreihe im Fassadenbereich und damit den Lichteinfall beibehalten zu können, verlegte man die «steife Kiste» nach innen. Die Ingenieure nutzten notwendige Wände im Kernbereich der untersten Geschosse und führten sie in Stahlbeton statt in Kalksandsteinmauerwerk aus. 

Kompatibilität zwischen Alt und Neu

Trotz den guten Voraussetzungen, die der Rohbau für das neue statische Konzept mitbrachte, waren gewichtige Anpassungen nötig. Die Neunutzung bedingte neue Zwischendecken, und der neue 22-geschossige Turm, dessen oberste zehn Etagen als Wohnungen genutzt werden, erforderte Verstärkungen der Rahmenkonstruktion und der Bodenplatten.

Bänziger hatte Massnahmen eingeplant, um nachträglich Zwischendecken einbauen zu können. Wertvoll waren die eingerechneten Lasten, die aus den 2t/m2 Nutzlast (20kN/m2) und den Lastreserven bestanden. Denn es waren fast 80.000m2 neue Flächen notwendig. Mit dem leichten (ca. 350kg/m2) und bewährten Deckensystem aus einer Stahl-Beton-Verbundkonstruktion war es möglich, die ursprünglichen 10m Spannweite einzuhalten, ohne zusätzliches Eigengewicht auf das Tragsystem.

Auf der Höhe der Bodenplatte erreichten die Ingenieure bei den Stützen zu 80% einen Lastausgleich. Verstärkungen im Flachfundament waren deshalb kaum erforderlich. Flachdecken wären gegenüber dem gewählten Stabtragwerk in Detailkonstruktionen wie den Anschlüssen von Brandschutzwänden einfacher zu handhaben gewesen, doch hätten sie die Tragfähigkeit der Bodenplatte überschritten.

Bei den restlichen 20% wären massive Durchstanzverstärkungen notwendig gewesen. Mit einem Modell, das bestehenden Bauten zugrunde liegt (die aktuelle Normenreihe 269 gab es noch nicht), konnten die Ingenieure mit Unterstützung der ETH nachweisen, dass nur etwa 10 von über 100 Stützen verstärkt werden mussten. Für diese Fälle doppelte man die Bodenplatte auf und presste Mikropfähle kontrolliert in den Untergrund. 

Es war nicht einfach, alle Verstärkungen in den Bestand zu integrieren, denn Alt und Neu waren nicht kompatibel. Die Geilinger-Stahlpilze in den Stahlbetondecken zum Beispiel genügten gegen Durchstanzen nicht mehr. Durchgebohrte Gewindestangen verstärken die Decken im Stützenbereich. Sie sind vorgespannt und ausinjiziert, damit sie für die Lastabtragung wirksam sind. Ebenso galt es, die Kompatibilität zwischen alten und neuen Stützenkonstruktionen im aufgestockten Trockenwerk zu beurteilen. Denn hier waren infolge der zusätzlichen Geschosse Verstärkungen erforderlich.

Der neue Beton schwindet, der bestehende nicht mehr. So entsteht zwischen Stützenkopf und Decke eine klaffende Fuge, und die Last wird nicht in die neue Stütze abgetragen, sondern nur in die bestehende; es droht Versagen. Flachpressen schlossen die Schwindfuge und spannten die neuen Stützen vertikal vor. Etappenweise wurde die Verkürzung infolge Schwinden und Kriechen kompensiert und das Zusatzgewicht der Aufstockung ausgeglichen. Im letzten Pressgang ersetzte man das Wasser mit Zementmilch. Nur so konnten auch diese neu integrierten, sicheren Tragelemente wirksam werden.

Aufstockung auf Abfangtisch

Nicht nur die Neunutzung, auch die Aufstockung des Trockenwerks erforderte eine Angleichung der Tragkonstruktion. Im bestehenden Trockenhaus ist das Tragwerk auf einem Industrieraster von 5x12.5m aufgebaut; alle 5m ist ein Rahmen angeordnet. Diese Struktur ist für den Wohnungsbau, der oben aufgestockt wurde, nicht optimal – dafür sollte ein Raster von 6.5x6.5m erreicht werden. Eine Abfangdecke aus einem Trägerrost aus Stahl bildet den Wechsel.

Damit das Geschoss mit der Abfangdecke gut nutzbar blieb – es ist ein Dozentenfoyer –, durfte die Tragwerkshöhe des Rosts 1.5m nicht überschreiten. Dies erforderte auch in diesem Fall einen geschickten Umgang mit den Kräften. Die Beine des Abfangtischs stehen schräg und verkürzen die Spannweite des Abfangträgers – die Tischplatte sozusagen. Die Achslinien der Stützen sind so gestellt, dass das Stützmoment des Abfangträgers gleich dem Feldmoment ist. Dadurch ist das maximale Moment kleiner als bei einem einfachen Balken, weshalb der Träger eine geringere statische Höhe benötigt. Die aufgrund der schräg gestellten Beine entstehenden Zugkräfte übernehmen ein vorgespanntes Zugband aus einem Walzprofil HEB 360 und zwei Zugstangen d=50mm. Der Kräftefluss ist in sich geschlossen, und die Stützenfüsse konnten unten einfach auf die neuen Betonstützen abgestellt werden.

Der Abfangtisch mit seiner schieren Grösse verwischt die Dimensionen des Gebäudes – man verliert die Massstäblichkeit. Er zeigt, dass Konstruieren im Bestand eine grosse Herausforderung ist, die zuweilen Neubaukonstruktionen in den Hintergrund drängt. So wurden die Konzertsäle auf dem Dach für 400 Personen mit einer 20m weit gespannten Stahlverbundkonstruktion zu Nebenbaustellen.

Die gesamte Transformation von der Milchverarbeitungs- zur Kunststätte basiert entscheidend auf der Anpassungsfähigkeit des bestehenden Rohbaus. Hier bot sich mit dem gegebenen Potenzial und den archivierten Grundlagen eine feudale Situation. Dabei von Glück zu sprechen, wäre zu bequem. Denn der Grundstein liegt in einem wertvollen Prinzip: ein einfaches, aber intelligentes Tragwerk zu erstellen, das mit verschiedenen Nutzungs- und Architekturformen kompatibel ist. Ein weitsichtiger Gedanke, der künftig mit dem Anwachsen der Umbauten noch bedeutender wird.

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