«Die Schweiz ist ei­ne Wil­lens­na­ti­on»

Warum fällt es vielen Menschen so schwer, den Klimawandel als ernste Bedrohung wahrzunehmen? Und wo steht die Schweiz nach dem gescheiterten CO2-Gesetz? Antworten darauf gibt David N. Bresch, Professor für Wetter- und Klimarisiken ETH Zürich / MeteoSchweiz, im Interview.

Publikationsdatum
02-09-2021

SIA: Herr Bresch, Unwetter, Überschwemmungen – fällt in der Schweiz zukünftig im Sommer entweder zu viel oder gar kein Regen vom Himmel?

David Bresch: Der Trend geht zu heisseren Sommern, zu längeren Trockenperioden und zu extremeren Niederschlägen, wie wir das in den Klimaszenarien CH2018 dargelegt haben. Wenn sich ein komplexes System wie das Klima verändert, zeigt sich das auch daran, dass die Veränderung von Jahr zu Jahr grösser wird, bevor sich das System auf einem relativ stabilen Niveau erneut einspielt – allerdings nur, falls wir das Ziel «Netto-Null-Emissionen» bis 2050 erreichen. Ein äusserst schneereicher Winter oder ein abnormal kühler Sommer ist auch ein Zeichen der Veränderung.

Warum ist es wichtig, die globale Erwärmung auf 1.5 °C zu beschränken?

Wir wissen nicht genau, bei welcher Temperatur es keine Korallenriffe mehr gibt, wann der Golfstrom kollabiert oder  wann der Permafrost so stark taut, dass das freigesetzte Methan die Erderwärmung um ein Viel­faches beschleunigt. Wir dürfen bei diesen Teilsystemen des Klimas nicht die Grenzen ausloten. Das Risiko ist zu gross. Global 1.5 °C Erwärmung gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter scheinen tolerierbar zu sein. Das Pariser Abkommen legt eine Grenze von deutlich unter 2 °C fest. Global 2 °C mehr heisst für die Schweiz plus 4 °C, weil sie die Temperaturzunahme überdurchschnittlich spürt.

1.5 °C sind für die Schweiz also eigentlich schon fast zu viel …

Wenn man der Erde Sorge tragen möchte, hätte man viel früher das Ruder herumreissen müssen. Mit Netto-Null bis 2050 erreichen wir das Pariser Klimaziel zurzeit mit einer Wahrscheinlichkeit von um die 60 Prozent. Im Umgang mit Covid-19 waren wir in keiner Weise bereit, derart hoch zu pokern. Aber wenn es um den Fortbestand der Menschheit unter klimatisch tragbaren Be­dingungen geht, scheinen wir bereit zu sein, ein solches Risiko ein­zugehen.

Warum?

Obwohl wir bereits Auswirkungen des Klimawandels spüren, dürfte die Zeitskala wirklich einschneidender Verän­derungen zu gross sein. Als die Pandemie in China ihren Lauf nahm, nahmen wir die Bedrohung nicht ernst. Es hat mit Bergamo einen stark betroffenen Ort in unserer Nähe gebraucht, um uns wachzurütteln. Beim Klimawandel ist es ebenso. Er ist bei vielen immer noch nicht auf der Türschwelle angekommen und zeitlich zu wenig fassbar.

Reichen die letzten verheerenden Naturereignisse in Europa nicht?

Solche Ereignisse können Denkprozesse anstossen – im Konjunktiv. Der Mensch lernt langsam, im Kollektiv manchmal kaum. Man hört immer noch: «Es ist bei denen passiert, nicht bei uns.» Wer den Klimawandel nicht zur Kenntnis nehmen will, weist das Problem von sich, auch, weil damit umzugehen herausfordernd sein kann. Durchaus im Geist des Schweizer Philologen Karl Schmid könnte man also sagen, dass wir es uns im Kleinstaat recht behaglich eingerichtet haben, wo uns eigentlich Unbehagen beschleichen sollte.

Wie steht es um dieses Behagen nach der Ablehnung des CO2-Gesetzes?

Das war ein Fehlentscheid aus Bequemlichkeit und kleingeistigen Portemonnaie-Überlegungen. Die eigentliche Tragik ist die Ablehnung auf dem Land, weil die Auswirkungen des Klimawandels dort vermutlich stärker ausfallen werden als in den Städten: In Letzteren wird es zwar heisser, die Landwirtschaft jedoch wird teilweise gar infrage gestellt werden. Wir verlieren wertvolle Zeit in Bezug auf die Klimaanpassung unseres Agrarsystems. Auch der Mittelstand und die KMU ver­lieren. Das CO2-Gesetz hätte es den KMU erleichtert, zukunftsträchtige und finanziell lukrative An­gebote zu entwickeln – nicht zuletzt auch für den Export.

Wie überzeugt man die Zögernden?

Handeln wird nicht primär durch Einsicht getrieben. Beispielsweise findet der Wechsel zum Elektroauto wegen seiner Attraktivität und seines Komforts statt: Es stinkt nicht, macht keinen Lärm, und es ist schnell und günstig aufgeladen. Es braucht also Angebote, die den Wechsel einfach und attraktiv machen. Anstatt nur Brennstoffe mit einer CO2-Abgabe zu belegen, würde eine substanzielle CO2-Abgabe auch auf Treibstoffe zielführende Anreize vermitteln, zumal dies, als Klimadividende rückerstattet, insbesondere denjenigen Geld in die Kasse spülen würde, die wenig CO2 ausstossen.

Das ist politisch schwierig durchzusetzen.

Die Gegner müssten das eigentlich als Chance erkennen. Wir könnten zum Beispiel zukunftsträchtige Verkehrssysteme entwickeln und unsere Ideen ins Ausland verkaufen. Denn unser Wohlstand basiert zu über 70 % auf dem Export.

Die Schweiz hat sich verpflichtet, die Treibhausgasemissionen bis 2030 zu halbieren. Ist das noch zu schaffen?

Die Schweiz ist eine Willensnation. Die Technologien sind da. Sie werden uns nicht retten, aber sie werden zu diesem Ziel hin einen grossen Beitrag leisten. Zusätzlich brauchen wir Verhaltensänderungen wie beispiels­weise das Homeoffice und sollten darüber nachdenken, auf Flüge und Fleisch zumindest teilweise zu verzichten. Auch da würde eine durchgängig erhobene CO2-Abgabe Anreize setzen.

«Klimaschutz» und «Klimaanpassung» werden oft nebeneinandergestellt. Was hat Priorität?

Der Klimaschutz. Ohne ihn erreichen wir Netto-Null bis 2050 nicht, und dann überschreiten wir die Grenzen der möglichen Anpassungen, weil die Eigendynamik des Klimawandels nicht mehr gestoppt werden kann. Das System hat sich bereits verändert, darum müssen wir uns anpassen. Das kann man häufig selbst, indem man zum Beispiel sein Gebäude ertüchtigt. Kurzfristig gesehen ist das eine gute Sache. Aber wer nicht grundlegend in den Klimaschutz investiert, verschärft das Problem weiter.

Ist der Klimawandel eine Chance oder eine Gefahr für die Baubranche?

Die gebaute Umwelt ist der Rahmen, in dem wir uns bewegen und den viele mitgestalten. Wer gestaltet, hat eine Verantwortung – und diese wahrzunehmen ist für Entwickler und Investoren eine Riesenchance, weil sie am Markt mittel- und langfristig nur dann Erfolg haben werden, wenn sie Veränderungen antizipieren, will heissen: klimakompatibel bauen. Als das Minergie-Label lanciert wurde, hielten es einige für einen linksgrünen Scherz. Heute würde niemand mehr nach dem Vor-Minergie-Standard bauen.

Der SIA fordert Netto-Null-Gebäude und -Infrastrukturen. Wie erreichen wir das?

Wer langfristig denkt, will Gebäude entwickeln, unterhalten und betreiben, die einen hohen Wert über die Zeit haben. Solche Gebäude sind klimakompatibel, das heisst, sie erfüllen die Anforderungen an den Klimaschutz und sind bezüglich möglicher Auswirkungen des Klimawandels resilient. Die Nachfrage nach klimakompatiblem Wohn- und Lebensraum wird weiter zunehmen. SIA-Mitglieder unterstützen ihre Bauherrschaften darin, diese Nachfrage zu befriedigen, indem sie die Ziele des SIA für den Ge­bäude- und Infrastrukturpark im Angesicht des Klimawandels verfolgen.

Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 25–26/2021 «Filz und Pilz am Bau».

Themenmonat Klima
Der November 2021 steht beim SIA im Zeichen des «Themenmonats Klima». An mehreren Tagungen und in Lehrgängen werden Massnahmen zum Klimaschutz diskutiert. Weitere Informationen und Anmeldung.

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