Fast wie vom Him­mel ge­fal­len: neue Schul­ge­bäu­de für Genf

Die Stadt Genf begegnet dem zunehmenden Schulraummangel mit mehreren Neubauten. In weniger als vier Jahren sollen unter der Ägide des Büros Pont12 Architectes sechs neue Gebäude an vier Schulstandorten entstehen. Das Tempo ist hoch – zu hoch?

Publikationsdatum
21-05-2024

Die Schülerzahlen in Genf sind in den letzten Jahren angestiegen, im vergangenen Jahr vermeldete die Genfer Tageszeitung Tribune de Genève gar einen Rekord: 82'000 Kinder und Jugendliche starteten nach den Sommerferien in ein neues Schuljahr, 2000 mehr als im Jahr davor. Die Stadt Genf musste auf den zusätzlichen Raumbedarf für Unterricht und Tagesbetreuung reagieren und wünschte sich eine schnelle, aber auch eine gute Lösung. 

Die eilig auf Schulhausparkplätzen installierten Container sollten der Vergangenheit angehören. Stattdessen setzte die Stadt auf weitsichtigere Lösungen mit Provisorien, die den neuen Anforderungen an die Energieeffizienz gerecht werden, sich kohärent in den Bestand einfügen und dadurch auch auf bessere Akzeptanz bei der Bevölkerung stossen.

Mit diesem Ziel führte die Stadt bereits 2021 eine Ausschreibung im offenen Verfahren durch. Schliesslich wurden das Büro Pont12 Architectes mit der Planung und die Holzbauunternehmung Erne mit der Umsetzung betraut. Der Auftrag lautete, innerhalb von drei Jahren vier modulare Schulgebäude mit einer auf zehn Jahre befristeten Baubewilligung zu realisieren. Die ersten zwei Gebäude wurden im Sommer 2023 aus dem Boden gestampft, die anderen beiden befinden sich zurzeit im Bau.

Optimierte Vorfertigung

«Aus dem Boden stampfen» ist allerdings nicht die passende Metapher für dieses Projekt, schon eher könnte man sagen, dass die neuen Schulgebäude vom Himmel gefallen sind. Um die Bauzeit möglichst kurz zu halten, entschied sich die Stadt nämlich für ein dreidimensional vorgefertigtes System. Die auf Holzbau spezialisierte Generalunternehmung Erne hat die Module vom Zuschnitt bis zur Detailgestaltung nach den vorgegebenen Kriterien entwickelt und umgesetzt. 

Die Modulbauweise hat den Vorteil, dass ein Teil der Bauten witterungsunabhängig im Werk erstellt werden kann. Das Unternehmen hat die optimalen Abmessungen (Modul-Typ Schulzimmer: 2.90 x 8.60 m) und die Konstruktionsweise der Module definiert. Das Konstruktionsprinzip beruht auf Längsträgern aus Holz und Holz-Beton-Verbunddecken.

Alle Module wurden in der Werkstatt des Holzbauers Erne in Stein (AG) vorgefertigt. Das Unternehmen verfügt über ausreichend grosse Produktionshallen, um die Module einschliesslich der Fenster am Stück in der Halle zu fertigen. Fertige Elemente werden sofort zur Montage auf die Baustelle transportiert, um den Platz in der Werkstatt wieder freizugeben. Selbst die Sanitäranlagen und Radiatoren werden im Werk installiert und anschliessend auf der Baustelle angeschlossen.

Das Büro Pont12 Architectes habe sich bei diesem Projekt zum ersten Mal mit der dreidimensionalen Vorfertigung auseinandergesetzt, erklärt die Projektleiterin Noémie Wesolowski bei der Besichtigung der fertigen Schulgebäude. Das erste steht im Parc Trembley inmitten von majestätischen Bäumen, durch deren Äste bei unserem Besuch die Sonnenstrahlen scheinen.

Hier zeigt sich, dass die Arbeit des Architektenteams von Pont12 weit über das Entwerfen eines ästhetischen Erscheinungsbildes der Module hinausgeht: Der eigentliche Mehrwert der architektonischen Intervention liegt in der scharfsinnigen Lesart der Standorte.

Trembley – sich in den Kontext einfügen

Die Schulanlage beim Parc Trembley im Genfer Quartier Le Petit-Saconnex wurde 1950 eröffnet. Die vom Zürcher Architekten Roland Rohn entworfenen langen, niedrigen und rechtwinklig miteinander verbundenen Bauten waren die ersten Genfer Schulgebäude im Pavillonstil. Sie entstanden im unteren Teil eines Grundstücks, das die Stadt in den 1930er-Jahren erworben hatte.

Im östlichen Teil der Anlage, beim bestehenden Kindergarten, fügt sich nun das Projekt von Pont12 Architectes ein. Der bestehende gedeckte Pausenplatz verläuft parallel zur Strasse und bildet die Längsverbindung zwischen den rechtwinklig daran angeschlossenen Gebäuden. Die vorgefertigten Module wurden nach demselben Prinzip angeordnet und zwischen den Bäumen auf Punktfundamenten (Krinner-Schraubfundamente) montiert, um eine natürliche Belüftung zu gewährleisten. Der erste der beiden Neubauten steht zwischen zwei bestehenden Pavillons und beherbergt einen Speisesaal mit 90 Plätzen. Im zweiten, der sich am Ende des verlängerten Pausenplatzes anfügt, sind auf zwei Geschossen elf Schulzimmer und ein Lehrpersonenzimmer untergebracht.

Der Grundriss dieses zweiten Gebäudes besteht aus zwei versetzt angeordneten Modulen. Die vertikale Erschliessung befindet sich in der Verlängerung des gedeckten Pausenplatzes im Zentrum der beiden in Z-Form angeordneten Module. Um die Normen für hindernisfreies Bauen zu erfüllen, wurde in Verbindung mit dem Sanitärkern ein Personenaufzug installiert. Das Projekt trägt kein Label, erfüllt aber die Anforderungen der kantonalen Kategorie «THPE» für Gebäude mit sehr hoher Energieeffizienz.

Da es sich um Provisorien handelt, wurden einige Normabweichungen bewilligt, um die Volumen und damit die Kosten möglichst gering zu halten. Bei der räumlichen Qualität und der Atmosphäre wurden jedoch keine Zugeständnisse gemacht. So messen die Schulzimmer nur 70 m2 statt der in Genf vorgeschriebenen 80 m2. Grosszügige Wandschränke und -regale, die den Lehrpersonen die Unterrichtsorganisation erleichtern, machen dies aber wieder wett. 

Die geringere Deckenhöhe wird optisch durch raumhohe Fenster ausgeglichen, die jeweils aus einer Festverglasung und einer mit senkrechten Stäben gesicherten Fenstertür bestehen. Die Fenster geben den Blick auf die direkt vor den Fassaden wachsende Vegetation frei. Im Innern sorgen Holzflächen für eine warme Atmosphäre und dienen als Pinnwände für die Zeichnungen der Kinder.

Les Allières – arbeiten auf dem Hochplateau

Die Schulanlage Les Allières befindet sich auf der anderen Seite der Stadt im Quartier Les Eaux-Vives. Dieses Schulzentrum für alle Klassenstufen wurde in den 1970er-Jahren auf einem verhältnismässig kleinen Areal erstellt. Der massig wirkende Bau aus vorgefertigtem Beton bot nicht mehr genügend Platz für alle Schülerinnen und Schüler. 

Die sechs zusätzlichen Klassenzimmer, die hier seit Schuljahresbeginn 2023 entstanden sind, wurden auf dem Dach des Hauptgebäudes erstellt, um den knappen Aussenraum nicht noch weiter zu beschränken. Noémie Wesolowski möchte aber nicht von einer Aufstockung sprechen, sondern von einem «Hochplateau», auf dem die Architekten gearbeitet haben. «Der Zeitplan war sehr eng. Das Ziel war, schnell voranzukommen und den Raumbedarf mit Modulen zu decken. Normalerweise gehen wir sensibler mit dem Bestand um», räumt sie ein.

Tatsächlich haben die Architekten in diesem Fall eher ein Nebeneinander als eine Weiterentwicklung des Bestehenden angestrebt. Trotz dieser Inkongruenz vermag die Erweiterung auf dem von Bäumen eingerahmten Altbau zu faszinieren: Zum neuen Gebäudeteil gelangt man nicht etwa über eine Verlängerung des Treppenhauses, sondern über eine schwindelerregende Aussentreppe aus verzinktem Stahl, die an der Nord-Ost-Fassade entlang bis zu einer hängenden Plattform mit atemberaubender Aussicht über Genf führt. 

Die grau getönten Holzfassaden bilden einen Kontrast zum rauen Beton des Altbaus. Im Innern sorgen dieselben warmen Farben wie in Trembley für eine einladende Atmosphäre. Die Module für Trembley und Les Allières weisen die gleichen Details auf, sind aber anders angeordnet. Es ist erstaunlich, wie mit identischen Modulen so unterschiedliche räumliche Wirkungen erzielt werden können.

Schnell, schnell und immer schneller?

Bis im Sommer 2024 sollen an zwei weiteren Standorten neue Schulgebäude eröffnet werden. Das grössere auf dem Schulareal Vieusseux (elf Schulzimmer, ein Speisesaal, ein Spielzimmer, ein Lehrpersonenzimmer und ein Gruppenraum) und das andere in Les Franchises (zwei Gebäude mit je sechs Zimmern, davon ein Lehrpersonenzimmer).

Noch ehe das Projekt vollendet ist, stellen sich zahlreiche Fragen: Ist es bei den Kosten, die hier deutlich höher ausfallen als in Les Allières und Trembley, wirklich sinnvoll, sich auf «Übergangslösungen» zu beschränken? Wäre es nicht besser, direkt eine dauerhafte Aufstockung zu planen?

Dass immer kürzere Produktionsfristen die Qualität mindern, ist eine Binsenwahrheit. Auch die involvierten Architektinnen und Architekten warnen vor den Grenzen der Beschleunigung. Zwei Schulhäuser in zwei Jahren, das sei wirklich schnell, sagt Noémie Wesolowski, und es könnte dazu führen, dass dieses Tempo für normal gehalten werde. Wenn die Geschwindigkeit dann noch weiter erhöht werde, bringe das einen Berufsstand, der bereits heute stark unter Druck sei, in Bedrängnis.

Die Politikerinnen und Politiker, die die bauliche Nutzung in gewissen Quartieren stetig erweitern, scheinen gerne zu vergessen, dass mehr Bewohnerinnen und Bewohner auch mehr Kinder und mehr Schulraum bedeuten. Das zeugt von einer mangelnden politischen Vision. Die Entscheidung für temporäre Lösungen ist eine Möglichkeit, auf den steigenden Bedarf zu reagieren, ohne wirklich eine Entscheidung zu treffen. Nach zehn Jahren werden dann alle vor vollendete Tatsachen gestellt.

Es fragt sich, ob diese Lösung nicht das Risiko birgt, dass wir die nächsten 50 Jahre mit zu schnell konzipierten Schulprovisorien und mit Zugeständnissen an die Komfortstandards leben müssen, mit Provisorien, die ganz langsam und unbemerkt zu dauerhaften Einrichtungen werden, wie die alten, grünlich verschmutzten Schulcontainer in Trembley.

Vorfabrizierte Schulmodule, Genf

 

Bauherrschaft
Ville de Genève, Direction du patrimoine bâti (DPBA), Département de l’aménagement, des constructions et de la mobilité

 

Architektur
Pont12 architectes, Lausanne

 

Generalunternehmung
Erne Holzbau, Stein AG

 

HLK-Planung
Weinmann Énergies, Echallens VA

 

Ausschreibung
2021

 

Bau
2023

 

Umfang
39 Klassenäquivalente (ohne Spezialzimmer, wie Lehrerzimmer o.ä.)

 

Kosten für alle vier Standorte (BKP 1-4, inkl. Honorare)
31.59 Mio Franken

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