Über der Schnei­se

Der Blick vom Negrellisteg eröffnet Fussgängern eine ganz neue Perspektive auf den Zürcher Hauptbahnhof. Als lang vermisste Verbindung über das Gleisfeld hinweg ist er zugleich ein Raum zwischen zwei lebendigen Quartieren.

Publikationsdatum
23-09-2021

Raus aus dem beengten Raum – schnurgerade über das Gleisfeld und dabei ein Stück Stadt bildend, das sich übergeordnet aus dem dichten Gefüge herauslöst. Der kommunale Richtplan der Stadt sah sie schon lang vor – nach zehn Jahren Planung ist die Verbindung endlich da: der ­Negrellisteg beim Hauptbahnhof Zürich über das breit gefächerte Gleisfeld der SBB. Es trennte bislang, einer Furche gleich, die beiden Stadtkreise 4 und 5 vonein­ander, was besonders für den Langsamverkehr eine Zäsur im Verkehrsnetz bedeutete. Nur der Bahnhof selber und die rund 700 m weiter stadtauswärts liegende Langstrassenunterführung boten in diesem Bereich Verknüpfungsachsen.

Es ist ein städtebaulich bedeutender Ort mit dem denkmalgeschützten Zentralstellwerk von Max Vogt aus dem Jahr 1963 als Identifikationsträger des Quartiers und dem Gleisfeld als Eingangstor zur Wirtschaftshauptstadt der Schweiz. Mit dem Fussgängersteg kommen sich nun zwei Quartiere näher, die sich beide durch ihre bunte Vielfalt auszeichnen – einerseits die neue Europaallee mit Vorzeigeimmobilien der Stadt und der SBB im Kreis 4, andererseits das modernisierte Industriequartier mit seinen dahinter anschliessenden Arbeiterwohnungen im Kreis 5. Es ist eine naheliegende Verbindung zweier rund um die Uhr belebter Stadtkreise und letztlich eine logische Fortsetzung deren struktureller Entwicklungen.

Luftachse nur noch für Fussgänger

Bereits 2011 war nach einem international ausgeschriebenen Wettbewerb ein Entwurf für den Steg prämiert worden. Das Siegerprojekt des britisch-französischen Ingenieur- und Architektenteams Flint & Neill Limited und Explorations Architecture bestand aus einer innovativen und skulpturalen monolithischen Rohrkon­struktion aus Ultrahochleistungs-Faserbeton. Sie hätte spektakulär stützenlos über das Gleisfeld spannen ­sollen. Allerdings wäre die Verbindung – ausgelegt für Fussgänger und Velofahrer – mit kalkulierten Kosten von 30 Millionen Franken sehr teuer geworden.

Im Lauf der Abwägungen der Verhältnismässigkeit, die sich über sechs Jahre hinzogen, scheiterte der Entwurf, und die Bauherrschaft beschloss, die Rahmenbedingungen neu zu definieren. Im Oktober 2016 schrieb die SBB als federführende Bauherrschaft zusammen mit der Stadt erneut einen Wettbewerb aus – dieses Mal einen einstufigen Studienauftrag im selektiven Ver­fahren mittels Präqualifikation. Eine Bestätigung, dass an dieser Stelle tatsächlich eine Verbindung nötig ist, die adäquat auf die rasante Stadtentwicklung rund um den Zürcher Hauptbahnhof reagiert.

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Im Unterschied zur vorangegangenen Studie war der Steg aber nur noch als Fussgängerverbindung auszulegen. Die umfangreichen und platzfordernden Brückenrampen entfielen, und das Projekt wurde mit 11 Millionen Franken wesentlich günstiger. Diese Idee findet ihre Berechtigung, wenn der städtebauliche Plan umgesetzt wird, der die Verbreiterung der Langstras­senunterführung und die Umnutzung des bestehenden Stadttunnels unter dem Hauptbahnhof als Velotunnel zwischen Sihlquai und Kasernenstrasse vorsieht.

Die Stärkung dieser beiden benachbarten Achsen für den Veloverkehr erlaubt das Ausklammern des Negrellistegs aus dem Netz der Velowege – vor allem, liess man ­wissen, zugunsten der Aufenthaltsqualität am Gustav-Gull-Platz vor dem südöstlichen Brückenkopf, wo die Rampe viel Platz gebraucht hätte und der Freiraum infolge der Neubauten bereits eng geworden ist.

Eine gekonnt schlichte Geste

Zur Weiterbearbeitung empfohlen wurde Ende Sep­tember 2017 das Projekt «96» der ARGE Negrellisteg mit den Ingenieuren von Conzett Bronzini Partner und ­Diggelmann + Partner sowie den 10 : 8 Architekten. Die Jury war vor allem von der Formgebung des schlanken und eleganten Bauwerks überzeugt. Funktional sei der Steg und fast pragmatisch konzipiert. Die Umsetzung erfolgte schliesslich ab dem 3. Oktober 2019, und nach nur 18 Monaten Bauzeit ist der Negrellisteg seit März 2021 der Öffentlichkeit zugänglich.

Pläne und Visualisierungen der rangierten Projekte finden Sie hier.

«96» – eine Anspielung auf die Grundrisse der Treppenauf- und -abgänge – bettet sich in der gebauten Realität als ein durchlaufendes und schlankes Band in den städtischen Kontext, als schlichte und gelungene Geste mit grosser Wirkung. Denn mit der Verbindung über dem Gleisfeld tut sich eine bemerkenswerte Ebene im öffent­lichen Raum auf, die bislang unzugänglich brachlag. Von dieser zweiten Ebene aus eröffnen sich neue Blick­winkel in und auf den Stadtraum. So ver­bindet die ­Brücke letztlich nicht nur einfach zwei ­Quartiere miteinander, sondern erschliesst zugleich auch einen ­bislang ge­miedenen urbanen Raum – das Gleisfeld – und wertet diesen zum Blickfang auf.

Dem Brückenbauwerk liegt an sich ein durchaus konventionelles Tragsystem zugrunde. Die Raffinesse liegt im statischen System – also in den Spannweiten und der Platzierung der Auflager: Die vier paarweise an­geordneten Stützen sind auf den bestehenden Wänden der Zufahrtsrampen der unterirdischen Tiefbahnhöfe Museumstrasse und Löwenstrasse platziert. Die Kon­struktion wirkt, als sei der Steg bereits mit der Konzeption der Tiefbahnhöfe angedacht worden. Die Auf- und Abgänge sind selbsttragende Spiralen, die sich zum Boden hin verbreitern und um die runden Lift­türme an den Brückenenden herumführen. Der leicht überhöhte Steg selbst scheint sich vom Gleisfeld ab­zuheben und gibt den Zügen optisch Raum.

Bereits im Jurybericht stand: «Durch die minimal beanspruchte Bodenfläche fügen sich die Ankunftspunkte wohltuend zurückhaltend in den räumlich bereits stark beanspruchten Stadtraum ein. Der Freiraum wird minimal besetzt und ermöglicht eine maximale Durchwegung.» Dies bestätigt sich heute mit dem umgesetzten, gut frequentierten Bauwerk: Den kompakten und dennoch grosszügigen Treppenaufgängen nahe dem Gleisfeld reicht ein Platz von nur 12 × 12 m aus. Das hilft, um die dicht bebaute Situation nicht zu verstellen und den Stadtraum zwischen den hochgezogenen Neubauten als Platz ­freizuspielen. Es ist ein sensibilisierter Umgang mit den bestehenden Gegebenheiten. Ein Wer­muts­tropfen ist jedoch, dass den Velofahrern dieser neue Ausblick verwehrt bleibt – ausser sie steigen vom ­Fahrrad und nutzen die Überführung trotzdem.

Gestalterisch und statisch ein Band

Entsprechend der Formgebung als durchgehendes Band von der ersten Stufe über den eigentlichen Steg bis hin zur letzten Stufe haben die Ingenieure das Bauwerk als Integralbrücke entwickelt: Weder an den Widerlagern noch an den Pfeilerköpfen gefugt, ist der Überbau über die gesamte Brückenlänge durchgehend ausgebildet. Einzig bei den Lifttürmen stützt sich der Stegträger auf Topflager, sodass an dieser Stelle eine Bewegungsfuge zwischen Brücke und Liftkonstruktion entsteht.

Mit diesen beiden Endauflagern und den vier Stützen – sie leiten die Vertikalkräfte ab und stabilisieren die Brücke in Längs- und Querrichtung – ergibt sich ein fünffeldriger, rund 160 m langer Durchlaufträger mit drei längeren und zwei kurzen Spannweiten von 26–11–78–11–35 m zuzüglich der gewundenen Treppenrampen von 52 m (29 m + 23 m) beidseits. Temperaturbedingte Verformungen werden von den Treppenschlaufen an beiden Enden aufgenommen. Sie sind nachgiebig und verhindern somit Zwängungen im Tragwerk. Dieses ist ausserdem statisch so ausgelegt, dass, selbst wenn einer der Pfeiler im Fall eines Zuganpralls ausfiele, es nicht zu einem progressiven Einsturz käme, sondern nur zu einer übermässigen Verformung.

Das Bauwerk ist in Stahl gefertigt. Der Überbau besteht aus einem schmalen, mit Schotten ausgesteiften Stahlhohlkasten mit variabler Höhe, beidseitig aus­kragenden Querrippen und darauf liegender Fahrbahnplatte – orthotrop ausgebildet. Mit dieser Wirbelsäule ergibt sich eine nutzbare Breite von 4.10 m; bei den Treppenläufen beträgt sie zwischen 2.50 m und 3.50 m. Die Querschnittshöhe des 1.20 m breiten Hohlkastens nimmt von den Treppenaufgängen bis zur Brückenmitte mit einer durchschnittlichen Neigung von 2 % von 700 mm im Randbereich auf 1600 mm in der Brückenmitte zu und bildet eine leicht nach oben gewölbte Gehwegfläche. Die Untersicht des mittig im Querschnitt angeordneten Trägers liegt 8.40 m über der Schienen­oberkante des Gleisfelds. Bei einer Trägerhöhe von 1.10 m bis 1.60 m in der Hauptspannweite von 78 m ist die Stahlkonstruktion mit h/l = 1/49 sehr schlank.

Weil die kurzen Spannweiten bei den Doppelstützen eine gewisse Einspannung des Stegträgers erzeugen und so das Hauptfeld entlasten, verteilen sich die Schnittkraftlinien effizienter. Diese Teileinspannung im Stützenpaar wirkt sich insbesondere auf das Schwingungsverhalten positiv aus. Die zweite vertikale Eigenfrequenz liegt mit etwa 2.7 Hz aber trotzdem im kritischen Bereich. Während sechs Betriebsmonaten wurden die Schwingungen gemessen und dokumentiert (Monitoring). Es hat sich gezeigt, dass die Brücke trotz grosser Schlankheit die Gebrauchstauglichkeit ohne Schwingungstilger vollumfänglich erfüllt.

Montage in urbanen Zwischenräumen

Der städtische Kontext und der Zugverkehr bedingten einen raumsparenden und vom Bahnbetrieb möglichst unabhängigen Ablauf. Erstellt wurde die Kon­struktion über dem hochfrequentierten Gleisfeld – 720 000 Züge waren es laut SBB 2020 – daher im Taktschiebeverfahren. Fünf etwa 30 m lange und vorfabrizierte Teilstücke wurden mit einem Kran auf die Vorschubschienen eingehoben. Die Länge der Segmente war aufgrund der Platzverhältnisse am Installationsort an der Europa­allee beschränkt.

Jeweils nachts und unter laufendem Bahnbetrieb wurden sie in fünf Etappen um jeweils 30 m über das Gleisfeld eingeschoben. Dafür waren mehrere provisorische Abstützungen im und um das Gleisfeld notwendig. Zwischen den Einschubetappen wurde jeweils ein weiteres Segment an den bereits eingeschobenen Brückenkörper angeschweisst. Nach Abschluss des Einschubs liess man die Brücke auf die vorgängig montierten Stützen absenken und mit diesen biegesteif verschweissen. Nötige Sperrungen im Schnabelbereich des Vorschubgerüsts mussten beantragt werden, beschränkten sich aber auf das betroffene Gleisfeld. Zu Verspätungen oder Zugausfällen kam es nicht.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 29/2021 «Lebensadern über den Gleisen».

Bauherrschaft: SBB Immobilien, Stadt Zürich, Tiefbauamt

 

Brückenbau/Architektur: ARGE Negrellisteg: Conzett Bronzini Partner, Chur; Diggelmann + Partner, Bern; 10 : 8 Architekten, Zürich

 

Stahlbauunternehmung: Officine Ghidoni, Riazzino

 

Korrosionsschutz: Marty, Zürich

 

Tragsystem: Mittiger Hohlkastenträger mit seitlichen Konsolen (Brücke), einseitiger Hohlkastenträger mit seitlicher Konsole (Treppen)

 

Stahlsorten: Baustahl S 355 J2: Brückenkörper, Stützen, Hohlkasten Treppen und Lifttürme; Edelstahl (Werkstoff-Nr. 1.4404): Randborde Brücke und Treppen, Treppenstufen, Stützenfüsse und Abwurfschutz

 

Tonnage: Baustahl S 355 J2: ca. 360 t, Edelstahl (Werkstoff-Nr. 1.4404): ca. 32 t

 

Baukosten: 11 Mio. Fr., hälftig von SBB und Stadt Zürich getragen

 

Bauzeit: November 2019 bis März 2021

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