Mit Schnee ge­gen den Glet­scher­schwund

Die Klimaerwärmung lässt Gletscher schmelzen und verändert die alpine Landschaft. Eine Ausstellung in der Talstation der Diavolezza-Seilbahn lässt die Besuchenden den dramatischen Wandel hautnah erleben und stellt eine kühne Idee vor, wie sich Eis und Wasserspeicher schützen liessen.

Publikationsdatum
03-11-2020

Einen Gletscher ganzjährig zu beschneien, damit die schützende Schneedecke das Eis vor dem Schmelzen schützt – auf den ersten Blick könnten man meinen, es handle sich um einen PR-Gag. Was bei Skipisten längst üblich ist, klingt bei Gletschern wie Science Fiction. Von dieser Idee hörte der Autor im Herbst 2017 an der ETH Zürich zum ersten Mal. Das Symposium «Common Water» widmete sich den Herausforderungen im Umgang mit der Ressource Wasser im alpinen Raum und ging der Frage nach, was angesichts der «Vergrauung» der Landschaft infolge der wegschmelzenden Gletscher zu tun sei.

An der Veranstaltung präsentierte der an der Academia Engiadina tätige Glaziologe Felix Keller die Idee einer aktiven Gletscherbeschneiung. Zwei Schlüsselmomente bereiteten den Weg zu dieser kühnen Idee. Am 10. Juli 2000 waren 20 bis 40 cm Neuschnee auf den Morteratschgletscher im Berninagebiet gefallen. «Dieser Schneefall mitten im Sommer rettete rund 5 Mio. m3 Eis», sagt Felix Keller. Nach zehn Tagen sei der Schnee weg gewesen – und die Gletscherschmelze habe ihren weiteren Verlauf genommen.

FünfzehnJahre später, im heissen Sommer 2015, war Keller in Samedan beim Fischen. Die Flüsse im Oberengadin führten Hochwasser, obwohl es gar nicht geregnet hatte. Das viele Wasser stammte von den Gletschern. «Könnte man nicht einen Teil dieses Schmelzwasser zurückhalten und damit Schnee zum Schutz des Gletschers produzieren?», fragte er sich. Die Idee des «Schmelzwasser-Recyclings» war geboren.

Vorbild Ladakh?

Bezüglich der Machbarkeit erhielt Keller Schützenhilfe von Johannes Oerlemans von der Universität Utrecht. Der niederländische Glaziologe forscht seit vielen Jahren am Morteratsch-Gletscher und erstellte die weltweit längste Energiebilanz-Messreihe auf einer Gletscherzunge.

Die Berechnungen ergaben, dass die Beschneiung einer Fläche von rund einem Quadratkilometer im mittleren Bereich des Gletschers auf einer Höhe von 2300 bis 2500 m ü. Meer das Schmelzen des Eises massiv reduzieren würde. Vielleicht würde der Gletscher in diesem zentralen Bereich sogar wieder etwas Eismasse zulegen.

Warum aber diese Rettungsübung? Damit die Touristen weiterhin einen der grösseren Gletscher der Alpen bewundern können? Primär geht es darum, die Gletscher als Wasserspeicher zu erhalten. Am Zürcher Symposium stellte der Bündner Architekt Conradin Clavuot die sogenannten Eisstupas vor, mit denen man 2016 im Engadin zu experimentieren begann.

Die Vorbilder für diese künstlichen, pyramidenförmigen Eisskulpturen stammen aus der indischen Region Ladakh im Himalaya. Die Wasserversorgung dieser hochgelegenen Trockengebiete hängt vom Schmelzwasser ab. Im Winter wird Wasser in grossen Eistürmen gespeichert, das im Frühling für die Landwirtschaft zur Verfügung steht.

Die saisonale Speicherung von Wasser ist auch in den Alpen ein Thema. Etwa im trockenen Wallis, wo der sommerliche Abfluss der Bäche und Flüsse wesentlich durch Gletscherschmelzwasser gespeist wird. Ebenso würde der Inn im Engadin im Sommer viel weniger Wasser führen, gäbe es keine Gletscher.

Ein Beispiel ist die Lischanahütte bei Scuol GR, die das Wasser von einem kleinen Gletscher bezieht, den es bald nicht mehr geben wird. Deshalb startete kürzlich ein Projekt, um zu klären, wie das verbleibende Eis geschützt werden kann, damit die Gäste der Hütte auch künftig über Wasser verfügen.

Virtuelle Erfahrungen, reale Auswirkungen

Die erste Studie, die Felix Keller zum Morteratschgletscher 2015 erstellte, finanzierte die Gemeinde Pontresina, auf deren Territorium der Gletscher liegt. Die Ergebnisse stimmten hoffnungsvoll, und Keller gewann in der Folge Industriepartner aus der Beschneiungs- und Seilbahntechnik für seine Idee. Zusammen mit der Fachhochschule Graubünden reichte er bei der Agentur für Innovationsförderung des Bundes (Innosuisse) ein Projekt ein. Diese bewilligte im Sommer 2019 das Gesuch und finanziert die Hälfte der Kosten von 2.5 Mio. Franken. Das Projekt läuft noch bis Frühling 2022.

Drei Jahre nach dem Symposium an der ETH Zürich und vier Jahre nach der ersten Eisstupa im Val Roseg bei Pontresina eröffnete im Oktober bei der Talstation der Diavolezza-Seilbahn nun eine Ausstellung – ermöglicht durch die Graubündner Kantonalbank anlässlich ihres 150-jährigen Bestehens.

Der Ort ist ideal. Seit mehr als zehn Jahren wird nämlich der kleine Gletscher im Diavolezza-Skigebiet im Sommer mit Vlies abgedeckt. Damit lässt sich Schnee für die nächste Saison konservieren. Während der nahe Morteratsch- und Persgletscher laufend Eis verlieren, gelang es so, die Schrumpfung des Diavolezza-Gletschers nicht nur zu stoppen, sondern er legte gar an Mächtigkeit wieder mehrere Meter zu.

Die Ausstellung im ehemaligen Restaurant der Talstation beleuchtet die Bedeutung des Wassers in all seinen Formen sowie die Folgen des Klimawandels auf die Gletscher. In den letzten 150 Jahren hat sich der Morteratschgletscher um drei Kilometer zurückgezogen und zwei Drittel seines Eisvolumens verloren. Nach Berechnungen von Wissenschaftlern der Universität Freiburg verliert er bis 2100 – je nach Klimaschutz-Szenario – noch einmal zwischen 68 bis 96 % seines Volumens. Im Sommer wird das zu einem erheblichen Rückgang des Wasserabflusses führen.

Eine besondere Attraktion in der Ausstellung sind die Virtual-Reality-Brillen. Mit ihnen können die Besuchenden in eine dreidimensionale künstliche Welt eintauchen und dabei die mit dem Klimawandel einhergehenden Veränderungen in einem hochalpinen Raum hautnah erleben. Die moderne Art der Wissensvermittlung ist in einem Projekt zusammen mit der Zürcher Hochschule der Künste entstanden.

Man muss etwas Geduld aufbringen, bis die Brille gut sitzt und man sich in der «virtuellen» Welt zurechtfindet. Im Vergleich dazu wirkt die Präsentation des Schweizerischen Nationalparks geradezu klassisch. In informativen Videosequenzen beleuchtet diese die Auswirkungen der Klimaerwärmung auf Tiere und Pflanzen. In Zeiten einer Pandemie ist das Betrachten eines Bildschirms unproblematisch, während die Brillen nach jedem Gebrauch jeweils desinfiziert werden müssen.

Beschneiung als Lösung?

Die Frage der Beschneiung des Morteratschgletschers wird ebenfalls erörtert. Würde sich das Klima nicht mehr weiter erwärmen und wäre ein Quadratkilometer – also etwa 10 % der jetzigen Gletscheroberfläche – ganzjährig mit Schnee bedeckt, würde der Gletscher bis 2040 deutlich weniger zurückgehen. Mit neuen, bereits patentierten Schneilanzen ist es möglich, Schnee ohne Strom herzustellen. Benötigt wird lediglich ein genügend hoher Wasserdruck, der mit einem Niveauunterschied von 200 Metern erreicht wird. Das Wasserreservoir mit Schmelzwasser käme auf den benachbarten Persgletscher zu liegen. Um die Fläche zu beschneien, wären sechs bis sieben Seile über den Gletscher zu spannen. Ein Prototyp der Konstruktion ist in der Ausstellung zu sehen.

Inwiefern die Beschneiung eines ganzen Gletschers erfolgreich ist, hängt von der Zielsetzung ab. Das Landschaftsbild wird sich auch mit einer schützenden Schneeschicht auf einem Teil des Gletschers massiv verändern. Nach Modellrechnungen der Universität Freiburg bleibt die beschneite Fläche nach 2050 als «Insel» zurück, während die höher gelegenen Eismassen des Nährgebiets weiter schrumpfen werden. Das Hauptziel werde aber erreicht, findet Keller. «Wir können so den Gletscher an seiner mächtigsten Stelle schützen, und der Wasserspeicher bleibt während den nächsten Jahrzehnten erhalten.»

Die erforderliche Wassermenge erweist sich als weiterer Knackpunkt. Für die Beschneiung würden jährlich rund 2 Mio. m3 Wasser benötigt. Das ist viel Wasser – und gleichzeitig wenig, verglichen mit der Menge, die der Gletscher durch die Eisschmelze im Sommer verliert. «An einem heissen Tag gehen bis 1 Mio. m3 Wasser verloren», sagt Keller. Die benötigte Wassermenge für die Schneeproduktion entspreche der Gletscherschmelze von vielleicht einer Woche. Beschneit werden würde an allen Tagen mit genügend kühlen Temperaturen. Im Hochsommer wären das nur wenige Tage, im August und September aber bereits mehrere Tage, auch in einem etwas wärmeren Klima.

Der nächste Schritt ist der Bau einer 30 Meter langen Teststrecke der Beschneiungsanlage bei der Diavolezza-Talstation. Ab Dezember soll gezeigt werden, dass das vorgesehene System funktioniert. Die Graubündner Kantonalbank finanziert zudem eine Studie, die vor allem der Klärung der Fragen der Wassergewinnung und dem Transport zu den Schneiseilen gewidmet ist.

Speicherseen oder Gletscherpflege

Könnte die Idee der Beschneiung des Morteratschgletschers bald Realität werden? Dafür bräuchte es eine breite Gesellschaftsdiskussion, ist Keller überzeugt. Die Glacier Experience Ausstellung soll dazu einen Beitrag leisten. Zur Infrastruktur gehört auch ein Raum, der sich für Vorträge und Seminare nutzen lässt.

Sollte sich abzeichnen, dass die sommerliche Trockenheit im Engadin mit fortschreitendem Klimawandel immer mehr zu einem Problem wird, stellt sich die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten. Man könnte grosse Talsperren bauen, um Wasser für Trockenperioden zu speichern, vielleicht an den Stellen, wo sich Gletscher zurückziehen. Doch die Eingriffe in die Landschaft wären massiv. Unter diesen Vorzeichen erscheint die Option, die Gletscher zu pflegen, als interessante Alternative. Nicht nur für das Engadin, das Wallis und die Schweiz. Sondern vor allem auch für die trockenen Gebiete im Himalaya und andere Gebirgsregionen auf der ganzen Welt, deren Wasserversorgung von den Gletschern abhängt.

Mehr als Berge

Nach der Ausstellung drängt sich eine Fahrt auf die Diavolezza geradezu auf. Hier präsentieren sich der Piz Bernina und der Piz Palü mit ihren Gletschern in ihrer ganzen Pracht. Auf einen Schlag wird klar, was hier wirklich auf dem Spiel steht. Und man versteht auch Giovanni Segantini, der vor mehr als hundert Jahren auf dem Schafberg oberhalb von Pontresina mit Blick in die Berge gemalt hat und kurz vor seinem Tod 1899 gesagt haben soll: «Voglio vedere le mie montagne.»

Zwei TV-Beiträge zum Thema finden Sie hier: Einstein – «Mission Gletscherrettung» und DOK – «Wasserschloss Schweiz in Gefahr» (auf Seite scrollen bis «Wasserknappheit»).

Gletscherschwund in der Schweiz

Der Rückzug der Gletscher ist eines der sichtbarsten Zeichen der Klimaerwärmung. Auch im Sommer 2020 verloren die Schweizer Gletscher wieder viel Eis. Laut der Expertenkommission für Kryosphärenmessnetze der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz verringerte sich das Gletschervolumen im Vergleich zum Vorjahr schweizweit um knapp 2%. Es gab auch schon Jahre, in denen mehr Eis geschmolzen war.

 

Insbesondere in höheren Lagen im südlichen Wallis, Tessin und Engadin hielt sich der Eisverlust in Grenzen. Dies ist auf viel Schnee im Frühwinter und Schneefälle im Sommer zurückzuführen, die das Gletschereis vor der Sonnstrahlung schützten. Seit 1960 verloren die Schweizer Gletscher so viel Wasser wie der Bodensee umfasst.

 

[Quelle: https://scnat.ch/de]

Weitere Infos

Forschungsprojekt «Bodenunabhängiges Beschneiungssystem»

 

Die Ausstellung «Glacier Experience» befindet bei der Talstation der Diavolezza Bergbahnen bei Pontresina GR. Sie ist täglich von 8:30 bis 16 Uhr geöffnet.

 

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