Die Uto­pie ei­ner kli­ma­neu­tra­len Bau­bran­che

Unsere Bauwirtschaft verursacht jährlich rund elf Millionen Tonnen CO2-Äquivalente und über 80 % des Schweizer Abfalls. Um das Netto-Null-Ziel bis 2050 zu erreichen, ist ressourcenschonendes Bauen unabdingbar. Darüber, wie dies gelingen kann, wurde an der SIA-Fachtagung Low Emission | No Emission diskutiert.

Publikationsdatum
08-01-2024
Joël Amstutz
Redaktor Architektur TEC21 – Schweizerische Bauzeitung

Mit Vertreterinnen und Vertretern aus sämtlichen Berufsgruppen – Architektur, Ingenieurbau, Technik und Umwelt – lud der SIA nach Riedholz im Kanton Solothurn ein, um sich über aktuelle Fragestellungen der Bauwirtschaft auszutauschen. Die Fachtagung begann mit einer Führung durch die 16 Hektar grosse, mittlerweile stillgelegte Anlage der 1881 von Dr. Benjamin Sieber gegründeten Cellulose Attisholz AG. Die Fabrikationsstätte liegt von Solothurn aus rund 3.5 km flussabwärts direkt an der Aare und wurde über rund 100 Jahre hinweg nach und nach erweitert. Heute ist die ehemalige Cellulose-Fabrik die grösste Industriebrache der Schweiz. Besonders beeindruckend ist die Kiesofenhalle, deren Dach von einem minimal dimensionierten Stahlbetonfachwerk (14 cm × 14 cm) getragen wird.

Inzwischen finden darin regelmässig Events mit bis zu 2000 Personen statt. Die Cellulose- und Papier-Industrie bedurfte schweren Maschinen, was sich wiederum in den massiven Betonstrukturen der Eindampfanlage oder dem markanten Sulfitlaugenturm widerspiegelt. Das Areal ist deshalb prädestiniert für langfristige Umnutzungen und eventuelle Aufstockungen. Die Halter AG besitzt das Kulturerbe seit 2016 und möchte das Attisholz-Areal bis 2045 in einen urbanen Treffpunkt für zukünftige Generationen transformieren.

Potenzielle Kohlenstoffspeicher

Rolf Frischknecht, Pionier der Ökobilanzierung, eröffnete die Input-Session mit einem Referat, in dem er betonte, dass Gebäude in ihrem gesamten Zyklus – von der Gewinnung der Rohstoffe über den Transport, die Erstellung und den Betrieb bis hin zum Rückbau – betrachtet werden müssen. Autarkie und die Wiederverwendung von Bauteilen helfen dabei, einen Teil der Emissionen zu verhindern, doch Gebäude sollten als CO2-Endlager gedacht werden. Denn grundsätzlich gelte es zu verhindern, dass Kohlenstoff oxidiert und in die Atmosphäre gelangt. Dafür seien Bauwerke aktuell nur begrenzt geeignet.

Frischknecht plädierte für Bauteile, die Kohlenstoff über Tausende von Jahren speichern können, bevor sie ihn an die Atmosphäre abgeben. Dafür brauche es neue Gesetze, vergleichbar mit denen für Motorfahrzeug-Katalysatoren oder die Endlagerung von Atommüll. Die Bauindustrie müsse im Hinblick auf die Klimaziele radikal umgedacht werden.

Die Schweiz speichert aktuell noch kein CO2 in geologischen Tiefenlagern. Andreas Möri vom Bundesamt für Landestopografie, Untergrundforscher seit über 25 Jahren, betont die Notwendigkeit von Carbon Capture and Storage (CCS), um die Netto-Null-Ziele zu erreichen. Den Export von CO2 hat der Bundesrat bereits bewilligt. «Lösungen im Ausland, beispielsweise offshore in der Nordsee, sind möglich», sagt Möri. «Künftige Preise, Transportkapazitäten und der Wille, CO2 aus der Schweiz anzunehmen, sind allerdings noch unklar.»

Im Schweizer Alpenvorland seien sieben potenzielle Speicherkomplexe identifiziert worden, doch eine detaillierte Charakterisierung stehe noch aus. Mögliche induzierte Erschütterungen erfordern vertiefte Untersuchungen des CO2-Speicherpotenzials im Schweizer Mittelland, unterstützt durch Daten aus Pilotprojekten zur In-situ-Charakterisierung von Speichergesteinen. Die Sicherstellung, dass der gelagerte Kohlenstoff nicht an die Oberfläche gelangt und oxidiert, sei entscheidend.

Neue Wege

Die Architektenkammern in Deutschland sehen den «Gebäudetyp E» als Antwort auf die wachsende Komplexität und die allgemeine Trägheit und Uniformität im Bauwesen. «Der neue Gebäudetyp ermöglicht experimentelles und einfaches Bauen, indem er Freiheiten schafft und innovative Konstruktionsmethoden fördert», sagt Florian Dilg, Architekt und Vorsteher der Taskforce Gebäudetyp E der Bundesarchitektenkammer. Die notwendigen Schutznormen werden weiterhin eingehalten – unsere hohen Ansprüche an den Komfort und die Frage der Suffizienz stehen hingegen zur Debatte.

Der neue Typ lege den Fokus auf eine sorgfältige Festlegung von Zielen und Qualitäten durch die Planenden und die Bauherrschaft. Dabei sei die transparente Kennzeichnung von solchen Bauwerken wichtig, betont Dilg, denn dadurch werde der Konsumentenschutz gewahrt. Der Gebäudetyp E stärke die Entscheidungsfreiheit der Bauherrschaft über Projekte, fördere Innovationen in Richtung Nachhaltigkeit und bezahlbaren Wohnraum. Der neue Ansatz soll einen erfrischenden Weg für kreatives und ressourcenschonendes Bauen bieten, ohne dabei das bestehende System zu verändern.

Ein Blick in die Praxis

Das Powerhouse Brattørkaia von Snøhetta in Trondheim, Norwegen, ist das nördlichste energiepositive Gebäude der Welt. «Über seine Lebenszeit wird es mehr Energie produzieren, als es verbraucht – inklusive graue Energie und Rückbau», berichtet Astrid Renate Van Veen, Senior Architect bei Snøhetta. Sowohl das geneigte Dach als auch der obere Teil der Fassade sind zur Ausreizung der Stromproduktion mit 3000 m2 Solarpanels ausgestattet. Das Powerhouse profitiert von seiner unmittelbaren Nähe zum Meer: Einerseits begünstigt der Standort die Sonnenenergie-Ernte und andererseits funktionieren die Wärmepumpen über das Meerwasser. Als kleines, urbanes Kraftwerk versorgt das Bauwerk nicht nur sich selbst, sondern auch benachbarte Gebäude, Elektrofahrzeuge und Boote über ein lokales Mikronetz mit erneuerbarer Energie.

Stéphane Fuchs, Gründer des Büros atba, verfolgt das Ziel, Architektur mit Ökologie zu verbinden. Das Büro legte für die Planung der drei Genossenschaftsgebäude «La Bistoquette» in Plan-les-Ouates besonderen Wert auf die eingesetzten Baumaterialien sowie deren Verarbeitung, Herkunft, graue Energie und Leistungen. Nach der Devise «Optimale Ökobilanz für maximalen Komfort» suchten die Planenden nach Low-Tech-Lösungen und trafen eine besondere Auswahl an Materialien. Das Holz für die Fassadenelemente und die entrindeten Eichenstämme, die die Balkonplatten tragen, stammen aus der Schweiz. Der Lehm vom Aushub bildete die Grundlage für die tragenden Erdbetonwände. Eine Füllung aus Holzspänen und Ton isoliert die Gebäudehülle – ohne Zusatzstoffe. Für die Fassade wurde ein natürlicher Kalkputz verwendet.

Zurück im Attisholz

Nachhaltig zu bauen, bedeutet sowohl ökologische als auch soziale und ökonomische Anforderungen zu erfüllen. Zielkonflikte sind dabei nicht auszuschliessen. Energieerzeugung versus Biodiversität und Landschaftsschutz, Verdichtung versus Bauen im Bestand oder Ökologie versus Ökonomie entfachen Debatten, die auch die Entwicklung der ehemaligen Cellulose-Fabrik begleiten. In einer Zeit voller komplexer Herausforderungen sind gemeinsame Lösungsansätze gefragt. Nur durch ganzheitliches Denken und den Versuch, sektorielle Grenzen zu überwinden, können wir nachhaltige Veränderungen bewirken. Das Attisholz-Areal bietet hierbei eine einzigartige Ausgangslage, dessen Entwicklung es mitzudenken lohnt.

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