«Ein Zen­trum für ei­nen Ort schaf­fen, der kei­ne Mit­te hat­te»

Luigi Snozzi hat das Denken einer ganzen Planergeneration begleitet. Wir sprechen mit dem Architekten in Monte Carasso – dem Ort, dem er zu einer Identität verholfen hat.

Publikationsdatum
02-04-2020

In der Bar des Konvents von Monte Carasso treffen wir den Tessiner Architekten Luigi Snozzi. Für viele heute tätige Architektinnen und Architekten hat seine Lehre einen neuen Blick auf unsere Verantwortung gegenüber der Gestaltung von Städten eröffnet. Stefano Moor, Architekt und früherer Mitarbeiter, sowie Sara Groisman von espazium.ch unterstützen den charismatischen, aber gebrechlichen 87-Jährigen.

Zugunsten eines ruhigeren Umfelds ziehen wir uns in das Architekturstudio Guidotti zurück, mit Blick auf den Klosterhof. Alles Snozzi: Die Bar, das Klostergelände, die Raiffeisenbank mit dem darüber liegenden Studio, in dem wir uns befinden, sind Teile seines zentralen Projekts, über das wir ihn befragen. Unsere Zusammenkunft mit dem Maestro runden wir durch eine Begehung des Orts ab. 

Luigi Snozzis wichtigstes Anliegen ist der Schutz der Landschaft vor einer sich un­kon­trolliert ausbreitenden Bebauung. Ein Problem, das sich besonders in seiner Tessiner Heimat findet und das er immer wieder anprangerte. Von hier aus hat er sich über Jahrzehnte hinweg an den unterschiedlichsten urbanistischen Wettbewerben beteiligt und dabei nicht selten zunächst einmal die Parameter, die ihnen zugrunde gelegt waren, infrage gestellt.

Als unerbittlicher Widerständler sucht er die Politik von seiner ideologischen Auffassung einer sozialen Gesellschaft zu überzeugen. Er vertritt noch heute die Ansicht, dass Städtebau nur gelingen kann, wenn Politiker die Arbeit der Planer aktiv unterstützen und als Vermittler der Ideen und Ziele gegenüber der Bevölkerung agieren.

Was sich so einfach anhört, gelang allerdings auch ihm nur selten. Etliche Wettbewerbsbeiträge, die teils wegen Missachtung der ausgeschriebenen Vorgaben nicht gewertet, teils mit einem ersten Preis bedacht wurden, aber dennoch nicht zur Ausführung kamen, erzählen von seinem Verantwortungsbewusstsein. Seine häufig radikalen Argumente blieben durchaus nicht ungehört und führten sogar zur Neuausschreibung von Wettbewerbsprogrammen – zu ­denen er dann aber nicht immer eingeladen wurde.

Sein gebautes Werk umfasst, abgesehen vom Masterplan für Monte Carasso, hauptsächlich Einfamilienhäuser. Manche befinden sich ausserhalb eines gebauten Kontexts an exponierten Stellen und stehen damit seinem Anspruch entgegen, die Landschaft zu schützen. Doch den Entwürfen wohnt in einem kleineren Massstab die gleiche Auseinandersetzung mit dem Territorium inne: Oft aus einzelnen Baukörpern zusammengesetzt, stehen sie im Dialog mit dem Aussenraum und sind Ikonen des fein komponierten Minimalismus. Der charakteristische, die Schweizer Architektur lang prägende Baustil geht unter anderem aus ihnen hervor.

Es ist ein besonderes Privileg, Luigi Snozzi persönlich zu begegnen und ihn zu seinem Werk zu be­fragen. Er überprüft ein paar Blickachsen im Studio oberhalb der Bank und setzt sich mit einer ersten Zigarette an den Tisch.
 

TEC21: Herr Snozzi, einem Ihrer Texte haben Sie ein Zitat von Hannah Arendt vorangestellt: «Das Private und das Momentane haben das Öffentliche und das Dauernde verdrängt.» Denken Sie, dass Ihre Architektur in Monte Carasso stark genug ist, um sich den veränderten Nutzungen der Stadt anzupassen?

Luigi Snozzi: Das ist denkbar, aber es ist nicht an mir, das zu beurteilen. Aus meiner Sicht hat sie immer noch ihre Gültigkeit.

Was halten Sie zum Beispiel davon, dass die als Wohnung geplanten Räume in diesem Gebäude inzwischen als Architekturstudio dienen?

Stefano Moor: In einem von Luigis Aphorismen heisst es: «Der Aquädukt lebt von dem Moment an, da er aufgehört hat, Wasser zu führen.» Das ist eine fundamentale Aussage. Der Wert der Architektur bemisst sich nicht nach ihrer Nutzung. Luigi hat seine Architekturen immer als pure Form und als Teil der Stadt gedacht, nicht von ihrer ­Funktion her.

Form und Kontext zur Stadt sind also das, was Sie als Erstes interessiert?

Luigi Snozzi: Ja, so ist es.

Stefano Moor: Wir befinden uns hier an einem Ort mit Blick auf das Kloster – im Zentrum der Anlage, im wichtigsten Teil von Luigis Schaffen. Beim Zeichnen einer Mitte muss ausgelotet werden, wie viel man bewahrt und wie viel dazu erfunden werden kann, um ein Spannungsverhältnis zu schaffen. Diese Balance ist gelungen, und man könnte es so belassen.
Aber die Welt bewegt sich weiter. Zuletzt hat Luigi 2017 den Platz zur Strasse hin um ein Rechteck ver­grössert. Er hat die Verkehrsführung neu betrachtet. Die Strasse aus dem Jahr 1979 konnte zugunsten der Fussgänger verschmälert werden – nur mithilfe einer neuen Mauer, die die verschobene Trennung zwischen Strasse und Platz markiert.

Luigi Snozzi: Damit bin ich sehr einverstanden.

Gemäss Ihrem Masterplan sind alle Neubauten von Mauern umschlossen. Warum ist es wichtig, den öffentlichen Raum vom privaten zu unterscheiden?

Luigi Snozzi: Wie soll das ohne diese Unterscheidung gehen?

Mit niedrigen Mauern, die auch als Bänke funktionieren, oder ganz ohne Mauern! Das würde eine Kommunikation erleichtern.

Luigi Snozzi: Ich beziehe mich ja auf die traditionelle Ordnung im Tessin …

Stefano Moor: die vorgefundene Agglomerationsstruktur war nicht stark genug, um aus sich selbst eine Ordnung zu entwickeln. Hinsichtlich der gewünschten Verdichtung war eine Definition der Raumnutzungen gefragt. Das Ziel war, den öffentlichen Raum so zu organisieren, dass weder Bürgersteige noch Verkehrsschilder nötig sind. Eine gesunde Struktur regelt den Umgang von Fussgängern und Autoverkehr selbst. Das ist auch ein Charakteristikum von Monte Carasso. Die Mauern waren nötig, um ein Gleichgewicht zwischen öffentlich und privat herzustellen.

Und mithilfe der Abgrenzungen konnten dann auch die Leerräume und Abstände entstehen?

Luigi Snozzi: Ja, leere Flächen gab es eigentlich nicht.

Sie orientieren sich nicht zuerst am Bestand. Sie sagen, dass die Architektur den Ort, die Stadt ändern muss. Wieso entwerfen Sie zuerst so etwas wie den Platz hier im Ortskern von Monte Carasso und widmen sich danach erst der Integration der Bestandsbauten?

Luigi Snozzi: Die Idee war, ein Zentrum für einen Ort zu schaffen, der keine Mitte hatte. Ich habe dafür den Hof des Konvents gewählt, weil hier die Kirche ist, die immer ein wichtiger Ort für die Bewohner war. Um sie herum bestand schon eine gewisse Dichte. Meine Architekturhaltung ist Teil der Moderne. In diesem Sinn fasse ich traditionelle Inhalte auf und verwandle sie in Elemente der Gegenwart. Ich habe nichts neu erfunden. Nur Vorhandenes übertragen.

Wie haben Sie hier entschieden, welche Gebäude bestehen bleiben sollten und welche nicht?

Luigi Snozzi: Das hing davon ab, was man mit dem ganzen Platz vorhat. Das ist massgeblich. In diesem Fall konnten wir die ursprüngliche Struktur erhalten.

Die zugefügten Bauteile sind wie stets in Ihrem Werk aus Sichtbeton. Was bedeutet Ihnen dieses Material?

Luigi Snozzi: Es gefällt mir einfach. Ich finde, dass sich Sichtbeton im Verlauf der Zeit nicht sehr verändert.

Spielen diese Gedanken eine Rolle, wenn Sie ein Gebäude konstruieren?

Luigi Snozzi: Ich glaube schon. Es war mir nie so bewusst, aber wahrscheinlich ist es so. Die Gleichförmigkeit des Materials entspricht der Dauerhaftigkeit, die ich meinen Entwürfen zugrunde lege …

Stefano Moor: … Sichtbeton kommt ausserdem dem Naturstein nah, einem im Tessin traditionellen Bau­material. Luigi bedient sich einer modernen Archi­tektursprache, in der der Beton die Rolle des Steins, der «pietra», übernimmt. Er entspricht auch kon­struktiv seiner persönlichen Handschrift. Viele seiner Gebäude könnte man nicht aus Stein bauen. Zum Beispiel die Rundungen und den langen Unterzug am Annex der Primarschule.

Denken Sie beim Entwerfen eher an das Dauerhafte oder an die Flexibilität der Bauten?

Luigi Snozzi: Ich entwerfe etwas, das für diesen Moment stimmt, aber immer eine Offenheit für zukünftige Veränderungen beinhaltet.

Was macht Ihnen Spass an der Architektur?

Luigi Snozzi: Alles, was ich tue. Besonders freue ich mich, wenn es mir gelingt, etwas zum Funktionieren zu bringen. Etwas anderes ist aber auch noch nicht vorgekommen.

Bei diesem letzten Satz huscht ein leises Schmunzeln über Luigi Snozzis Gesicht.

Verwandte Beiträge