Ab­dan­kung der Ten­den­za

Mit Aurelio Galfettis Tod im vergangenen Dezember und dem Luigi Snozzis ein Jahr zuvor verabschiedet sich eine Generation, die die Tessiner ­Architektur über Jahrzehnte prägte. Ein Besuch bei Galfettis letztem Bau in Bellinzona und ein Spaziergang durch dessen Umgebung mit der Frage, was bleibt.

Publikationsdatum
01-04-2022

Wer in Bellinzona den Weg über den rasenbedeckten Wall zum Castelgrande hinaufsteigt, sieht linkerhand im Stakkato zwischen den Zinnen immer wieder ein Büromarker-gelbes Gebäude aufblitzen. Deutlich hebt der Bau sich von den italianisierend erdigen Tönen der älteren Häuser und dem Weissgrau der jüngeren Spekulationsobjekte ab. Doch trotz seiner Farbe schreit das Gebäude nicht nach Aufmerksamkeit. Vielmehr erinnert es an die ebenso mutigen wie treffsicheren Cordhosen älterer Herren in Norditalien, gelb auch die oder rot, und doch ganz klar Teil der Boccia-spielenden Borghesia.

Das leuchtende Gebäude in Bellinzona ist ebenso kultiviert; es weiss, was äussere Form bedeutet. Während die Investorenbauten bullige Balkone in die Sonne schieben, trägt es sein Kleid aus farbigen Jalousien in perfekt regelmässigem Gewebe. Einen glatten Kubus bilden die Aussenflächen, selbst das Dach ist bis auf vier Abzugsstutzen vollkommen eben und schwarz, wie von hier oben zu sehen.

Kultivierung der Landschaft

Aurelio Galfettis Gebäude in Bellinzona, das ein renommiertes Forschungsinstitut für Biomedizin und andere Laboratorien beherbergt, ist ein Alterswerk. Es ist ­Gal­fettis letzter Bau, nicht sein bester. Aber es macht noch einmal deutlich, was Architektur für seinen Entwerfer bedeutete, innerhalb des semiurbanen Chaos des Tessins, das sein Schöpfer selbst als Città Ticino apostrophierte und apologetisierte. Die Zersiedelung der Landschaft, vorangetrieben durch das Auto und jüngst durch den öffentlichen Nahverkehr, zementiert in Gewerbebauten und Apartmenthäusern, nahm Galfetti als aktuelles Phänomen in Kauf – ja, er gab sogar vor, diese Art der Stadt zu schätzen: «Ich akzeptiere diese städtische Struktur als positiven Ausdruck unserer Zeit. Ich habe das Glück, die Città Ticino so zu mögen, wie sie ist», so bekundete der Architekt 1995 in einem Vortrag in Paris.

Innerhalb dieser Kultur des Inkongruenten aber war Galfetti an Ordnung gelegen, darin sah er die Rolle des Architekten. Seine Skizzen, die die Entwürfe oft aus einer leicht erhöhten Perspektive innerhalb ihrer Umgebung zeigen, machen deutlich, dass er Architektur als eine Kultivierung der Landschaft begriff. Glück­licherweise war es ihm gegönnt, das territorio Ticino zu prägen mit Bauten, die bisweilen auch topografische Ausmasse annahmen.

Glaube an die gute Form

Diese Zugewandtheit zum öffentlichen Leben setzt hohe Massstäbe, an denen das jüngste Bauwerk des Architekten scheitert. Vier Mal bedarf es eines «badge», um ins Innere zu gelangen: an der Umfriedung mit einem Metallzaun, dann am Haupteingang, dann bei den ­Türen zu den Korridoren und zuletzt bei jenen in die Büros und Labore.

Man kann das kaum dem Architekten ankreiden, es liegt schlicht an den sensiblen Sicherheitsanforderungen der Forschungseinrichtung. Der Bau bietet dafür perfekte architektonische Klarheit: ein zentral in den rechteckigen Riegel eingeschnittenes Foyer, von dem aus lange Flure das dunkle Innere mit sehr umfangreichen technischen Anlagen umlaufen und zugleich die zur Glasfassade hin gelegenen hellen Labore und Büros erschliessen.

Der Grundriss ist so gut lesbar wie ein vorbildlicher naturwissenschaftlicher Aufsatz. Aber er ist auch ebenso spannungsarm. Nirgendwo eine räumliche Überraschung, keine Nischen für Rückzug oder zufällige Treffen, und vor allem: kein Ausweg aus der hermetischen Versiegelung der Doppelverglasung, innerhalb derer die gelben Storen laufen.

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Für einen Ausbruch aus dieser Struktur hätte sich das Dach angeboten. Das aber ist komplett mit einem Raster aus perfekt horizontal verlegten Solarpaneelen bedeckt. Der – vom Architekten durchgesetzte – unbedingte Glaube an die gute Form wird hier ad absurdum geführt. Die formale Beruhigung der Dachlandschaft können die Nutzer nicht geniessen, sie bleibt unzugänglich.

Dabei wäre anderes durchaus denkbar. Eine Dach­terrasse mit einer schattenspendenden Laube aus ­geneigten Solarelementen etwa hätte den Wissenschaftlerinnen und Mitarbeitern fantastische Kaffeepausen beschert, einen gelegentlichen ­Arbeitsplatz im Freien und der Anlage sogar eine höhere Energieausbeute.

Casa, case, casino

Mit ihrer Rechtfertigung der zersiedelten Tessiner Urbanität bei gleichzeitigem Glauben an die gute Form markierte die «Tendenza»1 eine sehr spezielle Sonderposition innerhalb der Postmoderne. Andernorts zeichnete diese meist der Rekurs auf die wahlweise «historisch» oder «europäisch» genannte dichte Stadt aus.

Im Tessin aber ist das wie selbstverständlich immer wieder beschworene territorio – zu übersetzen weniger mit Territorium als mit Stadtlandschaft – offenbar das Feld, das es baulich zu beackern gilt. Selbst in ­ihrer Kubatur so disziplinierte Bauten aber vermögen das Tessiner Durcheinander nicht zu zähmen.

Der Haupteingang des Laborgebäudes zielt unvermittelt auf eine Baracke der Feuerwehr; ein paar Schritte weiter bietet eine Holzhütte der lokalen Pfadfindergruppe ein Zuhause. Der Plural von casa, Haus, ist hier casino, Chaos. Das Forschungszentrum in Bellinzona markiert die hohe Ambition einer Architektengenera­tion, offenbart aber zugleich deren Grenzen.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 10/2022 «Ticino: tendenziell anders?».

Weitere Informationen zu den Protagonisten der Tendenza finden Sie hier.

Eine grossartige Retrospektive auf Galfettis Werk bietet der 2021 bei der Mendrisio Academy Press erschienene Band «Aurelio Galfetti: Costruire lo spazio», herausgegeben von Franz Graf, Text Italienisch und Englisch, mit zahlreichen Plänen und Skizzen sowie die Lebendigkeit der benutzten Bauten vor Augen führenden aktuellen Fotos von Roberto Conte.

Anmerkung

 

1 Der Begriff «Tendenza» verweist auf die epochemachende Ausstellung «Tendenzen – Neuere Architektur im Tessin» des gta Zürich 1975. Sie zeigte die Arbeiten der 1960er- und 1970er-Jahre von 20 ausgewählten Architekten des Tessins, darunter Luigi Snozzi, Aurelio Galfetti, Mario Botta und Flora Ruchat-Roncati. Durch die Ausstellung gelangten die Protagonisten zu internationaler Bekanntheit.

Neubau Istituto di Ricerca in Biomedicina (IRB), Bellinzona

 

Nutzung
Labor, Verwaltung, Schule

 

Bauherrschaft
Fondazione per l’Istituto di ricerca in Biomedicina, Bellinzona

 

Architektur
Studio Galfetti, Lugano

 

Energiekonzept
Steam, Padua (I)

 

Bauphysik
Erisel, Bellinzona

 

Ingenieurwesen
Messi Associati, Bellinzona

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