Kriech­be­we­gun­gen un­ter­schätzt

In der Lawinenanrisszone am «Wisse Schijen» in Randa (VS) wurden 1990 Schneenetze als Lawinenverbauung gebaut – ohne permafrostspezifische Vorstudien, da diese nicht üblich waren. Da die Geländeverschiebungen überdurchschnittlich gross sind, wird die Verbauung seit 2001 systematisch beobachtet. Nach nur 17 Jahren Betriebszeit mussten 2008 die Fundamente saniert werden. Heute würde man hier auf eine Verbauung verzichten und temporäre Massnahmen wie Lawinensprengungen einsetzen.

Publikationsdatum
29-01-2010
Marcia Phillips
Geografin und Leiterin der Gruppe Permafrost und Schneeklimatologie am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF)
Stefan Margreth
dipl. Bauing. ETH und Leiter der Gruppe Schutzmassnahmen am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF)

Seit 2001 untersucht das WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) Lawinenverbauungen in der Lawinenanrisszone Wisse Schijen oberhalb Randa im Walliser Mattertal.1 Der 40 ° steile und mit Felsen durchsetzte Hang besteht an der Oberfläche aus einer etwa 2.5 m mächtigen grobblockigen Schuttschicht (Gneis, Quarzit und Marmor), die sich in einem labilen Gleichgewicht befindet. Darunter befindet sich eine 0.5 m mächtige Schicht aus eisreichem Lockermaterial, die auf Permafrost-Fels liegt.

In den Jahren 1990 und 1991 wurden dort auf der Höhe zwischen 3010 und 3140 m ü. M. acht Schneenetzreihen erstellt. Sie ersetzen einen Auffangdamm, der die darunterliegenden Stahlschneebrücken vor Steinschlag schützte, aber wegen Geländeinstabilitäten zurückgebaut wurde. Die Netze verhindern das Anbrechen von Lawinen im obersten Anrissgebiet. Sie sind 24 bis 46 m lang und 4 m hoch. Ihre Konstruktion ist flexibel und nimmt Geländeinstabilitäten auf. Die Pendelstützen sind auf Mikropfählen fundiert, die aus eingemörtelten 32-mm-GEWI-Ankerstäben und 76-mm-Stahlrohren bestehen. Zusätzlich ist der Kopf des Mikropfahles mit einem Betonfundament stabilisiert. Die Seilanker, mit Verankerungslängen von 5 m und im Abstand von 3.5 m berg- und talseitig versetzt, sind am Kopf durch je ein Betonfundament gesichert – der Fels wurde durchwegs erreicht. Da der Schutt in den obersten Metern Hohlräume enthält, war der Ankermörtelverbrauch mit etwa 30 kg pro Meter Ankerlänge sehr hoch.

Messen, Beobachten und Schlüsse ziehen

Ende der 1990er-Jahre stellte sich heraus, dass die Stabilitätsprobleme durch überdurchschnittlich rasch kriechenden Permafrost hervorgerufen wurden. Der Kanton Wallis liess daraufhin den Steilhang überwachen. Das SLF nahm Ingenieurvermessungen vor, liess drei 6 m lange Bohrlöcher abteufen und mit Instrumenten ausrüsten. Seit 2001 werden die Bodentemperaturen in den Bohrlöchern mittels Thermistoren stündlich gemessen. Die Hangdeformationen werden in denselben Bohrlöchern jährlich mittels Inklinometermessungen erfasst. Ausserdem werden jedes Jahr die 48 Fixpunkte auf den Fundamenten der Schneenetze vermessen, der Bauwerkszustand visuell beurteilt und dokumentiert. Die Beobachtungen erlauben, Änderungen der Geometrie und des Zustandes der Schneenetze zu quantifizieren und falls erforderlich entsprechende Massnahmen zu ergreifen.

Die Messungen zeigen, dass die Permafrosttemperaturen, die zwischen –0.5 und –1.5 °C schwanken, relativ hoch sind. Die Mächtigkeit der Auftauschicht beträgt gemäss den Temperaturmessungen rund 1.8 m – im Hitzesommer 2003 war sie etwa 0.1 m stärker. Die horizontalen Bohrlochdeformationen in Talrichtung sind in der Regel gleichmässig und kleiner als 5 cm pro Jahr. Eine Ausnahme war die in einem Bohrloch gemessene horizontale Verschiebung um 12.6 cm im Sommer 2003. Die Fundamente haben sich zwischen1999 und 2007 um 0.47 m horizontal verschoben und 0.38 m gesetzt. Auch hier waren die Verschiebungen, mit durchschnittlich 0.1 m allein im Sommer 2003, besonders stark. Diese ausgeprägten Kriech- und Setzungsbewegungen verursachten zunehmend Schäden an den Schneenetzen. Differentielle Verschiebungen der einzelnen Fundamente veränderten die ursprüngliche Geometrie ganzer Netzreihen, was zu ungleichmässigen Belastungen und erhöhten Zwängungen führte. Infolge talseitigen Verkippens der Stützenfundamente kugelten die Gelenke der Pendelstützen aus, die Netze drohten einzustürzen. Ausserdem legte die Oberflächenerosion einzelne Fundamente frei, was die Stabilität der Mikropfähle reduziert und zum Versagen führen kann. Die Zustandsbewertung der Schneenetze gemäss der technischen Richtlinie 2 zeigte, dass nach einer Nutzungsdauer von nur 17 Jahren sechs Reihen in die Zustandsklasse 2 (schadhaft) und zwei Reihen in die Klasse 3 (schlecht) eingeordnet werden mussten. Die Lawinenverbauung wurde daraufhin 2008 saniert.

Nutzungsdauer verlängern

Um die Nutzungsdauer des Systems zu verlängern, wurden unter den Pendelstützen der «schlechten» Schneenetzreihen «schwimmende» Grundplatten aus Stahl anstelle der Mikropfahlfundamente installiert. Die 90 × 90 cm grossen Grundplatten sind mit Drahtseilen an den berg- und den talseitigen Seilankern der Schneenetze befestigt. Sie reagieren weniger empfindlich auf Hangbewegungen und können normalerweise mit Seilzügen neuausgerichtet werden. Je nach Tragfähigkeit des Baugrundes werden solche Grundplatten in eine Ausgleichschicht aus Magerbeton eingebettet (z.B. bei wenig tragfähigen Böden) oder wie im vorliegenden Fall direkt auf die Bodenoberfläche gelegt. Gleichzeitig wurden zwei neue Bohrlöcher abgeteuft und instrumentiert, denn die alten waren infolge der Verformungen unbrauchbar geworden. Mit ihnen werden der Permafrost und die Hangstabilität weiterhin überwacht, um kritische Zustände zu erkennen.

Erfahrungen liefern neue Erkenntnisse

Die Probleme mit instabilen Permafrostbaugrund erkannte man erst mit der Überwachung von Gebieten wie am «Wisse Schijen». Die Projektierung der Schneenetze erfolgte darum 1990 ohne permafrostspezifische Vorstudien und Baumethoden. Dies war damals für Permafrostböden nicht üblich, da Leitfäden, aber auch die Erfahrung fehlten. Da die eingebauten Stützenfundamente nicht permafrostkonfrom sind, ist der Unterhaltsaufwand sehr hoch: Netze müssen neu ausgerichtet und Steine, die durch Steinschlag in die Netze fallen, in den Sommermonaten ausgeräumt werden. Fungierten die Netze nicht noch als Steinschlagschutz, würde man aus heutiger Sicht hier wahrscheinlich auf Lawinenverbauungen verzichten. Die angrenzende Lawinenanrisszone wurde jedenfalls nicht mit Stützwerken verbaut. Dort werden Lawinen mittels Sprengung künstlich ausgelöst. Gleichzeitig sind bauliche Verstärkungen der lawinengefährdeten Infrastrukturen im Tal geplant.

Das Fallbeispiel «Wisse Schijen» zeigt, wie wichtig eine detaillierte Vorstudie mit einer gründlichen Baugrunduntersuchung ist, die eine Abklärung des Permafrostvorkommens und des Eisgehalts umfasst. Dadurch kann die Dauerhaftigkeit von Bauwerken im Hochgebirge gewährleistet werden.3

Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 5-6/2010 «Bauen im Permafrost».
 

Flexible Schneenetze

Infolge der für Permafrostböden typischen Kriechbewegungen werden für den Verbau von steilen Permafrosthängen flexible Schneenetze2 anstelle von starren Stahlschneebrücken empfohlen. Schneenetze sind Lawinenverbauungen aus dreieckigen Drahtseilnetzen, die an Pendelstützen montiert und über Drahtseile mit den berg- und talseitigen Ankern verbunden sind. Wegen ihrer Flexibilität sind sie relativ unempfindlich gegen Baugrundverschiebungen und im Vergleich zu starren Systemen weniger empfindlich gegen Steinschlag. Ihre Geometrie kann zudem nach grösseren Deformationen einfach nachgerichtet werden.

Am Projekt Beteiligte

Auftraggeber
Charly Wuilloud, Leiter Sektion Naturgefahren, Kanton Wallis, und Norbert Carlen, Ingenieur Naturgefahren, Kreis Oberwallis

Unterhalt der Lawinenverbauungen
Leo Jörger, Revierförster Randa

Bauherrschaft
Gemeinde Randa

Bauleitung
Reinhold Bumann, Ingenieurbüro Bumann GmbH, Naters

Bohrlochdeformationsmessungen
Rovina  + Partner AG, Varen

Vermessung der Lawinenverbauungen
Klaus Aufdenblatten, Geomatik AG, Zermatt

Material- und Personentransporte
Air Zermatt, Zermatt

Bau und Sanierung der Schneenetze
E. Lauber & Sohn AG , Hoch- und Tiefbau, Zermatt

Herstellung der Schneenetze
Geobrugg AG, Schutzsysteme, Romanshorn

Anmerkungen:
1 P. Thalparpan, K. Moser, M. Phillips: Bauen auf bewegtem Boden. TEC21, 17/2002. S. 19–24
2 S. Margreth: Lawinenverbau im Anbruchgebiet, Technische Richtlinie als Vollzugshilfe, Umwelt-Vollzug Nr. 0704. Bundesamt für Umwelt, Bern, WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF), Davos, 2007
3 C. Bommer, M. Phillips, H.-R. Keusen, P. Teysseire: Bauen im Permafrost. Ein Leitfaden für die Praxis. Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL)/SLF, Birmensdorf, 2009

Verwandte Beiträge