Erd­be­ben­si­cher­heit in­ter­dis­zi­pli­när un­ter Dach und Fach ge­bracht

Die Erdbebensicherheit der Klosterkirche Königsfelden in Windisch rein rechnerisch nachzuweisen, war nicht möglich. Die BDS Bauingenieure kamen in interdisziplinärer Zusammenarbeit zu einer pragmatischen Lösung, die das Personenrisiko reduziert und die wertvolle Bausubstanz nicht beeinträchtigt.

Publikationsdatum
13-04-2023

Die Toten haben die Klosterkirche Königsfelden in Windisch bereits 1770 verlassen. Bis dahin war die Kirche eine Grabstätte der Habsburger, deren Stammsitz in der Nähe liegt. In einer pompösen Überführungszeremonie verlegte man die Überreste der Aristokraten nach Kloster St.Blasien im Schwarzwald. So konnte der dortige Fürstabt seinem Kloster im Vorfeld der Säkularisation Bedeutung verleihen.

Heutzutage gilt es mehr, sich um die Lebenden zu kümmern. Damit im schlimmsten Fall eines Erdbebens die Kirche nicht zu einem Grab wird und das historisch wertvolle Gebäude auch der Nachwelt erhalten bleibt, beauftragte der Kanton Aargau als Bauherrschaft anlässlich der geplanten Restaurierung die Überprüfung der Erdbebensicherheit nach SIA 269/8 früh im Projekt.

Übergeordnetes Ziel war der integrale Erhalt des äusseren Erscheinungsbilds sowie die grösstmögliche Schonung der bauzeitlichen Substanz – schliesslich ist die Kirche als Objekt von nationaler Bedeutung (A-Objekt) im Kulturgüterschutzinventar aufgeführt.

Ein Dachwerk mit Besonderheiten

Die Klosterkirche präsentiert sich als dreischiffige, in allen Schiffen flachgedeckte Pfeilerbasilika, an die sich ein langer, kreuzrippengewölbter Chor mit polygonalem Schluss anfügt. Die Einzelformen entsprechen der reduzierten Gotik der Bettelorden. Über dem Langhaus befindet sich das bauzeitliche, dendrochronologisch auf 1315 datierte Dachwerk, das in weiten Teilen noch die Originalstruktur und -substanz aufweist.

Die Dachdeckung ist allerdings neuzeitlich. Die Biberschwanzziegel und die Lattung stammen aus dem 20. Jahrhundert. Der Dachstuhl selbst gehört typologisch, kulturhistorisch und aufgrund seines Alters zu den bedeutendsten historischen Zimmermannsarbeiten der ganzen Schweiz. Nur wenige ungefähr gleich alte Dachwerke sind schweizweit noch erhalten, etwa das Museum Kleines Klingental in Basel, die Klosterkirche Kappel am Albis oder das Chordachwerk der Predigerkirche in Zürich.

Die Dachkonstruktion – ein binderloses Sparrendachwerk – war im 13. und frühen 14. Jahrhundert weit verbreitet. Sie besteht aus voneinander völlig unabhängigen, eng gereihten Gespärren, die jeweils durch eine Kehl- und Hahnenbalkenlage, zwei Kreuzstreben und durch kurze Fusshölzer, sogenannte Sparrenknechte, ausgesteift sind. Nur bei jedem vierten Gespärre geht der Zerrbalken als Bundbalken durch. Die übrigen Gespärre verfügen nur über ein Stichgebälk und tragen ihren Sparrenschub durch Verkämmung mit einer auf der Mauerkrone aufliegenden Mauerlatte in die durchgehenden Ankerbalken ein.

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Einzig die Dachhaut, bestehend aus Lattung und Ziegeldeckung, verbindet die einzelnen Gespärre in firstparalleler Richtung konsequent miteinander. Lediglich im westlichen Abschnitt des Langhauses verbinden ein paar nachträglich angebrachte, steil verlaufende Windstreben einige Gespärre. Eine eigentliche Längsaussteifung fehlt dem Dachstuhl, was hinsichtlich Erdbebensicherheit eine wesentliche Schwachstelle darstellt.

Im deutschsprachigen Raum existieren mehrere gotische Dachwerke gleicher Bauart, die sich in unterschiedlich gutem Zustand befinden. Häufig hat die völlig fehlende Längsaussteifung schon kurz nach Errichtung zu Schiefstellungen der Gespärre geführt, die dann bald durch entsprechende nachträglich angebrachte Windrispen oder Windverbände oder gar durch Subsidiärkonstruktionen, wie nachträglich eingestellte Stühle, gestoppt werden mussten.

Das historische Mauerwerk im Fokus

Das Chorgewölbe mit den aussen am Chor angeordneten Strebepfeilern, die Arkadenpfeiler des Langhauses mit dem Obergaden und die massiven Umfassungswände der Klosterkirche bilden eine jahrhundertealte Mauerwerkskonstruktion. Voraussetzung für eine realitätsnahe Beurteilung der Erdbebensicherheit war die möglichst genaue Kenntnis ihres Aufbaus, ihrer Qualität und ihres Zustands.

Wertvolle Grundlagen für die bauingenieurfachliche Zustandserfassung und die Beurteilung der Erdbebensicherheit waren die Erkenntnisse der früheren denkmalpflegerischen Bauwerksuntersuchungen und Informationen über nachweisbare Überarbeitungen der Konstruktion im Lauf der Jahrhunderte. So ist etwa die Verbindung des Mauerwerks der Westfassade mit dem Mittelschiff mittels Schlaudern (Zugankern) aus Stahl im Rahmen der Restaurierung in den 1890er-Jahren dokumentiert.

Bei einer früheren Gesamtrestaurierung hatte die Kantonsarchäologie die vom Verputz befreiten Fassaden der Klosterkirche zeichnerisch aufgenommen. Diese Aufnahmen sowie die Inspektion der freigelegten Westfassade zu Beginn des Projekts erlaubten zuverlässige Rückschlüsse auf die Verbandsart der Mauerwerkswände. Grösstenteils liegt ein Bruchsteinmauerwerk mit einem geringen Ziegelanteil vor. Die Mauerung unterliegt einer gewissen Regelmässigkeit, es finden sich immer wieder Bestrebungen zu durchgehenden Lagerfugen. Doch trotz dieser Erfassung blieben Unsicherheiten bezüglich der Qualität und des inneren Aufbaus der Natursteinmauerwerkswände. Daher erfolgte in Absprache mit der Kantonalen Denkmalpflege eine nicht­invasive Sondierungskampagne mittels Ultraschall- und Georadarmessungen.

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Vorgängig wurden aber grobe Berechnungen in Form von rechnerischen Grenzwertbetrachtungen durch Variation der Eingabeparameter, etwa der effektiven Wanddicken, angestellt. Damit liessen sich die notwendigen Untersuchungsbereiche identifizieren. Erfreulicherweise wiesen die überprüften Bereiche keine Schwächungen, Hohlräume oder erkennbare Schalenfugen im Mauerwerksgefüge auf.

Die Verzahnung der Steine, die die Qualität des Querverbands innerhalb der Mauer abbildet, blieb aller­dings offen. Ihr wurde bei der rechnerischen Beurteilung der Erdbebensicherheit über Sicherheitsfaktoren approximativ Rechnung getragen. Der Verzicht auf invasive Bauwerksuntersuchungen zur besseren Erkundung des Wandaufbaus, etwa auf Kernbohrungen, schonte die historische Bausubstanz.

Überprüfung lokalen Versagens

Mit diesem zusammengetragenen Wissen ging es an die detaillierte Überprüfung des Tragwiderstands im Erdbebenfall. Massgebend bei historischen Kirchen sind lokale Bruchmechanismen. Dies lässt sich aus der systematischen Beobachtung der Schäden und Auswirkungen von Erdbebenereignissen in Italien (Friaul 1976, Umbrien und Marken 1997, Molise 2002, L’Aquila 2009) ableiten. Daher lag der Fokus auf der rechnerischen Überprüfung potenzieller lokaler Versagensmechanismen, die einen Teil der im Erdbebenfall beschleunigten Gesamtmasse des Bauwerks umfassen.

Die Analyse erfolgte anhand von Makroelementen. Sie können näherungsweise von der restlichen Struktur unabhängig betrachtet werden und umfassen etwa einzelne Konstruktionseinheiten, wie beispielsweise die Arkadenpfeiler mit dem Obergaden, die Wände der Seitenschiffe, die Giebelwand, das Gewölbe mit Strebepfeilern oder das Dachwerk. Besondere Aufmerksamkeit galt denjenigen Versagensmechanismen, die mit dem kritischen Verhalten der Mauerwerkswände bei Beanspruchung quer zur Wandebene zusammenhängen.

Das Tragverhalten ablesen

Aufgrund des Fehlens einer erkennbaren Längsaussteifung konnte kein rechnerischer Nachweis des Dachwerks erbracht werden. Allerdings muss eine gewisse Längsaussteifung des Daches faktisch vorhanden sein. Dies zeigt ein Blick auf seinen guten Erhaltungszustand. Wie grenzt man aber eine Aussteifung ein, wenn sie sich rechnerisch nicht nachweisen lässt?

Von einem kann man getrost ausgehen: In ihrer 700-jährigen Standzeit sind zahlreiche (meteorologische) Stürme über die Kirche hinweggefegt. Diese brachten erhebliche Winddrücke auf die an das Dachwerk angeschlossene Westfassade auf. Dennoch weisen die in der Westfassade befindliche Masswerkrose und der Giebel keine winddruckbedingten Schäden auf. Und auch die Gespärre des Dachwerks lassen keine Schäden durch Westwinde erkennen.

Die tatsächlich wirksame Längsaussteifung solcher Dachwerke aus binderlosen Gespärrereihungen hängt von zahlreichen Parametern wie der Art der ­Eindeckung, dem Deckungsmaterial, der Reibung der Dachhaut, der Steifigkeit der Dachlatten und deren Einspannung an den Auflagepunkten ab. Da diese Parameter kaum quantifizierbar sind, lassen sich die Effekte der Längsaussteifung durch Scheibenbildung in der Dachdeckung und durch die Durchlaufwirkung der Dachlatten rechnerisch nicht erfassen.

Und hier musste nun ingenieurfachliches Denken die rechnerischen Ergebnisse vervollständigen. Aufgrund der rechnerisch fehlenden Längsaussteifung des Daches wäre das Bauwerk hinsichtlich Erdbebensicherheit nicht zulässig: Aus der Analyse der Erdbebensicherheit nach SIA 269/8 resultierte ein massgebender Erfüllungsfaktor aeff unter 0.25. Für die gegebene Bauwerksklasse wäre der Mindesterfüllungsfaktor amin = 0.25 nötig, um die normativen Mindestanforderungen an die Personensicherheit zu erfüllen. Alle anderen tragenden Bauteile weisen hingegen einen Erfüllungsfaktor aeff ≥ 0.25 auf (Tragfähigkeit der Gewölbekonstruktion und Strebepfeiler: aeff ≥ 0.25; Lokale Kippmechanismen aus der Ebene: aeff = 0.25; Trag­fähigkeit des Tragwerks in der Ebene: aeff > 1.0).

Und auch nur wenige potenziell personengefährdende Einbauten sind vorhanden: Kunstgegenstände und Beleuchtungselemente. Die visuelle Inspektion deren Befestigung ergab, dass das Erdbebenrisiko für Personen durch Umkippen bzw. Herabfallen dieser ­Elemente gering ist. Zur Einhaltung des minimalen Personenschutzes waren also Erdbebensicherheitsmassnahmen aufgrund der fehlenden Aussteifung des Dachwerks nötig.

Die ausführliche Version dieses Artikels sowie weitere Artikel zum Thema in TEC21 11/2023 «Öfter als gedacht: Erdbebenertüchtigung denkmalgeschützter Gebäude».

Klosterkirche Königsfelden
 

Die Kirche des ehemaligen Franziskaner-Doppelklosters Königsfelden im Aargau ist – nicht zuletzt aufgrund des hohen Rangs als ehemalige Habsburger-Grablege und dank der ausgezeichneten Glasmalereien im Chor – eines der bedeutendsten Denkmäler der mittelalterlichen Sakralarchitektur in der Schweiz. Die archivalisch überlieferte Grundsteinlegung der Klosterkirche geht auf das Jahr 1310 zurück. Die Klosterkirche erfuhr im Lauf der Jahrhunderte mehrere Umbauten und Restaurierungen. 1770 erfolgte die feierliche Übersetzung der kaiserlich-königlichen-auch-herzoglich-österreichischen höchsten Leichen ins Kloster St. Blasien.

 

Das heutige Erscheinungsbild ist zum Teil das Ergebnis der gesamtheitlichen Restaurierung in den 1890er-Jahren durch den Architekten Robert Moser. Heute gehört die Klosterkirche zum Museum Aargau. In ihr finden kulturelle und kirchliche Veranstaltungen statt.

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