«Das kehrt un­se­ren Be­ruf nicht grund­le­gend um»

Die Stiftung Habitat bebaut im Basler Lysbüchelareal Süd drei Parzellen. Wir unterhalten uns mit dem Projektleiter der Stiftung, Jo Dunkel, und mit Marc Loeliger von Loeliger Strub Architektur, die mit einem Neubau beauftragt sind, über die Grundlagen einer funktionierenden Kreislauf­wirtschaft – darunter gesetzliche Vorlagen, Vorfinanzierung, gedeckeltes CO2 und Wettbewerbsprogramme.

Publikationsdatum
17-03-2022

Jo Dunkel, geboren 1962 und aufge­wachsen rund um Zürich. Nach einer 20 jährigen Karriere als Schauspieler und Performer kam er über Projekt­leitungen im Kunst- und Museumsbereich 2010 als Projektleiter für Bauten zur Stiftung Habitat mit Fokus auf nach­haltiges Bauen.

Marc Loeliger, Architekt ETH SIA BSA, diplomierte 1991 bei Prof. F. Ruchat-­Roncati und arbeitet vier Jahre in der Projektleitung der Therme Vals bei Peter Zumthor. Ab 1997 betrieb er sein eigenes Büro in Zürich und von 1998 bis 2004 war er Assistent am Lehrstuhl für Entwurf, Prof. Adrian Meyer, ETHZ. Seit 1999 ist er mit Barbara Strub tätig und seit 2005 Dozent an der ZHAW Winterthur, am Institut konstruktives Entwerfen.

TEC21: Weshalb haben Sie sich entschieden, den Bau an der Weinlagerstrasse kreislaufwirtschaftlich anzugehen?

Jo Dunkel: Zuerst war es mir ein Anliegen, die graue Energie bei dem Bau stark zu reduzieren. Dafür wollten wir zirkuläres Bauen berücksichtigen, also gebrauchte Bauteile verwenden sowie zusätzlich Strukturen schaffen, die auseinandergenommen werden können und für den Unterhalt zugänglich sind. Deshalb wählten wir Büros, die mit dem Thema umgehen können oder die grundsätzlich offen sind.

Marc Loeliger: Ich möchte betonen, dass die Nachhaltigkeit des Projekts nicht nur in der Wiederverwendung liegt. Kreislaufwirtschaft ist ein Aspekt unter vielen. Es handelt sich vor allem auch um einen sozial nachhaltigen Holzbau mit geringen Energie­bezugs­flächen von 45 m2 pro Person.

Wie stand die Stiftung insgesamt hinter den Ideen?

Dunkel: Vor zwei Jahren, als das Thema aufkam, war ein Neubau mit wiederverwendeten Bau­teilen in der konservativen Baubranche neu, es fehlte an Erfahrung und Praxis. Bei uns in der Stiftung konnte ich dies mit Überzeugungsarbeit weiterbringen, aber es war auch bei uns ein Risiko. Es gibt bis heute dieselben Fragen betreffend Kosten, Garantien, Verfügbarkeit und Lebensdauer gebrauchter Teile. Spannend wird es, wenn Bereitschaft und Mut beidseitig vorhanden sind und die Vorschläge auch von den Planern kommen.

Loeliger: Es muss jemand hinter den Ideen stehen. Nicht im Sinne eines Top-down-Vorgehens, sondern mit Idealismus und Durchsetzungsvermögen. Viele Architekten sind am Thema interessiert, das Risiko trägt aber vor allem die Auftraggeberschaft. Zusammen müssen sie zeigen, dass man mit Gebraucht­teilen arbeiten kann. Darüber hinaus sind, um dies im grossen Rahmen zu implementieren, gesetzliche Anreize nötig.

Wo sehen Sie Ansatzpunkte?

Dunkel: Es muss eine Verordnung geben, bei der die Überlegung «abreissen und neu bauen» versus «im Bestand weiterbauen» in die Beurteilung mit einfliesst. Die Verbindung von Volumen und gedeckeltem CO2 bei der Erstellung von Neubauten könnte auch eine Auflage bei der Vergabe von Baurechtsparzellen und bei der kantonalen Gesetzgebung sein.

Loeliger: In Gestaltungsplänen kann man das zwar formulieren, dort braucht es aber einen politischen Prozess. Im privaten Baurecht geht das direkter. Auf Gesetzesebene mit den langen Wegen braucht es wiederum viel Zeit. Da müssen langwierige politische Prozesse in Gang gebracht werden.

Dunkel: Wir als private Stiftung haben solche Vorgaben gemacht und von unseren Baurechtnehmenden einen limitierten Flächenverbrauch pro Person verlangt und dass sie die Mietzinse nach Zürcher Kostenmietmodell1 deckeln. Das kann man beim CO2 auch machen. Unsere Baukultur hat sich in den letzten Jahren rasant in eine falsche Richtung entwickelt. Jetzt muss man einen «Reset» machen und zeigen, wie es besser geht.

Loeliger: Die Ermittlung der Erstellungs­energie und des CO2-Ausstosses von Bauteilen und die Einsparung durch gebrauchte Teile sind aufwendig. Diese Gesetzmässigkeiten müssen wir verstehen lernen und uns annähern, es lässt sich nicht etwas, das perfekt funktioniert, aus der Schublade ziehen.

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«Es soll­te nicht mehr ge­klebt wer­den!»: Wiederverwendung geht auf verschiedene Weise: Kerstin Müller vom Baubüro in situ lädt dazu ein, vor dem Abbruch eines Gebäudes nochmals genau hinzuschauen. Und sie fordert die Kostenwahrheit im Vergleich mit neuwertigen Produkten.

Wie hat sich der Stellenwert der Kreislaufwirtschaft bei dem Projekt an der Weinlagerstrasse entwickelt?

Dunkel: Der Projektvorschlag von Loeliger Strub war zurückhaltender mit Ideen zur Kreislaufwirtschaft als andere Wettbewerbsbeiträge. Er hatte aber überzeugende Ansätze, von wo welche Elemente stammen. Weil wir das Büro Zirkular als Fachplanungsbüro für Kreislaufwirtschaft und Re-use bei­zogen, hatten wir später eine grosse Palette an ­Ideen, die wir auf ihre Machbarkeit hin studierten. Der Entscheid für ein Element ist eine Frage von Aufwand und Ertrag, wie viel CO2 man einspart. Kostenmässig umfassen jetzt die wieder verwendeten Materialien mit den Honoraren gemäss KBOB2 schätzungsweise ein Viertel der Erstellungskosten inklu­sive Honorare – das entspricht etwa 260 t.

Loeliger: Als Dozent an der Fachhochschule Winterthur habe ich mit den Studierenden das Thema untersucht. Einerseits anhand der Halle 118 (vgl. Sonderheft «Zirkuläre Architektur») auf dem Lagerplatzareal in Winterthur, wo wir Projekte mit dem gleichen Bauteilkatalog wie Baubüro in situ entwarfen. Anderseits planten wir eine Schule aus Abbruchteilen, die vor Ort aus Abbruchobjekten von SBB-Werkstätten anfielen. Aber an der Weinlagerstrasse war die Ausgangssituation ohne Katalog anders. In der Ausschreibung von Habitat stand «Finden Sie eine Strategie, um mit wiederverwendeten Bau­teilen zu arbeiten». Gesucht waren Lösungen, die dank Re-use die Vorgaben der 2000-Watt-Gesellschaft deutlich unterschreiten und Konstruktionen, die einfach demontierbar und trennbar sind. Wir sind als Architektinnen indirekt auch Bauteilvermittler.

In der Planungszeit der Weinlagerstrasse stehen drei Ab­brüche vor Ersatzneubauten an. Wir schlugen vor, von dort Bauteile wie Fensterläden, Ziegel oder Holz­balken zu nehmen. Das ist eine Möglichkeit zur Kreislaufwirtschaft, zu der wir direkt Zugang haben.

Woher sind die Forster Küchen für den Bau in Basel?

Loeliger: Wir schlugen im Auftragsverfahren Re-use-Küchen vor. Später erfuhren wir vom Abbruch einer Genossenschaftssiedlung in Zürich mit 44 etwa 15-jährigen Küchen und mussten innert kurzer Zeit überprüfen, ob diese passten und ihr Zustand für die Wiederverwendung gut genug war. Das Büro Zirkular berechnete die Kosten von Demontage, Palettierung, Zwischenlagerung, Aufbereitung, Reinigung und Wiedereinbau der Gratis-Küchen.

Die Rechnung belief sich auf 91 % des Werts neuer Küchen aus dem KV. Später reduzierten sich die Kosten auf 70 %, da das Lager günstiger war. Da wir 40 t CO2 gegenüber neuen Küchen einsparten, entschied Habitat, die gebrauchten zu verwenden. Wir hatten damals erst eine Grobkostenschätzung und noch kein Baugesuch. Ich finde es mutig, zwei Jahre vor dem Bau diese Elemente zu finanzieren.

Dunkel: Sozialwerke bauten die Küchen aus und reinigten sie. Auch von der Firma Forster war jemand dabei, für sie war es seltsam, dass sie so langlebige Küchen bauen, die wieder verwendet werden – doch sie haben das Potenzial erkannt. Darüber hinaus ist es interessant, zu sehen, wie viele Schritte es braucht, bis alles katalogisiert, vermasst und palettiert ist. Heute beim Bauprojekt stellt sich die Frage, wer die Küchen zu welchen Konditionen einbaut und die Garantien übernimmt. Voraussichtlich werden solche bei den Neubauteilen notwendig sein, zum Beispiel eine neue Dichtung an einem alten Wasserhahn. Wenn dagegen eine 50-jährige Armatur bricht, haben wir Rückstellungen. Wir rechnen mit einem Neupreis, und das Geld, das wir mit den günstigen Re-use-Teilen sparen, geht in einen Garantiefonds, der sich auf 10 % der KV-Summe beläuft.

Wohnhaus Weinlagerstrasse
Im Basler Stadtteil Lysbüchel Süd will die Stiftung Habitat als Eigentümerin günstigen, städtischen Wohnraum schaffen und das St.-Johann-Quartier erweitern. 12 400 m² Land wurden in 15 Parzellen aufgeteilt. Zwölf davon gibt die Stiftung im Baurecht ab. Drei Parzellen bebaut sie selbst: Das ehemalige Coop-Weinlager wird von Esch Sintzel Architekten zum Wohnhaus umgebaut, an der Ecke Lothringer-/Beckenstrasse ist ein Wohnhaus für Musikerinnen und Musiker geplant. An der Ecke Weinlager-/Lothringerstrasse wird die Stiftung ein Wohnhaus mit einem Schwerpunkt auf Wohnungen für Ein- und Zweipersonenhaushalte, einige Familienwohnungen, ein Anteil betreutes Wohnen und Gewerberäume im Erdgeschoss bauen. Im Auswahlverfahren mit drei Architekturbüros haben Loeliger Strub aus Zürich mit ihrem Projekt, einer Kombination eines Punkthauses an der Weinlagerstrasse zum Lysbüchelplatz, einem strassenbegleitenden Langhaus an der Lothringerstrasse und einem verbindenden Erschliessungsgerüst überzeugt. Das Haus wird als Holzbau mit einem hohen Anteil an wiederverwendeten Bauteilen erstellt. Es soll ­voraussichtlich im Jahr 2024 fertiggestellt sein und somit zum Schlussstein von Lysbüchel Süd werden.


Optimal wäre, wenn die Teile einer Abbruchsiedlung im Neubau vor Ort wieder verwendet werden könnten. Muss das im Wettbewerb fixiert werden?

Loeliger: Wir haben das in anderen Beiträgen vorgeschlagen – aber wenn das nicht explizit im Programm steht, gibt es noch eine grosse Skepsis. Zudem genügen Vorreiter wie die Stiftungen Abendrot oder Habitat nicht, die Bauauftraggeber müssen generell sensibilisiert werden, damit ein Grundvertrauen in die Wiederverwendung entsteht. Es ist schwierig, wenn man Kreislaufwirtschaft nicht von Beginn an einfordert. Aber langsam steigt auch die öffentliche Hand ins Boot. Basel-Stadt schreibt das Thema Re-use in Studienaufträgen aus, und ich bin in einem Beurteilungsgremium der Stadt Zürich für eine Recycling-Halle, bei dem der Studienauftrag mit einem Bauteilkatalog ausgeschrieben wird.

Dunkel: Das ist ein wichtiges Bekenntnis der Auftraggeber, aus Nachhaltigkeitsgründen mit dem zu arbeiten, was vor Ort ist, und damit sich die Architekten von Anfang an darauf einstellen können.

Die ausführliche Version dieses Interviews ist erschienen in TEC21 8/2022 «Kreisläufe stärken».

Anmerkungen

 

1 Nach dem «Zürcher Modell» bezeichnet die Kostenmiete die Mietpreise, die sich aus den effektiven Kosten für
den Boden und den Bau sowie höchstens 3.25 % des Gebäudeversicherungswerts für Abgaben, Abschreibungen, Versicherungen, Unterhalt und Verwaltung ergeben.

 

2 Koordinationsgremium der Bauorgane des Bundes, für Fragen des Submissionswesens, der Teuerungs­abgeltung auf Bauleistungen und der Architekten- und Ingenieurhonorare.

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