«Es soll­te nicht mehr ge­klebt wer­den!»

Wiederverwendung geht auf verschiedene Weise: Kerstin Müller vom Baubüro in situ lädt dazu ein, vor dem Abbruch eines Gebäudes nochmals genau hinzuschauen. Und sie fordert die Kostenwahrheit im Vergleich mit neuwertigen Produkten.

Publikationsdatum
29-09-2020
Caspar Schärer
Architekt, Publizist und Raumplaner; Generalsekretär BSA und Co-Kurator der Biennale svizzera del territorio (ehemals: Biennale i2a)

Frau Müller, Sie arbeiten beim Baubüro in situ, das sich ganz der Nachhaltigkeit verschrieben hat. Ein wichtiges Thema ist dabei die so genannte Kreislaufwirtschaft, also unter anderem das Wiederverwenden von Baumaterial und Bauteilen. Wo stehen wir im Moment bei der Kreislaufwirtschaft?

Aus unserer Sicht setzt Kreislaufwirtschaft lange vor dem Material ein, nämlich schlicht beim Erhalt von Gebäuden und Arealen. Was ich nicht abbreche, muss ich nicht rezyklieren. Wenn wir die Kreislaufwirtschaft in die Zukunft denken, geht es um Materialien und die Art der Fügung. Es sollte möglichst nicht mehr geklebt werden!
Wir stehen erst ganz am Anfang. Beim Beton sind wir beispielsweise noch sehr weit von einem echten Kreislauf entfernt. Und man darf dabei nicht vergessen, dass wir beim Recyclingbeton lediglich den Kies ersetzen, also den Primär- durch einen Sekundärrohstoff ersetzen. Den Zement, der ja soviel CO2 zur Herstellung benötigt, brauchen wir weiterhin. Es braucht also einen breiten Blick und breites Verständnis für die Thematik.
 

Welche Materialien und Teile eigenen sich denn gut?

Es kommt ganz darauf an, mit welchem Gedanken Sie ans Werk gehen. Soll CO2 eingespart werden oder geht es um Kosten oder gar um die Baukultur? Für eine CO2-Reduktion eignen sich generell alle Metalle und insbesondere Stahlteile, zum Beispiel Träger. Ein intakter Träger kann problemlos ausgebaut und woanders wieder eingesetzt werden. Wer auf die Kosten achten muss, könnte komplexe Bauteile wie etwa Fenster wiederverwenden. Bei der Baukultur denke ich zuerst an historische oder prägende Elemente, die schön sind und viel zur Identität eines Ortes oder eines Gebäudes beitragen. In Winterthur bauen wir alte Industriefenster von einem Gebäude auf dem gleichen Areal woanders neu ein und doppeln sie für die Energiebilanz zusätzlich auf.
In Zeiten des Klimawandels müsste man jedoch den Gedanken der Wiederverwendung auf Gebäude und Bauteile ausdehnen, die uns auf den ersten Blick vielleicht nicht «gefallen». Je neuer die Bauteile sind, desto einfacher lassen sie sich normativ wieder einsetzen.


In welchen Projekten des Baubüros in situ spielt die Wiederverwendung eine wichtige Rolle?

Das Baubüro in situ hat sich schon immer für die Wiederverwendung von Arealen, Gebäuden und Bauteilen interessiert. In der Vergangenheit haben wir unser Wissen und unsere Erfahrung hauptsächlich bei Sanierungen eingebracht. Seit etwa fünf Jahren arbeiten wir auch im Neubaubereich mit wiederverwendetem Material. Ein Pilotprojekt wird gerade mit der Halle 118 in Winterthur realisiert und in Basel wird zur Zeit im Lysbüchel-Areal ein altes Verteilzentrum zu ELYS, einem Kultur- und Gewerbehaus umgebaut. Für ein Museumsprojekt in Münchenstein haben wir zehn demontierte Hochspannungsmasten katalogisiert und eingelagert. Man darf gespannt sein, in welcher Gestalt die Teile dort wieder auftauchen…


Wie muss man sich die Wiederverwendung von Bauteilen auf Ihren Baustellen konkret vorstellen?

Zuerst suchen wir auf dem Areal, was es schon gibt. Beim ELYS zum Beispiel liessen sich die Trapezbleche einer alten Fassade problemlos weiterverwenden, ebenso die Absturzsicherungen. Die Dämmung wurde aus Abschnitten erstellt. Für die Fenster fragten wir in einem Umkreis von hundert Kilometern alle Fensterfabriken nach Überproduktionen oder Lagerfenster an. Aus den vielen verschiedenen Formaten, die da zusammenkamen, entwickelten wir ein eigenes Fassadenthema.


Was sind im Moment die grössten Hindernisse auf dem Weg zu einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft?

Ein grosses Problem ist die Rechtslage: wie die Verträge und die Gewährleistungen aussehen, wenn man mit wiederverwendeten Materialien oder Bauteilen arbeitet? Dieses Thema muss unbedingt auf einer höheren gesetzgeberischen Ebene angegangen werden. Und auch unsere heutigen Baunormen sind nicht auf die Wiederverwendung ausgelegt.
Dann natürlich die Kosten: Wiederverwendetes stehen in Kostenkonkurrenz zu neuen Materialien, die ihre wahren Kosten überhaupt nicht abbilden. Es gibt gar keine Kostenwahrheit, keine fairen Bedingungen! Schauen Sie sich die Energienachweise an: Darin ist alles geregelt für den Betrieb, das haben wir im Griff. Aber die Erstellung eines Gebäudes wird nicht mit einbezogen. Das ist ein blinder Fleck.


Wie könnte man im Kleinen mit der Wiederverwendung beginnen?

Jede kleine Massnahme hilft. Zögern Sie einen Moment, bevor Sie ein Haus abbrechen. Könnten Sie die Fenster nicht doch noch für den Neubau verwenden? Sind Sie sicher, dass das Metall nichts mehr taugt? Und wenn Sie etwas Neues hinzufügen: Achten Sie darauf, dass es sich wiederverwenden lässt. Es ist eigentlich nur eine Frage des Daran-Denkens. Es ist überhaupt nicht schwer.

Kerstin Müller nimmt an der Opening session «Long live the material» im Rahmen der Schweizer Biennale des Territoriums teil

Schweizer Biennale des Territoriums: Re-Use
 

Die dritte Ausgabe der «Biennale svizzera del territorio» (ehemals: Biennale i2a)  widmet sich vom 1. bis 3. Oktober dem Thema Re-Use.

An drei Tagen werden bei Konferenzen, Ausstellungen, Filmvorführungen und Stadtspaziergängen zwischen Wissenschaftlern, Urbanisten, Architekten und Landschaftsarchitekten Projekte für die Wiederverwendung von Stadtteilen, Gebäuden und Brachflächen vorgestellt und diskutiert.


Informationen und Anmeldung:
www.biennale.i2a.ch

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