Her­zog & de Meu­ron rü­cken die Ge­sund­heit in den Fo­kus

Eine Sommerausstellung in London bespielt drei Säle in der von David Chipperfield umgebauten Erweiterung der Royal Academy mit dem Œuvre von Herzog & de Meuron: Neben der Frage, wie Architektur ausgestellt werden könne, stehen Spital- und Rehabilitierungszentren im Mittelpunkt.

Publikationsdatum
17-07-2023

Kopfüber betrachtet scheinen die Menschen alle zu tanzen, dachte sich Louise Lemoine in ihrer Kindheit. Sie begleitete ihren an den Rollstuhl gebundenen Vater zu Behandlungen in verschiedene Spitäler und überlegte sich, dass das Gewicht der Körperteile in einer solchen Umkehrung verschwände. Die Körper, wie die Architektur, kämpften kopfüber eben nicht gegen die Schwerkraft. Vielmehr bewegten sie sich schwebend durch den Raum.

Im neuesten Film mit dem klingenden Titel «Rehab from Rehab» haben die Filmemacher Bêka & Lemoine diese Überlegung weitergesponnen. In der Basler Rehab, vor gut zwanzig Jahren fertiggestellt und kürzlich erweitert und aufgestockt, wird das Wohlbefinden nicht nur mit medizinischen Mitteln und Techniken, sondern auch mit jenen der Architektur gefördert. Hätte ihr Vater hier behandelt werden können, so denkt es sich Louise Lemoine im neuen Film, wäre er vielleicht etwas länger am Leben geblieben. Mit schwungvollen Rhythmen hinterlegt, gleitet das Personal des Rehabilitationszentrums durch die Räume, als ob alle tanzen würden.

Leben schenken

Ein grösseres Kompliment an die Architektur, als dass sie Leben schenken und verlängern könne, gibt es nicht. Die Räume der Basler Rehab sind Teil der Therapie und werden, so die Erzählung des Films, selbst zu Therapeuten. «Rehab from Rehab» erscheint Ende des Sommers. In der bis Mitte Oktober in London gezeigten Schau zur Architektur von Herzog & de Meuron ist von dem noch nicht veröffentlichten Film eine speziell angefertigte 37 Minuten lange Version zu sehen. Und wer es nicht bis London schafft: Im Schweizerischen Architekturmuseum in Basel gibt es bis Ende August eine grosse Schau zum Werk von Bêka & Lemoine zu erleben.

Die Botschaft des Films, und der Londoner Ausstellung überhaupt, ist deutlich: Architektur besteht nicht nur aus funktionalen Abwicklungen. Es ist das Zusammenspiel von Raum und Material, von Blickrichtungen und Bewegungen, von Lichteinfällen und anderen Sinneswahrnehmungen, die das Wohlbefinden massgeblich beeinflussen. Dies am Beispiel von Bauten aus dem Gesundheitswesen aufzuzeigen, ist besonders sinnfällig, wie die Schau mit vielen Beispielen aus dem Werk von Herzog & de Meuron anhand des beinahe fertiggebauten Kinderspitals Zürich eingehend und in vielen Facetten beweist.

Dass eineinhalb der drei Ausstellungsräume Bauten für das Gesundheitsweisen gewidmet sind, war keine programmatische Entscheidung, sondern dem Zeitpunkt der Ausstellung geschuldet: Der Film ist eine Neuheit, das Kinderspital seit 2011 geplant, also lange erwartet. Die Themensetzung ist ein Glücksfall. Sie zeigt, wie wichtig die Atmosphäre der Räume auch bei Grossprojekten wie Spitalbauten ist.

Christine Binswanger, die für die Basler Rehab wie für das Kinderspital Zürich verantwortliche Partnerin, unterstrich während des Eröffnungsanlasses, dass sich bei Spitälern eine Investition in die Architektur in jedem Fall lohne, denn die Baukosten entsprächen etwa den Kosten für ein bis zwei Jahre Betrieb. Sie werden also in kurzer Zeit amortisiert und zahlen sich langfristig aus.

→ Ein Interview mit Christine Binswanger zur Planung des Kinderspitals Zürich lesen sie hier.

Spital- und Rehabilitierungszentren sind nicht nur Grossaufträge für leistungsstarke Firmen wie Herzog & de Meuron, die unterdessen weltweit über 600 Personen beschäftigen. An diesen Bauten lässt sich besonders schlüssig aufzeigen, wie gute Architektur mit einer das Wohlbefinden fördernden Atmosphäre einen Unterschied machen kann. Also ist es auch höchste Zeit, dass Architekten sich dem Spitalbau nicht nur als logistische Tüftelei, sondern als ganzheitliche gestalterische Aufgabe widmen.

Architektur ausstellen

Am Eingang der Ausstellung stellt ein grosser Wandtext die Frage, wie Architektur ausgestellt werden könne. Für das Büro Herzog & de Meuron sei dies eine Forschungsfrage wie jeder Entwurf. Die Ausstellung leuchtet eine Vielzahl von möglichen Antworten aus. Im mittleren der drei Räume dokumentieren gefilmte Alltagsszenen und Filmstills auf drei kleineren Bildschirmen das gegenwärtige Treiben an den Beispielen einzelner für das Basler Architekturbüro wichtigen Bauten. Auf der Rückseite der Projektionswand zeigt ein Mini-Kino den 37-Minuten-Schnitt von «Rehab from Rehab».

Bevor aber die alltägliche Nutzung und die Dimension der Zeit dieser Räume filmisch untersucht wird, präsentiert die Ausstellung ein Panorama des Schaffens in vielerlei anderen Medien: Im ersten Raum stehen drei Vitrinen mit kleinen und grossen, skizzenhaften und bis ins Detail perfektionierten Objekten. Es sind Studien- und Präsentationsmodelle, die Überlegungen zu Form, Volumen, Material, Produktion und räumlichen Bezügen offenlegen. Ausgestellt sind sie in hohen Vitrinen aus Holz und Glas, die jenen des firmeneigenen Archivs im Kabinett in Münchenstein nachgebaut sind. Die Ausstellungsarchitektur ist also mehr als nur Schaukasten, es ist auch eine Reise in die unteren Geschosse des Helsinki-Hochhauses auf dem Basler Dreispitz.

An den Wänden dieses ersten Raums hängen sechs Fotografien von Thomas Ruff und drei von Andreas Gursky, beide Weltstars der Fotografie. QR-Codes erlauben jenen, die sie in ihre smarten Geräte einlesen, virtuelle Rundgänge durch einzelne Bauten. Die unterschiedlichen Exponate orchestrieren ein Feuerwerk der Möglichkeiten, Architektur ins Museum zu bringen: Modelle für Volumen- oder Materialstudien, fotografische Manipulationen, Dokumentarfilme, erzählerische Filme, Pläne, Baustellenaufnahmen, Prototypen, Augmented Reality – klar ist am Ende nur, dass Architektur ausserhalb ihres eigentlichen Orts nicht reproduziert, sondern nur repräsentiert werden kann.

Vor Ort

Wer die Londoner Schau von Herzog & de Meuron über den Hof und Haupteingang der Royal Academy betritt, durchläuft die Passage des vor fünf Jahren fertiggestellten Umbaus von David Chipperfield Architects. An wenigen neuen Verbindungen und Einbauten offenbart sich der Eingriff, vor allem aber versteht sich diese Museumserweiterung als Einfühlung in den Bestand. Einen solchen Bezug zum Ort versucht die Schau der Basler Architekten nicht. Die hier installierte Architekturvermittlung liesse sich ohne Weiteres an einen anderen Ort bringen.

So ist zum Schluss ein Vergleich mit der kürzlich zu Ende gegangenen Ausstellung «Dichten» von Loeliger Strub im Museum im Bellpark in Kriens bei Luzern interessant. Dort bildete das herrschaftliche Haus, in dem das kleine Museum untergebracht ist, den Ausgangspunkt. Die Architektinnen und Architekten des Zürcher Büros haben die einstige Wohnlichkeit der Villa Florida herausgeschält, dabei Küche, Bad, Waschküche, Treppenhaus und Balkone zu den Wohnzimmern ebenbürtigen Räumen erklärt und mit Transplantaten der eigenen Architektur zu einer neuen Erzählung verdichtet. Es wird spannend werden, die zweite Iteration dieser gedichteten, verdichteten «Dichten» im kommenden Winter im Architekturforum Zürich zu besuchen, und weitere Überlegungen zu den Möglichkeiten des Ausstellens von Architektur anzustellen.

Herzog & de Meuron zeigen in London die mediale Vielfalt der Architekturvermittlung in fast allen bisher bekannten Spielarten. Sie tun dies auf der Höhe der Zeit. Aber gleichzeitig zeigt sich auch, dass das Erleben von Räumen ohne Bezug zum Ort kaum möglich ist. So bleibt uns nichts anderes übrig, als nach dem Betrachten der Modelle, Pläne, Fotos und Filme die Augen zu schliessen und in den Raum im eigenen Kopf einzutauchen. Erst dort sind die Räume erlebbar – in der von der Ausstellung hervorgerufenen Imagination (mit oder ohne Augmented Reality, hier sind die Besucherinnen und Besucher in London auf angenehme Weise frei) und aus den wachgerufenen Erinnerungen an die Besuche in diesen Orten.

Die Ausstellung «Herzog & de Meuron» an der Royal Academy of the Arts in London läuft noch bis 15. Oktober 2023.

 

Weitere Infos: royalacademy.org.uk

Die Ausstellung «Homo urbanus – A Citymatographic Odyssey by Bêka & Lemoine» im S AM in Basel ist noch bis 27. August 2023 zu sehen.

 

Weitere Infos: sam-basel.org

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