«Jedes Bauteil kann wiederverwendet werden»
Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine geht eine immense Zerstörung der Infrastruktur vor Ort einher. Der gemeinnützige Verein RE-WIN, gegründet im September 2022 von einer kleinen Gruppe von Architekturschaffenden, liefert seither gebrauchte Fenster in die Ukraine, um die Menschen beim Wiederaufbau ihrer zerstörten Häuser zu unterstützen.
Das Projekt bringt so humanitäre Hilfe mit dem Nachhaltigkeitsgedanken in der Architektur zusammen, denn in der Schweiz landen bei einem Umbau oder Abriss viele Fenster auf der Müllkippe, während sie in der Ukraine dringend benötigt werden. Wir haben Johann Petersmann, einen der Protagonisten des Wiederaufbaus der Ukraine getroffen, um über die Ideen und Herausforderungen des Projekts zu sprechen.
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Die Ursprungsidee von Re-Win ist es, Bauteile wiederzuverwenden. Wie entstand die Idee, ReUse-Fenster aus der Schweiz in die Ukraine zu liefern?
Der Grundgedanke kommt von Barbara Buser aufgrund ihrer jahrelangen Arbeit in Afrika, die sie auch dazu motiviert hat, die Bauteilbörse Basel und das baubüro in situ zu gründen. Beide setzen sich intensiv mit der Wiederverwendung von Bauteilen auseinander. Als Architekten machen wir leider die Erfahrung, dass die meisten ausgebauten Bauteile in der Schweiz rezykliert und nicht wiederverwendet werden. Der Gedanke ist also immer da: Welche Dinge kann man noch brauchen? Und wo ist der Wiedereinsatz sinnvoll?
Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, war uns klar, dass dort Fenster in riesigen Mengen kaputt gehen. Wenn durch einen Bombenabwurf Fensterscheiben zerstört werden, ist man zu Hause nicht mehr geschützt. Das Projekt «Fenster für die Ukraine» ist die Fortführung von Barbara Busers Initiative in Sarajevo vor 25 Jahren. Damals ist in ganz Sarajevo kein Fenster heil geblieben. So hatte die Bauteilbörse damals schon den Transport von gebrauchten Fenstern aus der Schweiz nach Sarajevo organisiert. Dort fand der Einsatz nach dem Ende des Kriegs statt, während in der Ukraine noch immer Krieg herrscht. Deshalb ist der Aufwand in der Ukraine grösser.
Wie kam der Kontakt in die Ukraine zustande?
Durch Ukrainer:innen in der Schweiz. Anna Buser, eine Mitgründerin von Re-Win, ist neben ihrer Stelle als Forscherin an der ETH Zürich im Bereich der Flüchtlingshilfe aktiv und verfügte bereits über ein Netzwerk in die Ukraine. Dadurch konnten wir herausfinden, ob es sinnvoll ist, in der aktuellen Situation Fenster in die Ukraine zu schicken. Und auch, welche Grössen von Fenstern gebraucht werden können.
Weil nicht jedes Schweizer Fenster in die Ukraine eingebaut werden kann?
Genau. Aber auch, ob es sich lohnt, zweifach oder nur einfach verglaste Fenster zu liefern. Das Schlechteste wäre, etwas zu schicken, was dort keinen Gebrauch hat und die Menschen in der Ukraine als Müll belasten würde.
Wie war die Resonanz?
Es wurde schnell klar, dass es am wichtigsten ist, Orte zu finden, zu denen man Zugang hat. Ob man zum Beispiel Fenster an Schulen oder Krankenhäuser spenden kann. Unerlässlich sind auch Kontakte vor Ort, die die Verteilung der Fenster organisieren – damit die Fenster nicht verkauft statt gespendet werden. Durch unser Netzwerk fanden wir Leute, die uns das garantieren konnten.
Wie ist der Ablauf vom eingebauten Schweizer Fenster bis zum Fenster, das in der Ukraine wieder eingebaut wird?
Wir retten Fenster in der Schweiz vor der Verschrottung. Wir sammeln sie in drei Zwischenlagern und organisieren den Transport in die Ukraine. Dort angekommen, wird die Verteilung lokal geregelt. Für den Transport arbeiten wir mit Firmen zusammen, die Produkte aus der Ukraine in die Schweiz liefern. Statt die LKW leer zurückfahren zu lassen, versuchen wir, sie mit Fenstern zu füllen. Das genaue Timing ist schwierig, da wir erst sehr spät wissen, wann ein Lastwagen wo in der Schweiz ankommt.
Besteht Interesse vonseiten der Fahrer und Spediteurunternehmen, dass sie Fenster auf dem Rückweg laden?
Ja. Wir bezahlen für den Transport der Fenster. Wenn die LKW innerhalb von drei Tagen keine Ladung finden, müssen sie leer zurückfahren und verdienen nichts.
Müssen Sie auch Abklärungen mit dem Zoll treffen?
Das ist ein Prozess, bei dem wir kontinuierlich dazu lernen. Am Anfang dachte ich ganz naiv, dass ich einfach beim Zoll anfragen könnte und mir da jemand helfen wird. Erst nach drei bis vier Tagen habe ich eine Rückmeldung erhalten. Beim zweiten Transport arbeiteten wir dann mit einem Spediteur zusammen. Wenn es sich um einen Hilfstransport handelt, reduziert sich der Preis der Verzollung. Heute müssen wir gar keine Zollgebühren mehr bezahlen, um die Fenster aus der Schweiz in die Ukraine zu bringen.
Bei Import-Export-Geschäften muss man die Ware sehr detailliert angeben. Das ist schwierig, da wir erst im letzten Moment wissen, wie viele Fenster in den Lastwagen hinein passen. Zuerst habe ich mir mit dem Erstellen von detaillierten Listen mit den Mengen und Massen der geladenen Fenster die Nächte um die Ohren geschlagen. Ich hatte Sorge, dass man an der Grenze den Container öffnet und ein Zollbeamter jedes Fenster kontrolliert. Heute deklarieren wir das nicht mehr so genau, sondern schreiben, dass es ein «Los», also eine Lieferung aus mehreren Teilen, mit zweihundert Fenstern ist. Was aber oft passiert ist, dass ein Container auf der Strecke stehen bleibt.
Warum?
An den Grenzen zu Polen oder Ungarn werden an den Terminals die Container umgesetzt oder der Fahrer wechselt, die Informationskette reisst ab. Dann kommt manchmal ein Container nicht zum vereinbarten Zeitpunkt am Zielort an und keiner weiss, wo er ist. Passiert so etwas, verbraucht die Recherche viel Zeit. Oft warten die Lastwagen vor der Grenze in die Ukraine auch mehrere Tage, weil es eine Warteschlange von bis zu 40 Kilometern gibt.
Warum haben Sie sich dafür entschieden, Fenster zu liefern und keine anderen Baumaterialien?
Das hat einfache Gründe. Da oft vor allem die Fenster kaputt sind, können Häuser und Wohnungen mit gebrauchten Fenstern relativ schnell wieder bewohnbar gemacht werden. Fenster sind zwar komplex zum Aus- und Wiedereinbauen, aber einfach zu handhaben beim Transport.
Es geht Ihnen beim Projekt auch um die Einsparung von CO2. Ist es sinnvoll, Fenster so weit zu transportieren?
Mit dem Ingenieur Basil Rudolf von Zirkular haben wir das durchkalkuliert. Das Ergebnis: Der Transport der Fenster aus der Schweiz über 2000 km in die Ukraine benötigt dreimal weniger CO2 als neu produzierte Fenster. Die Produktion von 100 Fenstern verursacht ca. 8500 kg CO2. Beim Ausbau, Transport und Wiedereinbau von 100 Fenstern fallen lediglich 2500 bis 3000 kg CO2 an. Diese Zahlen sind wichtig für unsere Argumentation, um Leute für das Projekt zu begeistern. Das grösste Problem ist nicht der Transport oder die Organisation in der Ukraine, sondern Ausbau und Bereitstellung von Fenstern in der Schweiz.
Wie kommen Sie an die Fenster?
Das ist die wichtigste Frage. Es beginnt mit einer Anfrage über Telefon oder E-Mail und einem ersten Gespräch. Zuerst müssen wir wissen, um was für Fenster es sich handelt und wann sie ausgebaut werden. Die meisten Menschen wollen genau wissen, was wir mit den Fenstern machen und wo sie hinkommen. Entscheidet sich jemand, seine Fenster zu spenden, kostet das die Spender:innen auch Geld – für den sorgfältigen Ausbau und die Lieferung in eines unserer Zwischenlager. Bei einer Genossenschaft, die 80 Fenster spendet, können das schnell 5000 Franken sein. Aber auch private Bauherrschaften spenden Fenster aus ihren Einfamilienhäusern.
Wie ist der klassische Ablauf bei einer Fensterspende?
Bei grossen Bauherrschaften ist der interne Ablauf komplex. Die Gespräche dauern manchmal Monate. Zum Beispiel hätten wir Fenster der UBS in Genf erhalten sollen. Zuerst erhielten wir einen Anruf vom Architekten, der begeistert von unserem Projekt war, und seine Bauherrschaft mit ins Boot holen wollte. Er hatte bereits ein Angebot von einem Fensterbauer eingeholt. Zwei Tage später erhielt ich einen Anruf der UBS. Die Verantwortlichen waren erstaunt, wie viel Geld es kostet, um 350 Fenster sorgfältig auszubauen und fragten sich, ob die Fenster wirklich in die Ukraine gehen. Dann musste ich Aufklärungsarbeit leisten.
In den Kosten ist nur der Ausbau, nicht aber Lagerung und Transport eingeschlossen?
Das kommt noch dazu. Bei so grossen Mengen ist es am geschicktesten, wenn die Bauherrschaft einen Container bezahlt. Der kostet um die 3500 Franken und wird direkt auf die Baustelle geliefert. Die Fenster werden ausgebaut und direkt in den Container geladen. Ein Transport nach Kiew liegt bei bis zu 13'000 Franken. Manche Bauherrschaften übernehmen auch diese Kosten. Die Verhandlungen sind jedes Mal anders. Manchmal haben wir jedoch nur mit dem Fensterbauunternehmen zu tun und wissen nicht mal, wer die Bauherrschaft ist.
Welche Unterstützung brauchen Sie bei Ihren Projekten heute?
Am wichtigsten ist es, mehr Verständnis in der Schweiz für die Wiederverwendung an sich zu schaffen. Nicht nur für unser jetziges Projekt, Fenster in die Ukraine zu liefern. Sondern so, dass jedes gebrauchte, intakte Bauteil wieder eingesetzt wird. Wie aber bekommt man die Produzenten dazu, ihre Betriebe kreislauffähig zu machen? Erst wenige Produkte, z. B. Stühle von Girsberger oder Küchen von Forster, kann man zurück zum Produzenten geben, um sie wiederaufbereiten zu lassen – das nennen wir «remanufacturing». Für unser Ukraineprojekt wünschen wir uns grosse Unternehmen, die uns mit ihrem logistischen Know-how unterstützen – aber auch mit Kränen, Werkzeugen, Transportmitteln – die wir für den Fensterausbau nutzen könnten.
Noch besser wäre es, mit einem etablierten Unternehmen zusammen eine Start-up-Firma für Remanufacturing zu gründen. Dann könnten wir gemeinsam ein Team schulen, das in der ganzen Schweiz Fenster ausbaut. Bisher sind wir hier aber noch nicht weitergekommen. Die schnellste und direkteste Hilfe ist natürlich eine finanzielle Spende an den Verein.
Johann Petersmann, Architekt Dipl.-Ing., studierte Architektur an der EPFL, der TU Cottbus und der Uni Stuttgart. Seit 2008 ist er tätig als Architekt und Stadtplaner in Krisengebieten wie Syrien, Palästina, Marokko und jetzt in der Ukraine. Johann Petersmann ist Lehrbeauftragter an diversen Hochschulen und Leiter des Vereins RE-WIN aus Basel seit 2022.
Der gemeinnützige Verein RE-WIN (Mitbegründerin Barbara Buser) unterstützt die Ukraine mit guten, aber weggeworfenen Fenstern aus der Schweiz und setzt sich auf nationaler wie auf internationaler Ebene für die Wiederverwendung von Bauteilen ein.
Weitere Informationen zum Projekt: re-win.ch