Die Stun­de Null

100 Jahre Moderne in den Länderpavillons

Rem Koolhaas hat für die Ausstellungen in den Pavillons das Thema ­«Absorbing Modernity 1914–2014» vorgeschlagen. Viele Länder folgten seinem Aufruf und wagen eine Annäherung an ihre Vergangenheit.

Publikationsdatum
23-07-2014
Revision
18-10-2015

Viele Kuratoren haben Koolhaas’ Themenvorschlag «Absorbing Modernity 1914–2014» dankbar aufgegriffen und die Gelegenheit genutzt, einen Rückblick auf die vergangenen hundert Jahre ihrer Architektur zu werfen. Einige haben ihre Archive geleert und einen umwerfenden Reichtum an schönen Projekten zutage gefördert: Italien und Brasilien natürlich, aber auch die Dominikanische Republik, die Türkei, Bahrain oder der Iran. In einigen Pavillons ist die Schau unüberhörbar durch politische Untertöne geprägt.

Dies ist etwa im serbischen Pavillon der Fall, wo die Auswahl der Projekte von einer beunruhigenden panslawischen Haltung zeugt, oder auch bei den Auftritten von Korea (Goldener Löwe 2014 für den besten Länderpavillon), China und Hongkong, die sich mit einer unüberschaubaren Flut von Grossprojekten gegenseitig zu übertrumpfen versuchen. Eher fantasielos fällt die Zusammenstellung im spanischen Pavillon aus, während sich Ungarn auf vormoderne Bauten konzentriert und Österreich mit der Präsentation aller rund 200 nationalen Parlamentsgebäude der Welt recht verwirrend vertreten ist. 

Im Gegensatz zu diesen auf Vollständigkeit fokussierten Ausstellungen stehen Beiträge, die sich differenziert mit ausgewählten Aspekten der jüngeren Architekturgeschichte beschäftigen. Eine Wiederentdeckung für Europa ist die geschichtlich differenzierte Rückblende des gemeinsamen Pavillons von Norwegen, Schweden und Finnland. Für einmal befassen sie sich nicht mit der skandinavischen Moderne.

In der Ausstellung «Forms of Freedom: African Independence and Nordic Models» geht es um die fast vergessene Beziehung des Nordens zu den Ländern Tansania, Kenia und Sambia in der Zeit des Kalten Kriegs. Die ostafrikanischen Staaten standen zwar mit Russland und China in engem Kontakt, lehnten aber das kommunistische System in letzter Konsequenz ab. Mit dem Afrosozialismus, auch Ujamaa-Sozialismus genannt, strebten sie eine eigene Staatsform an. Die sozialdemokratischen Staaten Skandinaviens – ohne koloniale Vergangenheit in Afrika – fanden eine Vermittlerrolle zwischen dem übrigen Europa und Afrika. In namhaften baulichen Projekten hatten sie als «Entwicklungshelfer» die Gelegenheit, im Aufbau der Staaten neben den Kommunisten eine Position zu besetzen, die den übrigen europäischen Staaten in dieser Form nicht zugestanden wurde.

Skandinavische Experten hatten wichtige Funktionen in afrikanischen Ministerien inne. In Tansania engagierten sich unter anderen die Finnen anlässlich des grössten Umsiedlungsprojekts der Weltgeschichte: Bis 1977 liess der damalige Präsident Julius Nyerere elf Millionen Menschen aus kleinen Streusiedlungen in dichtere Dorf- und Stadtgemeinschaften umsiedeln. In dem Rahmen wurden nach nordischem Vorbild Masterpläne für verschiedene Städte erstellt, darunter Moshi, Mbeya und Tabora – derjenige von Tanga, einer Küstenstadt im Norden, wurde bis 1995 umgesetzt. Nicht zur Sprache kommt in der Ausstellung, dass den Umsiedlungen mit massivem militärischem Druck nachgeholfen wurde. Nyerere jedenfalls stellte Mitte der 1990er-Jahre fest, dass das Projekt gescheitert war.

Poesie …

Als Stilepoche brach die Moderne bewusst mit der Tradition – ein neues Kapitel mit lauter unbeschriebenen Seiten sollte aufgeschlagen werden. Als Stellvertreter für diesen Aufbruch kann Filippo Tommaso Marinetti dienen. In seinem Manifest des Futurismus, das am 20. Februar 1909 im «Figaro» abgedruckt wurde, schloss er mit der Vergangenheit ab: «Nous sommes sur le promontoire extrême des siècles! (…) A quoi bon regarder derrière nous, du moment qu’il nous faut défoncer les vantaux mystérieux de l’impossible? Le temps et l’espace sont morts hier.»

Wie würde diese Tabularasa-Mentalität ihren Ausdruck in den Pavillons finden  Eine frappierend poetische Antwort darauf gibt der israelische Beitrag. Auf den offenen Halbgeschossen ziehen vier Plotter ihre Linien auf eine Zeichenfläche aus Sand: Einmal sind es die Siedlungsstrukturen, die der Architekt und Urbanist Arieh Sharon für den Aufbau des neuen Staats entworfen hatte, einmal überlagern sich Grundrisstypen unterschiedlicher Epochen der Moderne. Die beiden Plotter auf der obersten Ebene ziehen die Umrisse von emblematischen Wohnsiedlungen Israels zwischen die Körner.

Wenn die Bilder vollendet sind, gleitet der Druckkopf mit der feinen Stahlnadel wieder in seine Ausgangsposition, ein Schieber streicht durch den Sand – und tilgt das gezeichnete Bild. Immer wieder wird der Tisch leer gefegt, um Platz zu machen für ein neues Tableau, einen neuen Entwurf. Was für ein treffendes Bild für die begrenzte Haltbarkeit von Utopien und Ideen, das die Kuratoren Ori Scialom, Roy Brand und Keren Yeala Golan gefunden haben!

Wie der Sand zwischen den Fingern zerrinnt, so verschwinden auch diese Visionen laufend vor dem Auge des Betrachters. Eine ähnlich poetische Installation bietet der lettische Pavillon im Arsenale. Die jungen Kuratoren aus dem Büro NRJA haben bei ihrer Recherche zur Moderne in Lettland eine interessante Entdeckung gemacht: Das Land ist zwar voll von modernistischen Gebäuden aus der Zeit des Sozialismus, aber es gibt kein einziges Buch darüber. Deshalb nennt das Büro seine Installation «Unwritten» und stellt im Pavillon diese erste, noch fehlende Monografie in prozesshafter Form aus – als einzeln aufgehängte Seiten, die sanft im Wind hin- und herwehen. Viele davon sind leer, auf einigen prangen Bauwerke, und zwischendurch blitzen Statements der Ausstellungsmacher auf. Mit wachsender Erkenntnis sollen die leeren Seiten ausgewechselt werden. Eine Installation, die für einmal mehr Fragen aufwirft, als sie Antworten gibt.

Die Pfade der Poesie schlugen auch die Kuratoren des albanischen Pavillons ein, Jonida Turrani und Stefano Rabolli Pansera. Was Koolhaas mit der Integration von Tanz und Film in «Monditalia» recht ist, soll dem albanischen Pavillon billig sein: Die Kunst übernimmt das Ruder, und man wähnt sich eher in einer schicken Galerie als im Arsenale. Die Architektur ist lediglich Aufhänger für das Werk zweier albanischer Künstler (Gemälde: Edi Hild, Video: Adrian Paci).

Dabei hinterlässt der Film einen wesentlich tieferen Eindruck: Er dokumentiert die Entstehung einer korinthischen Säule, die Paci bestellte und auf dem Weg von China nach Europa begleitete. Der riesige Marmorblock wird während der Fahrt auf Deck bearbeitet und gewinnt auf dem stampfenden Frachtschiff Schlag um Schlag seine Form, während die chinesischen Steinmetze unter weissem Staub verschwinden. Die Installation mit dem Namen «The Column» entstand ursprünglich für die Galerie nationale du Jeu de Paume in Paris. Auf dem Weg zum italienischen Pavillon liegt die fertige Säule am Ufer der ehemaligen Schiffswerften – als Fanal der globalisierten Wirtschaft und als Kommentar zur Nivellierung der Kultur.

Gesellschaft …

Zu den bemerkenswerten Ausstellungen gehören die Pavillons von Grossbritannien und Russland: Beide thematisieren weitere kulturelle Auswirkungen der Moderne. Die Briten schlagen nicht nur mit dem Titel «Clockwork Jerusalem» einen Bogen zu Stanley Kubricks Verfilmung (1971) des Zukunftsromans «A Clockwork Orange» von Anthony Burgess. Offenbar hatte die Filmcrew damals einige tadellos modernistische Siedlungen als mögliche Drehorte dokumentiert. Diese Fotos sind nun Teil der Ausstellung und implizieren damit die Probleme, die in einer mechanistischen Anwendung der Moderne stecken. 

Russland präsentiert die bitterböse Parodie einer Baumesse: Empfangen von adretten, rosa uniformierten Hostessen darf der Besucher sich an den Ständen mit traditionellen Werten eindecken oder im Roulette einige Investitionsmillionen verspielen. Eine kleine Abwechslung für alle, die sich von der unglaublichen Menge an inspirierenden, lehrreichen und eindrücklichen Ausstellungen etwas erholen müssen, doch am Ende bleibt einem das Lachen im Hals stecken, so täuschend echt wirkt das Ganze.

Sehenswert ist auch der Beitrag «Structures of Memory in the UAE» der Vereinten Arabischen Emirate. Der auf kleiner Fläche präsentierte Beitrag vollzieht dicht und vielschichtig die Entwicklung von der nomadischen Wüstenbehausung zum modernen Hochhaus nach. Dabei werden auf Zeitstrahlen die Entwicklungen in Abu Dhabi und Dubai gezeigt und in einen internationalen Kontext gestellt. Begleitet wird die chronologische Anordnung von Archivgegenständen, historischen Fotos und Originalplänen in Schubladen unter dem Zeitstrahl. Beeindruckend hier auch die relativ kurze, aber bewegte architektonische Vergangenheit: Beachtliche Hochhäuser aus den 1970er- und 1980er-Jahren sind vielerorts bereits durch neue, höhere ersetzt worden.

… und einige Entdeckungen

Und dann gibt es, wie alle zwei Jahre, die Trouvaillen. Darunter ist einmal mehr der japanische Pavillon mit einer Sammlung von Fundstücken, die die Modernisierung des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg illustrieren. Der finnische Pavillon zeigt sich von Einbauten befreit und bekommt zwei kleinere Pavillons an die Seite gestellt: einen chinesischen aus Bambus und einen finnischen aus Holz. Ebenso leise und fein ist der kanadische Beitrag: Er thematisiert die Entwicklung der Inuit-Gebiete im Norden des Landes, einer Gegend, die durch die Veränderungen der Lebensweise ihre Traditionen und ihre bauliche Identität zu verlieren droht – und wo der Hunger nach Rohstoffen wohl auch die letzten Reste eines Lebens im Einklang mit den widrigen Kräften der Natur schon bald wegfegen wird.

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