Da­mit Denk­mä­ler nicht zu Mahn­mä­lern wer­den

Erdbebensicherheit und Denkmalpflege

Historisch wertvolle Bauten erdbebensicherer zu machen – dieses Ziel enthält Konfliktpozential, dass die Wände wackeln. Muss es aber nicht, wenn alle Beteiligten versuchen, die Seele des Gebäudes zu bewahren. 

Publikationsdatum
07-04-2017
Revision
07-04-2017
Hugo Bachmann
Prof. em. ETH, Stiftung für Baudynamik und Erdbebeningenieurwesen

«Ihr Erdbebeningenieure zerstört unsere Baudenkmäler, lang bevor ein Erdbeben kommt!» Das war der offene oder auch unausgesprochene «Geist» von Äus­serungen zu Beginn der Arbeitsgruppe, die das erste grundlegende Dokument zur «Erdbebensicherheit bei Baudenkmälern» schuf (vgl. TEC21 47/2001). Während der Er­arbeitung des Dokuments im Jahr 2001 unter Federführung der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege gelang es den Beteiligten jedoch, Vertrauen und gegenseitige Achtung zu wecken.

Etablierte Grundlagen

Im Bereich Erdbebenertüchtigung von kunsthistorisch wertvollen Bauten besteht tatsächlich ein grosser Handlungsbedarf. In der Schweiz kann es ähnlich starke Erdbeben geben wie in den «klassischen» ­Erdbebengebieten Italien oder Griechenland. Sie sind zwar wesentlich seltener, können aber ebenso ver­heerend sein. Ein Walliser Beben der Magnitude 5,5 bis 6, das statistisch gesehen etwa alle 100 Jahre zu erwarten ist, würde neben Toten und Verletzten auch Sachschäden in der Grössenordnung von 5 bis 10 Milliarden Franken nach sich ziehen. Die letzten Erschütterungen dieser Grössenordnung ereigneten sich 1855 und 1946. Vom Beben wären auch zahlreiche Baudenkmäler, nicht nur im Wallis, betroffen. 

Der Erdbebengefahr als über längere Zeiträume betrachtet grösster Naturgefahr in der Schweiz war man sich lange Zeit zu wenig bewusst. Erst seit 1989 gibt es moderne Normen mit Bestimmungen für den erdbebengerechten Entwurf und die entsprechende Berechnung und konstruktive Gestaltung von neuen Bauwerken. Seit 2004 liegt nun das im internationalen Vergleich führende Merkblatt SIA 2018 «Überprüfung bestehender Gebäude bezüglich Erdbeben» vor. Es kann auch in Fällen von denkmalgeschützten Bauwerken als eine wichtige Grundlage dienen und wird 2017 durch die SIA-Norm 269/8 «Erhaltung von Tragwerken – Erdbeben» abgelöst.

Ertüchtigtes Schulhaus

Ein Beispiel für eine hervorragend gelungene Erdbebenertüchtigung im Rahmen einer umfassenden Renovation und denkmalpflegerischen Wiederherstellung ist das Oberstufenschulhaus Quader in Chur. Die Stiftung für Baudynamik und Erdbebeningenieurwesen, die sich die praktische und wissenschaftliche Kompetenzförderung in ihrem ­Fachgebiet auf die Fahnen geschrieben hat, zeichnete es mit dem Architektur- und Ingenieurpreis erdbebensicheres Bauen 2015 aus (vgl. TEC21 45/2015). Das Gebäude ist ein wichtiger Zeitzeuge des Bündner Heimatstils, ausgestattet mit wertvollen originalen Oberflächen wie Fliesen, hölzernen Wandtäfern und Deckenverzierungen. Eine umfassend durchgeführte Zustandsuntersuchung ergab eine Erdbebensicherheit von nur 15 bis 20 % der in den heutigen Normen für Neubauten geforderten Sicherheit, die auf den Schutz von Menschenleben ausgerichtet ist. Damit waren umfangreiche Massnahmen unumgänglich. 

Eine enge und intensive Zusammenarbeit von Architekt, Ingenieur, Haustechnikplaner, Eigentümer, Nutzer und Denkmalpfleger hatte zum Ziel, «die Seele des Gebäudes zu bewahren». In den weitgehend im Originalzustand erhaltenen Korridoren und Treppenhäusern konnten Massnahmen grösstenteils vermieden werden. Hingegen wurden die in den 1970er-Jahren stark renovierten Klassenzimmer und Nebenräume für die Anordnung von neuen, über alle Geschosse durchlaufenden Stahlbetonwänden genutzt. Wo wertvolle Oberflächen angetastet wurden, hat man diese mit grosser Sorgfalt entfernt und nach dem Bau der Erdbebenwände wieder aufgebracht. Mit Baukosten von 5 % des Gebäudewerts konnte die Erdbebensicherheit um den Faktor 3 bis 4 gesteigert werden.

Entscheidender Dialog

Massgeblich für eine erfolgreiche Umsetzung einer Erdbebenertüchtigung bei denkmalgeschützten Bauten ist eine einfühlsame und auf Vertrauen und gegenseitiger Achtung basierende Zusammenarbeit zwischen Denkmalschützern und Ingenieuren.

Erdbebeningenieure müssen hierbei anerkennen, dass denkmalgeschützte Bauten ein hohes Kulturgut sind, mit dem sie sich nicht nur in baulicher Hinsicht auseinandersetzen und eingehend vertraut machen sollten. Es geht darum, sich in die «Seele» des Bau- und Kunstwerks einzufühlen. Dazu gehört das Studium von dessen Geschichte wie auch des beim Bau vorhandenen Umfelds. Was passierte in jener Zeit? Wer wollte dieses Gebäude erstellen lassen? Was waren die hauptsächlichen Motive und Ideen? Gab es spätere Umbauten? Welches sind aus denkmalpflege­rischer Sicht die wertvollsten Bereiche und Teile? Was für Schäden können bei welcher zu erwartenden Erdbebenstärke und Auftretenswahrscheinlichkeit allenfalls akzeptiert werden? Wo darf es auf keinen Fall sichtbare Eingriffe geben, und wo sind solche allenfalls möglich? Sind heute gebräuchliche Materialien mit den historisch verwendeten Baustoffen verträglich?

Denkmalpfleger und Architekten müssen begreifen, dass es kaum Sinn macht, eine auf lange Sicht angelegte und oft sehr auf­wendige Renovation zu realisieren, wenn das historische Bauwerk bereits bei einem relativ schwachen Erdbeben erhebliche Schäden erleiden oder gar einstürzen könnte. Sie sollten bewusst zur Kenntnis nehmen, dass auf dem Wissenschaftsgebiet der Erdbebensicherung bestehender Bauwerke in letzter Zeit grosse Fortschritte erzielt wurden. Heute gibt es Methoden und Ver­fahren, die das Erdbebenverhalten eines Bauwerks wirklichkeitsnah simulieren können. Vor allem aber gibt es Möglichkeiten, ein Objekt mit sanften, allenfalls auch nicht­invasiven oder nicht sichtbaren ­baulichen Massnahmen zu ertüchtigen. Dies erfordert allerdings umfassende Ab­klärungen und eine eingehende Planung. Nur eine sehr frühzeitige Kontaktaufnahme und enge Zusammenarbeit mit einem im ­Erdbebeningenieurwesen spezia­lisierten Bauingenieur kann zu einem optimalen Ergebnis führen. Kommt der Ingenieur erst später dazu, gibt es unweigerlich Umplanungen und damit verbunden erhebliche Zusatzkosten.

 

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