Bau­dy­na­mik der be­son­de­ren Art

Schwingungsproblem mit vielen Rätseln

Das Schwingungsverhalten des Kirchturms von San Luzi in Zuoz kann man fast als mysteriös bezeichnen. Die Untersuchungen brachten so manche Überraschung und gleichen einem noch andauernden Krimi.

Publikationsdatum
06-04-2018
Revision
06-04-2018
Hugo Bachmann
Prof. em. ETH, Stiftung für Baudynamik und Erdbebeningenieurwesen

Die unter kantonalem Denkmalschutz stehende, evangelisch-reformierte Kirche San Luzi in Zuoz GR gehört zu den drei ältesten Tal- und Taufkirchen des Engadins. Teile von Turm und Kirchenschiff sind aus dem Jahr 1139. Der 60 m hohe, aus Bruchsteinen gemauerte Turm mit Aussenabmessungen von 5 × 5 m wirkt sehr schlank und elegant. In ihm schwingen vier Glocken in den Tonlagen d’, fis’, a’ und h’, die aus den Jahren 1793, 1954, 1586 und 1774 stammen. Die beiden grös­seren Glocken mit Massen von ca. 1100 kg und 648 kg hängen unterhalb, die kleineren mit ca. 470 kg und ca. 200 kg etwa 5 m oberhalb der Turmuhr.

Die Läuterichtung der Glocken, sprich ihr Pendelausschlag, verläuft quer zur Längsachse des Kirchenschiffs, das im Chor zwei Glasfenster von Augusto Giacometti beherbergt. Mitte der 1960er-Jahre wurden die Glocken mit einer elek­­trischen Steuerung versehen. 1990 erhielt der Turmhelm eine Ver­stärkung, und 2003 erfolgte eine Erneuerung der Turmfassade.

Beunruhigende Schwingungen

In der Folge wurden beim Läuten der Glocken übermässig starke Schwingungen festgestellt, woraufhin im Mai 2004 erste dynamische Mes­sungen veranlasst wurden. Je drei Beschleunigungssensoren auf Höhe der drei grossen Fenster zeichneten die Turmschwingungen auf, die sich unter ambienter Anregung, also natürlicher Belastung aus Wind und Verkehr einstellten.

Die Eigenfrequenz des Turms in Läuterichtung konnte mit 1.43 Hz identifiziert werden. Dynamische Kräfte, die beim Läuten der Glocken auf den Turm einwirkten, verursachten resonanz­ähnliche Schwingungen. Die Frequenzen der massgebenden dritten Harmonischen der Pendelschwingung der drei grösseren Glocken lagen mit 1.33, 1.40 und 1.48 Hz im Bereich der Eigenfrequenz des Turms. Beim gemeinsamen Läuten aller vier Glocken wurde eine maximale Schwinggeschwindigkeit von 16.5 mm/s gemessen. Der im All­gemeinen akzeptierbare Wert gemäss einschlägiger Normen beträgt 2.5 bis 3 mm/s.

Umbau bringt keine Lösung

2008 versah man die beiden grössten Glocken mit einem gekröpften Joch und reduzierte ihre Pendelfre­quenzen von 1.33 auf 1.13 Hz und von 1.40 auf 1.23 Hz. Die maximale Schwinggeschwindigkeit beim Läuten aller vier Glocken betrug bei erneuten Messungen im Juni 2009 immer noch 7.6 mm/s. Die drittgrösste Glocke, bei der aus Platzgründen der Einbau eines gekröpften Jochs nicht möglich gewesen war, hatte daran einen hohen Anteil. Bei ihrem alleinigen Läuten wurden 6.4 mm/s gemessen.

Das Verhalten des Turms gab jedoch Rätsel auf. Obwohl am Turm selbst keine Massnahmen ergriffen worden waren, hatte sich seine Eigenfrequenz von 1.43 Hz im Mai 2004 auf 1.50 Hz im Juni 2009 verändert. Das Joch der drittgrössten Glocke wurde 2010 schliesslich mit einigen Stahlplatten versehen, und somit ihre Pendelfrequenz von 1.48 Hz auf 1.36 Hz reduziert.

Wechselhafte Turmfrequenz

Bei einer Überprüfung der an den Glocken umgesetzten Massnahmen im November 2011 wurde es dann mysteriös: Die Schwinggeschwindigkeit des Turms beim Läuten der drittgrössten Glocke allein stieg trotz der montierten Stahlplatten auf 8.6 mm/s. Klangen alle Glocken zusammen, erhöhte sich diese gar auf 10.3 mm/s. Die Turmfrequenz aber war wieder auf 1.43 Hz abgesunken. Der Turm war im Winter 2011 folglich weicher als im Sommer 2009. Das widersprach jeglicher Erfahrung. Tiefe Temperaturen ver bessern normalerweise die Einspannungsbedingungen im Baugrund. Dies hat eine Versteifung des Bauwerks und somit höhere Eigen­frequenzen zur Folge. Auch das Ver­haltensmuster des Turms bei Wind­belastung korrelierte nicht mit gängigen Erfahrungswerten aus anderen Untersuchungen.

Es war praktisch unmöglich, frequenzbasiert zielsichere Massnahmen zu planen, um die zu starken Schwingungen des Turms in den Griff zu bekommen. Ausserdem stellte sich die Frage nach der Ur­sache dieser sehr ungewöhnlichen «Volatilität» der Eigenfrequenz des Turms.

Unter Beobachtung

Mit namhafter Unterstützung der Gemeinde Zuoz als Eigentümerin des Turms, der Stiftung für Bau­dynamik und Erdbebeningenieurwesen sowie der Denkmalpflege des Kantons Graubünden wurde ein Forschungsprojekt für eine Lang­zeitüberwachung des Bauwerks initiiert. Folgende Grössen wurden gemessen:

  • Beschleunigung des Turms auf einem Niveau rund 5 m unterhalb der Turmuhr in beiden horizontalen Richtungen, ohne Läuten und während des Läutens
  • Lufttemperatur
  • relative Luftfeuchtigkeit
  • Windgeschwindigkeit
  • Windrichtung

Die Messwerte der Winddaten bezog man von einer externen Stelle. Modernste Geräte erfassten von Juni 2012 an über einen Zeitraum von 16 Monaten die Signale. Jede Stunde zeichneten die Messinstrumente  während 20 Minuten die Daten zur Turmschwingung unter ambienter Belastung auf. Dadurch ging der störende halbstündliche Glockenschlag nicht in die Messungen ein.

Der Einfluss des Wetters

Nicht nur das Glockengeläut, auch die ausgewerteten Daten der natürlichen Belastungen aus dem Wetter liessen aufhorchen: Die Grundfrequenz des Turms variierte zwischen 1.42 und 1.59 Hz. Dies entspricht einer Steifigkeitsänderung des Turms um etwa 22 % – ein vorher kaum für möglich gehaltener Wert. Bei 1.42 Hz ist das System weich, bei 1.59 Hz bedeutend steifer. Die Lufttemperatur hat einen erheblichen Einfluss auf die Grundfrequenz, verhält sich aber je nach betrachtetem Zeitzyklus zwiespältig. Im Jahreszyklus ist der Turm im Sommer bei hohen Temperaturen weicher als im Winter.

Dies deckt sich mit den üblichen Erfahrungen aus anderen Projekten. Im Gegensatz dazu stehen die Auswertungen über einen Monats-, Wochen- oder Tageszyklus. Hier wird der Turm mit zunehmender Temperatur steifer. Schwacher und mittlerer Wind über wenige Stunden ist für etwa die Hälfte der ­Variation der Grundfrequenz um ihren Tagesmittelwert verantwortlich. Starker Wind über 20 km/h hat eine unmittelbare, deutliche Ab­nahme der Grundfrequenz des Turms zur Folge. Die Langzeituntersuchung bestätigte die inakzeptablen Schwinggeschwindigkeiten der früheren Messungen. Die drittgrösste Glocke bewirkt eine Schwing­geschwindigkeit des Turms bis zu 11.4 mm /s, aus starkem Wind re­sultieren bis zu 4.6 mm/s.  

Komplexe Erklärung

Vor allem der ambivalente Temperatureinfluss auf die Schwingungen rüttelte die Ingenieure auf. Eine Interpretation der Ergebnisse führte zu folgender Einschätzung: Langfristige Änderungen der Lufttemperatur über das Jahr haben einen Einfluss auf die Fundamentsteifigkeit. Bei gefrorenem Untergrund ist das System steifer. Eine mittel- und kurzfristige Zunahme der Lufttemperatur, die sich noch nicht massgeblich auf den Untergrund auswirkt, beziehungsweise eine direkte Sonneneinstrahlung auf die Turm­oberfläche könnte bewirken, dass sich einzelne, durch Risse getrennte Teile der Turmwand (Bruchsteine, Mauerstücke) ausdehnen und stärker verzahnen. Die Steifigkeit nähme somit zu. Insbesondere bei zwischen dem Turm und dem Kirchenschiff festgestellten Rissen könnte dies der Fall sein. Die erwähnte Abnahme der Grundfrequenz bei starkem Wind spiegelt eine deutliche Verringerung der Steifigkeit des Turms wider. Dies ist typisch für das Verhalten eines stark gerissenen und demzufolge ausgeprägt nichtlinearen Systems.

Lösungsmöglichkeiten

Da ein weiteres Läuten der drittgrössten Glocke zu einer völligen Zerrüttung des Turms führen könnte, ist diese nun ausser Betrieb. Gegen die damit verbundene Beeinträchtigung der musikalischen Wirkung wurden in Zuoz bereits Stimmen laut. Schon der frühere Umbau zu gekröpften Jochen stiess nicht überall auf taube Ohren. Um das gesamte Glockenensemble über Zuoz wieder erklingen zu lassen, müsste ein zweckmässiger Eingriff an der drittgrössten Glocke respektive am Turm selbst stattfinden.

Denkbar wäre etwa eine Versteifung des Turms durch eine innenliegende Stahlbeton- oder Stahlkonstruktion. Der Aufwand hierfür wäre jedoch erheblich und ein so bedeutender Eingriff in die historische Bausubstanz vom denkmalpflegerischen Standpunkt aus gesehen problematisch. Die zusätzliche Masse einer solchen Konstruktion könnte ausserdem die günstige Wirkung einer Versteifung zum Teil kompensieren.

Der Einbau eines Gegenpendels, wie er in Bayern schon mehrfach erfolgreich umgesetzt wurde, wäre eine technisch sehr robuste Massnahme, da eine solche Lösung direkt gegen die kritischen Glockenkräfte arbeitet. Fehlender Platz und die beträchtliche zusätzliche Masse sprechen aber dagegen. Auch ein wegen der Breite des zu bedämpfenden Frequenzbands technisch anspruchsvoller Einbau eines passiven Schwingungstilgers scheitert am geringen Platzangebot und der beträchtlichen zusätzlichen Masse.

Bliebe noch die Installation eines aktiven Schwingungstilgers, der direkt auf die gemessene Turmbewegung reagiert. Das relativ kleine Gerät ist praktisch für alle Frequenzbänder einsetzbar, benötigt aber einen aufwendigeren Unterhalt. Weltweit sind nach dem Wissen der Verfasser bisher nur zwei derartige Tilger in Bauwerken im Einsatz.

Mit modernsten Mitteln

Fehlende Planunterlagen verunmöglichten bisher, am Turm ingenieurmässige Berechnungen anzustellen. Deshalb vermass die ETH Zürich im Rahmen einer interdisziplinären Semesterarbeit im Herbst 2015 Turm und Kirche mit modernsten Methoden. Aus den gewonnenen Daten soll ein realistisches Rechenmodell des Turms erarbeitet werden. Damit müsste es möglich sein, einen aktiven Tilger zu bemessen, um den Glocken von San Luzi wieder ihre ganze Klangfülle zurückzugeben.
 

Verwandte Beiträge