«Da­mals glaub­te man, Be­ton hal­te ewig»

Gespräch mit dem Hochbauingenieur Michel Virlogeux

Michel Virlogeux gilt als einer der bedeutendsten Brückenbauer der Welt. Nach dem Einsturz des Polcevera-Viadukts in Genua reflektiert er über mögliche Ursachen des Versagens.

Publikationsdatum
21-02-2019
Revision
27-02-2019
Laura Ceriolo
Architektin, Historikerin für Wissenschaft und Bautechnik

Die Planung einer Brücke stellt für Michel Virlogeux die Essenz des Hochbaus dar. Für die Realisierung der dritten Brücke über den Bosporus erhielt der Franzose zusammen mit dem Schweizer Ingenieur Jean-François Klein  den «Outstanding Structure Award 2018» der Internationalen Ver­einigung für Brücken- und Hochbau (IABSE). Mit Bedauern stellt Virlogeux fest, dass Ingenieure bei sehr grossen Brückenprojekten ihren Einfluss verlieren. ­Oftmals wird ein Brückenentwurf von der Öffentlichkeit vor allem dem Architekten zugeschrieben; die ­Verantwortung und die erfolgreiche Ausführung der Arbeit liegen jedoch nach wie vor in erster Linie beim Ingenieur.

Michel Virlogeux (geboren 1946 in Vichy, F) ist Ehrendoktor der Loughborough University, absolvierte 1967 die Ecole Polytechnique, 1970 die Ecole nationale des ponts et chaussées und promovierte 1973 an der Université Pierre et Marie Curie. Seine Karriere begann er in Tunesien, wo er ein grosses Strassenprojekt leitete und sich auf den Ausbau des Strassennetzes konzentrierte. Seit 1974 im Service d’études techniques des routes et autoroutes (Setra) des französischen Infrastrukturministeriums tätig, wurde er 1980 Leiter des Geschäftsbereichs Grossbetonbauwerke, 1987 für Grossbrücken aus Stahl und Beton. Seit 1995 ist er selbstständiger Beratungsingenieur. Während 20 Jahren entwarf er mehr als 100 Brücken, darunter die Normandiebrücke (1995) und das Millau-Viadukt (2004). Daneben sind seine wichtigsten Erfolge die Beteiligung am Bau der Vasco-de-Gama-Brücke in Lissabon, das Doppelviadukt des TGV in Avignon und die Chaban-Delmas-Hub- brücke in Bordeaux. Zwischen 1977 und 1995 war er Teilzeitprofessor für Tragwerksplanung an der Ecole nationale des ponts et chaussées, und seit 2008 unterrichtet er den Kurs Brückenbau.

Jean-François Klein (1961–2018) war Vorstandsmitglied bei T ingégnierie in Genf und plante zusammen mit Michel Virlogeux die Yavuz-Sultan-Selim-Brücke über den Bosporus. Weitere wichtige Brückenprojekte waren die Prinz-Claus- Brücke in den Niederlanden (2003), das Lect-Viaduct in Meyrin (2011) und zwei Brücken auf La Réunion (2009).

 

Laura Ceriolo: Herr Virlogeux, in Ihren Vorlesungen an der Ecole nationale des ponts et chaussées de Paris führten Sie oft Riccardo Morandis Polcevera-Viadukt in Genua als Beispiel an. Es war für Sie ein erfolgreiches Bauwerk, weil es ein Gleichgewicht zwischen seiner strukturellen Ökonomie, seiner Funktion, seiner Eleganz und seinem Respekt vor der Landschaft zeigte. Was denken Sie nun über die Morandi-Brücke, nachdem sie am 14. August 2018 eingestürzt ist?
Michel Virlogeux: Eigentlich bezog ich mich hauptsächlich auf die Brücke am Maracaibo-See in Venezuela (General-Rafael-Urdaneta-Brücke, Eröffnung 1962; Anm. d. Red.), die unmittelbar vor dem Polcevera-Viadukt gebaut wurde. Beiden Brücken liegt das gleiche Entwurfskonzept zugrunde. Für mich ist sie eines der emblematischsten Bauwerke der Welt, genau wie die Brooklyn Bridge, die George Washington Bridge über den Hudson River oder die Golden Gate Bridge.
Die Stärke der Maracaibo-See-Brücke oder des Genueser Viadukts ist die Lesbarkeit: Die breite Öffent­lichkeit kann nachvollziehen, wie die Beanspruchungen durch sie fliessen. Das ist die Grundlage für ihren architektonischen Erfolg.
Aber Morandis Schrägseilbrückenentwürfe führten in eine Sack­gasse. Sie hatten einen sehr hohen Materialverbrauch und entstanden zu einer Zeit, als Ingenieure in Deutschland viel effizientere und billigere Schräg­seilkonstruktionen entwarfen. Ich vergleiche sie oft mit der Forth Bridge im schottischen Queensferry. Die grosse Rohr-Fachwerkkonstruktion, die in Alfred Hitchcocks Film «Die 39 Stufen» auftaucht, ist eine sehr erfolgreiche architektonische Leistung, wenn auch ihr Entwurf viel mehr Material erforderte als die zeitgleich ge­bauten Hängebrücken in der Art der Brooklyn Bridge.
Aber man darf auch Morandis andere Werke nicht vergessen. Er erdachte und entwickelte eine Methode zum Bau von Bogenbrücken, indem er beide Halb­bögen vertikal bauen und aufeinander zu klappen liess. So konnte er auf teure Lehrgerüste verzichten. Auf diese Weise setzte er zwei sehr erfolgreiche Bau­werke um, die Lussia-Brücke (:Ponte Morandi,1955; Anm. d. Red.), eine Fussgängerbrücke in der Toskana, und die Storms River Bridge (Paul Sauer Bridge, 1956; Anm. d. Red.) in Südafrika. Diese Technik wurde seitdem bei mehreren Bauwerken eingesetzt.

Laura Ceriolo: Weitere Bauwerke wurden nach dem Prinzip der mit Beton ummantelten vorgespannten Tragseile gebaut, insbesondere in der Schweiz, wie z. B. die Ganter­brücke (1980) von Christian Menn. Warum wurde diese Lösung gewählt? Wäre es heute noch denkbar, dieses Prinzip bei der Planung einer sehr grossen Brücke zu verwenden?
Michel Virlogeux: Das Problem hierbei ist die Dauerhaftigkeit der Vorspannung. Sie beruht ausschliesslich auf der Qualität der injizierten Kabelumhüllung mit Zementmörtel. Um die Haltbarkeit von Betonkonstruktionen zu verbessern, braucht man zunächst einen sehr kompakten Beton, den es zu dieser Zeit nicht gab. Damals glaubte man, Beton halte ewig.
Ich kenne die Beschaffenheit des Betons des Polcevera-Viadukts nicht, aber die Atmosphäre in Genua ist extrem korrosiv: Das Meer ist in der Nähe, es ist heiss, und das Bauwerk überquert ein In­dus­triegelände. Chloride dringen allmählich in den Beton ein und erreichen schliesslich die Vorspann­kabel. Heute wissen wir, wie man die Eindringgeschwin­digkeit von Chloriden in den Beton abhängig von dessen Kompaktheit berechnet.
Bei den Bauwerken von Morandi hat der Wechsel von klassischen Abspannungen, also Stahlseilen, zu vorgespannten Zugelementen ein beson­deres Risiko geschaffen, ähnlich wie bei vorgespannten Kabeln ausserhalb von Beton, denn eine Injektion ist nie perfekt, besonders an den Enden. Wenn sich an einer Stelle Korrosion entwickelt, können sich die an ihren Anschlüssen fixierten Vorspannkabel praktisch nicht verkürzen; die in den gebrochenen Drähten vorhandene Spannung wird allmählich auf die gesunden Drähte übertragen, deren Span­nung nach und nach zunimmt – bis zum Ver­sa­gen. Ein Bruch, der abrupt und schwer vorherzusagen ist. Er tritt mit einer dynamischen Wirkung auf, die der Freisetzung der durch die Seilspannung erzeugten Energie entspricht. Beim Polcevera-Viadukt waren die Auswir­kungen katastrophal, da die Konstruktion keine Redundanz aufwies: Der Ausfall einer einzelnen Abspannung konnte nur zum Zusammenbruch führen.

Laura Ceriolo: Was sind Ihre Empfehlungen für die Instandhaltung von Brücken?
Michel Virlogeux: Eine Brücke muss ordnungsgemäss gewartet oder sogar repariert oder verstärkt werden, z. B. durch den Austausch von Vorspannkabeln oder Abspannungen und den Einsatz von Technologien, die eine höhere Lebensdauer gewährleisten. Wenn ich mich nicht irre, wurde das statische Prinzip der Morandi-Brücken mindestens einmal von französischen Ingenieuren in Argentinien kopiert, aber mit klassischen Abspannungen, die vor einigen Jahren ersetzt wurden.
Ich möchte hinzufügen, dass Professor Fabrizio Palmisano vom Politecnico di Bari in Italien im September 2018 auf der Jahrestagung der Inter­national Association of Bridges and Structural Engi­nee­ring (IABSE) in Nantes einen bemerkenswerten Vortrag über Planung, Wartung und Reparatur des Polcevera-Viadukts gehalten hat. Wie sich zeigte, gab es Pläne, die Abspanndrähte am eingestürzten Pylon zu ersetzen – die Qualifikation der Unternehmen war im Gang –, aber die Dringlichkeit der Intervention wurde nicht erkannt (vgl. «System Nummer 9»).

Laura Ceriolo: Wenn ich in einigen Jahren die Normandiebrücke (856 m, Schrägseilbrücke, Frankreich 1995) oder das von Ihnen entworfene Millau-Viadukt (2460 m, Schrägseilbrücke, Frankreich 2004) überquere, warum sollte ich mich dann sicher fühlen?
Michel Virlogeux: In beiden Fällen ist eine Mannschaft vor Ort, die das Bauwerk verwaltet; Inspektionen werden regelmässig durchgeführt; ein Überwachungssystem ist vorhanden; Inspektions- und Überwachungsberichte werden von Konstruktionsbüros überprüft. Als Entwerfer bin ich an all diesen Arbeiten beteiligt. Die Wahrscheinlichkeit eines unerwarteten Zusammenbruchs ist extrem gering. Vor allem gibt es bei diesen Konstruktionen eine Redundanz, die es in Genua
nicht gibt. Bei Millau haben Berechnungen gezeigt, dass es möglich ist, drei Abspannungen in Folge zu verlieren, ohne dass die Brücke zusammenbricht.
Natürlich verursacht die Wartung Kosten. Gemäss einer Studie, die in den 1980er-Jahren in Dänemark durchgeführt wurde, betragen die In­standhaltungskosten einer gut gebauten Spannbeton­brücke jährlich 0.5 % der Baukosten. Durch den Anstrich, der alle 15 bis 20 Jahre ansteht, ist der ­Unterhalt von Metallbrücken etwas teurer und liegt bei etwa 0.7 % jährlich. Bei Schrägseilbrücken liegen die Kosten zwischen 1.0 und 1.5 %, während Hängebrücken mit 2 bis 3 % und mobile Brücken aufgrund von Hebe- oder Bewegungsmechanismen den teuersten Unterhalt aufweisen.

Laura Ceriolo: Ohne die Ergebnisse der Inspektionen und der technischen und historischen Analysen der Genueser Brücke scheint es schwierig, die genauen Ursachen für den Einsturz festzustellen. Haben Sie gleichwohl irgendwelche Hypothesen?
Michel Virlogeux: Mit vielen Spezialisten teile ich die Meinung, dass die Korrosion der Abspannungen die Ursache für den Zusammenbruch ist. Die Drähte, aus denen die Vorspannkabel bestehen, wurden im Lauf der Zeit Schritt für Schritt durch Korrosion gebrochen, bis die Spannung in den verbleibenden Drähten ihre Festigkeit erreicht und überschritten hatte. Dies führte zum plötzlichen und explosiven Versagen der Abspannung. Da es keine Redundanz gab, brach die Konstruktion zusammen. Es bleibt jedoch anzu­merken, dass das Bauwerkskonzept in voneinander unabhängige Teilsysteme unterteilt ist und somit der Einsturz auf einen Pylon und zwei angrenzende eingehängte Träger begrenzt blieb. Ohne diese Teilung wären die Folgen des Zusammenbruchs noch dramatischer gewesen.

Laura Ceriolo: Sollen wir Ihrer Meinung nach retten und reparieren oder abbrechen und wieder aufbauen?
Michel Virlogeux: Die Behörden und Bewohner von Genua müssen sagen, was sie wollen. Aber sowohl aus technischen als auch aus psychologischen Gründen erscheint es mir schwierig, das verbliebene Bauwerk zu erhalten. Wenn es die Behörden und die Bevölkerung wollen, ist es möglich, eine Bauwerk im Geist des Projekts von Morandi zu erstellen. Dies würde aber erhebliche Anpassungen erfordern. Es wäre auch möglich, ein zeitgemässeres Objekt zu konstruieren, sehr wahrscheinlich mit den gleichen Hauptspannweiten wie bei Morandis Projekt.

Das Interview führte Dr. Laura Ceriolo, ehemalige Redaktorin von Archi, der Schwesterzeitschrift von TEC21 in der ita­lie­ni­schen Schweiz. Deutsche Bearbeitung: Peter Seitz.

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