Ric­car­do Mo­ran­di: For­men un­ter Span­nung

Durch den Einsturz des Polcevera-Viadukts gelangte sein Erbauer zu trauriger Bekanntheit. Dabei leistete Riccardo Morandi (1902–1989), eine der prägenden Figuren des Ingenieurwesens im 20. Jahrhundert, in Italien und auch international einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des Stahl- und Spannbetonbaus.

Publikationsdatum
21-02-2019
Revision
28-02-2019

In die grosse Bestürzung, die der Brückeneinsturz in Genua mit dem Tod von 43 Menschen ausgelöst hat, mischte sich bald eine hitzige Debatte um die Frage nach der Ursache der Katastrophe. Die von den Medien und der Politik entfachte Polemik wies sehr schnell die Schuld Riccardo Morandis Entwurf und der für den Unterhalt verantwortlichen Betreibergesellschaft zu. Entsprechend wurde eilig beschlossen, die intakt gebliebenen Teile der Brücke abzureissen und an ihrer Stelle ein neues Viadukt zu errichten.

Auch wenn der Wettbewerb für den Neubau kürzlich entschieden und mit dem Abbruch begonnen wurde, sprachen sich in den vergangenen Monaten jedoch auch verschiedene Fachleute gegen einen Abriss aus und befürworteten Überprüfungen zur Erhaltung des Viadukts.1 Auch wenn es keinen vergleichbaren Fall gibt, schien der Wiederaufbau des Teilstücks der Brücke wirtschaftlich durchaus sinnvoll, um eine baldige Wiederinbetriebnahme des Viadukts zu ermöglichen. Der Erhalt des Polcevera-Viadukts wäre auch baukulturell von grosser Bedeutung gewesen. Die Brücke zählt zu den wichtigsten grossmassstäblichen Ingenieurbauten, die während der Hochkonjunktur der 1950er- und 1960er-Jahre in Italien entstanden sind. Sie kann als Symbol für den rasanten wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung des Landes angesehen werden.

Tragwerk, Bautechnologie und Bauprozess im Einklang

Das 1963–1967 gebaute Polcevera-Viadukt befand sich in einer spektakulären Lage über Genua. Wie ein schwebendes Band überspannte die Fahrbahn auf einer Länge von 1.2 km und in einer Höhe von 45 m den namengebenden Fluss, das Gleisfeld des Güterbahnhofs, mehrere Fabrikareale und ein Wohnquartier. Das Viadukt bildete eine der wichtigsten Verkehrsverbindungen, sowohl innerstätisch zwischen dem Stadtzentrum und dem Industriehafen sowie dem Flughafen als auch auf nationaler Ebene als Teil der Autobahn von Genua Richtung Westen und Norden.

Das Tragwerk stellt eine sehr eigenständige Kombination von verschiedenen Typologien dar, ausgehend von unterschiedlichen Spannweiten. Für die kleineren Abstände von 70 m wurden V-förmige Pfeiler aufgebaut. Für die grösseren Spannweiten von 200 m wurde eine Schrägseilkonstruktion mit 90 m hohen Pylonen gewählt.2 Die Hauptspannseile werden von einem Betonmantel umfasst, der durch die Vorspannung zusammengepresst wurde. Dieser Aspekt der Konstruktion wurde in den letzten Wochen oftmals kritisiert, das Verfahren wurde in der damaligen Zeit jedoch für den Korrosionsschutz als durchaus geeignet beurteilt.3

Die Anwendung der Vorspannung spielte auch für den Bauablauf eine zentrale Rolle. Temporäre Abspannungen ermöglichten es, auf ein Lehrgerüst zu verzichten und die auskragenden Hohlkästen der Fahrbahn im Freivorbau zu erstellen. In den Zwischenräumen wurden anschliessend nach dem Gerber-Prinzip vorfabrizierte und vorgespannte Elemente eingehängt. Der Entwurf bediente sich einer Reihe technischer Verfahren, die massgebend von Morandi mitentwickelt worden sind. Die neuartige Technologie der Vorspannung kam bei Schrägseilbrücken zur Anwendung und ermöglichte Konstruktionen aus Spannbeton im Freivorbau. Morandi brachte beim Polcevera-Viadukt auf prägnante Weise Überlegungen zum Tragwerk, zur Bautechnologie und zum Bauablauf in Einklang und demonstrierte eindrücklich das Potenzial einer integralen Verwendung des Systems Spannbeton.

Eine Pluralität an Ansätzen

Diese stetige Verhandlung um die Wirtschaftlichkeit von Tragwerk und Konstruktion bildet eine Konstante im Werk von Morandi und lässt sich bereits beim Fiumarella-Viadukt in Catanzaro (1958–1962) erkennen. Die Bogenbrücke, mit einer Spannweite von 231 m bis heute die am weitesten gespannte in Italien, wurde mittels Lehrgerüst gebaut. Aufgrund der günstigen Löhne jener Zeit war der aufwendige Gerüstbau dennoch wirtschaftlich. Schnell öffenbare Knoten verbanden die einheitlichen Stangen des Gerüstsystems Dalimne Innocenti, sodass ein schneller Auf- und Abbau und eine modulare Verwendung möglich waren. Nach der Betonierung des Bogens konnten dieselben Gerüstelemente zur Errichtung der darüber liegenden geneigten Abstützungen und der Fahrbahn wiederverwendet werden.4

Im Gegensatz dazu zeigte das Polcevera-Viadukt mit dem Freivorbau eine komplett neuartige Konstruktionsmethode und mit dem Schrägseilprinzip eine neue Tragwerkstypologie. Eine ähnliche Konzeption entwickelte Morandi bereits kurz zuvor für die Brücke über den Maracaibo-See in Venezuela (1957–1962, Spannweiten 235 m). In beiden Fällen wurde das Tragverhalten mit physischen Modellversuchen im renommierten Testlabor ISMES in Bergamo geprüft.5

Einem ähnlichen Prinzip folgten auch %%gallerylink:44170:das Magliana-Viadukt in Rom%% (1963–1968, Spannweite 145 m), das Carpineto-Viadukt bei Potenza (1971–1977, Spannweite 181 m) oder die Brücke über das Wadi al-Kuf in Libyen (1965–1971, Spannweite 282 m). Praktisch unmittelbar nach den ersten Brücken wendete Morandi das Schrägseilprinzip auch für weitgespannte Dächer von zwei Hangars auf dem Flughafen Rom-Fiumicino (1960–1964) an. Beim etwas später errichteten Hangar für die Boeing 747 (1968–1970) zog Morandi die Abspannungen von der Dachfläche zu drei massiven Pylonen, so dass ein fächerartiges Tragwerk resultierte, was eine Verräumlichung desselben Prinzips darstellte.

Morandis Ansatz, verschiedene Elemente in ausgereizten Gleichgewichtskonstellationen zu kombinieren, lässt sich auch bei seinen kleinmassstäblicheren Bauten ablesen, wie beispielsweise die Überführung der Via Olimpica in Rom (1958–1960) oder die unterirdische Ausstellungshalle für den Automobilsalon in Turin (1958–1959) zeigen. Trotz unterschiedlicher Nutzung gründen beide Bauwerke auf der gleichen Tragwerkstypologie und dem Einsatz der Vorspanntechnik. Die Balken balancieren auf dünnen Stützen, während die Balkenenden von einem Zugelement heruntergespannt werden, sodass eine Rahmenwirkung entsteht. Die Decke der Ausstellungshalle ist zudem in einer rautenartigen Überkreuzung ausgebildet, wodurch der repräsentative Raum entsprechend artikuliert wird.

Exemplarisch zeigt das Werk von Morandi eine grosse Pluralität an Ansätzen für das Bauen mit Stahl- und Spannbeton, für Brücken genauso wie für weitgespannte Tragwerke von Industriebauten, Hangars, Kasernen oder Kinos.

Im Spiegel der Nachkriegszeit

Der grösste Teil von Riccardo Morandis Schaffen fiel in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Italien einen raschen politischen, ökonomischen und sozialen Wandel durchlief. Angetrieben wurde dieser vom miracolo economico, das das ganze Land während den 1950er- und 1960er-Jahre erfasste und in einer kulturellen Blüte von Architektur, Kunst, Literatur und Film seinen Ausdruck fand.6 Für den Aufschwung stand aber ebenso die Initiierung grosser staatlicher Wohnungsbauprogramme wie INA Casa und Infrastrukturprojekte wie die Autostrada del Sole.

Für die damit verbundene rege Bautätigkeit spielte der Werkstoff Stahlbeton eine zentrale Rolle. Die spezifischen Eigenschaften des Materials entsprachen den Bedingungen jener Zeit, die durch die Stahlknappheit und die handwerklich geprägte Bauwirtschaft bestimmt waren.7 In den Ingenieurwissenschaften wurde die Entwicklung des Stahlbetons zu einem zentralen Forschungsgegenstand mit verschiedenen Herangehensweisen. Morandi fokussierte sich vor allem auf neue Bauverfahren und ab Mitte der 1940er- Jahre insbesondere auf die Entwicklung von Vorspannsystemen.8 Er bezog sich dabei auf die Patente von Eugène Freyssinet und Franz Dischinger, die in der Zwischenkriegszeit in Frankreich und Deutschland angemeldet worden waren.9

Zur gleichen Zeit beschäftigte sich Pier Luigi Nervi, eine Art Gegenspieler zu Morandi, mit der Vorfabrikation von weitgespannten Gewölben und widmete sich Morandis Schüler Sergio Musmeci der Frage nach materialsparenden Formen, die direkt mit dem inneren Kräfteverlauf korrespondieren. Während Nervis Werk dem Prinzip Widerstand durch Form entspricht und Musmecis Erforschung der Form einer Zuspitzung dessen gleichkommt, ist Morandis Schaffen durch die Manipulation der inneren Kräfte gekennzeichnet.

Die Vorspannung erlaubte es, gezielt Kräfte innerhalb eines Bauteils zu applizieren. Denn durch die Anspannung der sehnenartig in den Elementen verlaufenden Stahlkabel wird vor allem diejenige Betonmasse gezielt – und bereits vor dem eigentlichen Lastabtrag – unter Druck gesetzt, die später vornehmlich Zugkräften ausgesetzt ist. Diese Überdrückung erhöht praktisch die Steifigkeit und erlaubte es, die Bauteile entsprechend filigraner auszubilden. Die Technologie der Vorspannung hat damit einen direkten, aber subtilen Einfluss auf die Erscheinung, denn sie formt unmittelbar die Anlage des Betons, auf den sie wirkt, ohne direkt sichtbar zu werden. So zeugen Morandis Entwürfe von ausgesprochener Feingliedrigkeit.

Morandis Werk hatte technologisch und gestalterisch entscheidenden Einfluss auf zahlreiche Ingenieure in Italien und auch international. Dazu gehören unter anderem Silvano Zorzi, der Erbauer zahlreicher Brücken der Autostrada del Sole, Aldo Favini, der zusammen mit den Architekten Angelo Mangiarotti und Bruno Morassutti bei der Kirche von Mailand-Baranzate auf kreative Weise die Vorspanntechnik einsetzte, oder der erwähnte Musmeci. International fand Morandi vor allem durch seine Brückenentwürfe grosse Beachtung. Die Schrägseilbrücken wurden mit jenen von Fritz Leonhardt in Deutschland verglichen und rege diskutiert, denn anders als Morandi baute Leonhardt seine Entwürfe komplett in Stahl.10

In der Schweiz lässt sich Morandis Einfluss insbesondere auf das Werk von Christian Menn feststellen. Die Ganterbrücke an der Simplonpassstrasse (1977–1980, Spannweite 174 m) erweist Morandi sowohl in konzeptioneller als auch technischer Hinsicht Reverenz, denn in den hängenden Sicheln wurden Schrägseile einbetoniert und vorgespannt. Anhand der Einflüsse lässt sich eindrücklich die Rolle Morandis als Entwerfer erkennen. Durch seine kreative Suche nach neuen Tragwerkstypologien, Bautechnologien und Bauverfahren, die sich aus den neuen Möglichkeiten des zu jener Zeit noch jungen Werkstoffs Stahl- und Spannbeton ergaben, wurde Riccardo Morandi zum einem wichtigen Vorbild für das Ingenieurwesen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Anmerkungen

  1. Aurelio Muttoni, interviewt von Alizée Guilhem: «La sécurité des ouvrages d’art s’améliore partout», in: Le Temps, 12.09.2018. Siehe auch: Francesco Karrer, Tullia Iori und Roberto Realfonzo: «Ripristinate Ponte Morandi? Soluzione rapida e sostenibile», in: Il Sole 24 Ore, 11.10.2018, S. 24.
  2. Riccardo Morandi: «Il viadotto sul Polcevera», in: L’Industria Italiana del Cemento, Nr. 12, 1967, S. 849–872.
  3. Aurelio Muttoni, a. a. O.
  4. Ilaria Giannetti: Il tubo Innocenti. Protagonista invisibile della Scuola italiana di Ingegneria, Rom 2017, S. 104-–111.
  5. Tullia Iori, Sergio Poretti (Hrsg.): SIXXI 4. Storia dell’ingegneria strutturale in Italia, Rom 2017, S. V–XIII.
  6. Terry Kirk: The Architecture of Modern Italy. Volume II: Visions of Utopia. 1900–Present, New York 2005, S. 143–205.
  7. Sergio Poretti, Italian Modernisms: Architecture and Construction in the Twentieth Century, Rom 2013, S. 208–253.
  8. Giuseppe Imbesi, Maurizio Morandi, Francesco Moschini: Riccardo Morandi: innovazione tecnologia progetto, Rom 1991, S. 121–124.
  9. Max Herzog: 150 Jahre Stahlbeton (1848–1998), Berlin 1999, S. 6–7.
  10. Fritz Leonhardt: Brücken. Bridges, Stuttgart 1990, S. 257–278.

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