Via d’Ac­qua tran­sal­pi­na

Wasserweg über den Splügen; Schleusensystem; Ingenieur: Pietro Caminada

Der Transport auf dem Wasserweg ist die wirtschaftlichste Methode, um Massengüter über grosse Distanzen zu verschieben. Allerdings sind Gebirge für die Schifffahrt unüberwindliche Hindernisse. Vor einem Jahrhundert wollte das der Bündner Ingenieur Pietro Caminada nicht hinnehmen. Er entwarf einen direkten Wasserweg für Lastkähne vom Mittelmeer zur Nordsee.¹

Publikationsdatum
13-01-2012
Revision
01-09-2015

Der Warentransport über den Splügenpass stieg nach dem Ausbau vom Saumpfad zur Fahr- beziehungsweise Kommerzial- oder Kunststrasse zwischen 1818 und 1823 rasch an und erreichte 1856 mit 27 100 Tonnen einen Höchststand. Zu dieser Zeit war der endgültige Niedergang des alpinen Warentransports wegen der Verlagerung von der Strasse auf die Schiene aber bereits vorprogrammiert. In den folgenden 50 Jahren wurde die einst dominante Splügenpassstrasse unaufhaltsam zur Marginalie im alpenquerenden Güterverkehr, obwohl es nicht an Bestrebungen fehlte, die Bedeutung des Passes zu erhalten. Zahlreich waren die Projekte, die eine Überquerung des Splügenpasses unabhängig von der Strasse ins Auge fassten: Das kühnste von allen war zweifellos jenes von Pietro Caminada, der vor 100 Jahren den Splügen auf einem transalpinen Wasserweg überqueren wollte. Pietro Caminada wurde am 20. Mai 1862 als Sohn eines ausgewanderten Vriners und einer Italienerin in Mailand geboren. In den 1880er-Jahren hielt er sich mit seinem Bruder Angelo in Argentinien auf. 1892 unternahmen die beiden Exilbündner einen Ausflug nach Rio de Janeiro, wo Pietro seinem Bruder kurzerhand erklärte, er bleibe hier.
Ein Bauwerk in Rio muss Caminadas besondere Aufmerksamkeit erregt haben: der «Arcos da Lapa», der einst das Trinkwasser ins Stadtzentrum geführt hatte. Pietro Caminada kam auf die Idee, das ausgediente Aquädukt als Trassee für die neue städtische Strassenbahn zu benützen. 1896 wurde seine Idee umgesetzt, und seither bildet der «Arcos da Lapa» mit seinem altertümlichen Tram eine der Hauptattraktionen der Stadt. Zudem befasste er sich mit dem Bau einer zweigleisigen Hängebahn, die er über diverse Flussläufe zu führen gedachte. Die Behauptung, Caminada habe Rio de Janeiro zu einer modernen Stadt umgebaut, mag übertrieben klingen, aber er hat beispielsweise mit der Umgestaltung der Hafenanlagen einen wichtigen Beitrag zum Wandel des vom portugiesischen Kolonialstil geprägten Rio in eine Weltstadt geleistet. Caminada ist in Südamerika vom Ingenieur zum Städteplaner geworden. Als 1891 der Beschluss, eine neue Hauptstadt für Brasilien zu bauen, in der Verfassung verankert wurde, war es Pietro Caminada, der die ersten Pläne für ein zukünftiges Brasilia entwarf – mehr als 60 Jahre vor dessen Erbauung.

Städteplaner in Mailand, Rom und Genua

1907 kehrte Pietro Caminada nach Europa zurück und liess sich in Rom nieder. In «La Stampa» lesen wir: «Seit einigen Wochen taucht in den Zeitungen mit grosser Regelmässigkeit der Name des Mailänder Ingenieurs Pietro Caminada auf, der nach einem 20-jährigen Aufenthalt in Südamerika mit einer genialen Idee nach Italien zurückgekehrt ist: das Mittelmeer über die Alpen hinweg mit der Nordsee zu verbinden, genauer, einen Kanal zu bauen, der von Genua über den Splügenpass bis an den Bodensee führt.» Bis zu seinem Tod lebte Caminada in Rom, wo er sich 1912 mit dem Um- und Ausbau des Hafens von Civitavecchia auseinandersetzte und 1920 ein Projekt für eine «Gartenstadt» im Römer Stadtteil Montesacro verfasste. Er beschäftigte sich auch ausserhalb Roms, etwa mit dem Ausbau des Hafens von Genua und dessen Anbindung ans Eisenbahnnetz. Er sah dort sogar den Bau einer
U-Bahn vor, die erst 1990 realisiert wurde. In der Umgebung von Neapel war er auch im Erzabbau tätig. Am 20. Januar 1923 verstarb Pietro Caminada nach längerer Krankheit in Rom, wo später eine Strasse nach ihm benannt wurde. 

Caminadas Wasserweg über den Splügen

Bereits in Südamerika begann Caminada seine Auseinandersetzung mit der Schiffbarmachung der grösseren Flüsse Europas und deren Verbindung über die Alpen hinweg unter Nutzung der Bergbäche. Den Verlauf seines «Alpenkanals» plante er wie folgt: Nach einem Hafenkanal in Genua erfolgt der Aufstieg zum Passo Giovi, der mit einer Galerie überwunden wird. Dann geht es Richtung Mailand, wo ein Hafen vorgesehen ist, von dem aus die Hauptroute zum Comersee führt. In Chiavenna beginnt dann der grosse Aufstieg zum Splügenpass, durch den ein 15 km langer Tunnel das Südportal auf 1250 m Höhe beim Dörfchen Isola mit dem Nordportal auf 1100 m Höhe in der Rofflaschlucht verbindet. Durch die Viamala erreicht der Kanal Thusis, wo – wie in Chur – ein kleines Hafenbecken vorgesehen ist. Rheinabwärts wird via Bodensee Basel erreicht. Der gesamte Wasserweg Genua–Basel weist eine Länge von 591 km auf, von denen 230 km auf Seen und schiffbare Flüsse entfallen. Der eigentliche Kanal misst 361 km, wovon 30 km in doppelten Galerien, 43 km im Röhrensystem und der Rest im offenen Kanal geführt werden. 1908 wird in der «Weltrundschau» der technische Vorgang erläutert: «Caminada geht von der richtigen Voraussetzung aus, dass ein grosser Kraftaufwand und eine verhältnismässig grosse Wassermenge dazu gehören, um ein Schiff von Stufe zu Stufe emporzuheben. Da diese Kraft und die für sie nötigen Gefälle und Wassermengen nicht überall zur Verfügung stehen, sucht er eine Verringerung des Kraftaufwandes herbeizuführen. Dazu hat er ein neues Kanalsystem erdacht, das wir uns am besten als eine Wasserleitung vorstellen, die vom Reservoir über Hügel und Hänge zur Stadt führt. Ähnliche Röhren will Caminada als Kanalbett verwenden. Diese sind mit einer Anzahl von Schleusentoren versehen, die in Serpentinen auf die Höhen hinaufführen.
Im Innern liegt eine Schiene. Soll nun ein Schiff über die Alpen gebracht werden, so fährt es in die unterste Schleuse ein, deren Tor sich hinter ihm schliesst. Es wird dann mit der Schiene verbunden, sodass es auf dieser emporzurollen vermag. Dann wird Wasser in die Schleuse eingelassen, das sich hinter dem Schiff zu sammeln beginnt und das Schiff vor sich her schiebt, sodass dieses vor- und aufwärts befördert wird, bis es das Niveau der nächsten Schleuse erreicht. Die Grundlage des Caminadaschen Systems beruht darauf, dass die Stufenschleusen zu fortlaufenden Rohrschleusen umgewandelt sind.»

Zustimmung im Ausland, Skepsis in Graubünden

Neben zahlreichen Berichten in Italien, Frankreich und Deutschland stiess das Projekt sogar bei der Presse in Übersee auf Beachtung. Unter der Schlagzeile «Project for a Waterway across the Alps» veröffentlichte die «New York Times» eine reich illustrierte Darstellung von Pietro Caminadas Vorhaben.
Auch in der Schweizer Presse kam es zu Reaktionen. Im «Schweizer Baublatt» lesen wir: «Wenn der neu konstruierte Wasserweg 400 km lang ist, gehört er selbst bei einem Kostenaufwand von 2 Millionen [Lire] per Kilometer nicht zu den unsinnigen Plänen. Freilich wäre eine Nachprüfung der Zahlenangaben durch eine Kommission von Fachleuten nötig. Ernster Erörterung ist das Projekt wohl wert.» Im Tessin und in Graubünden wurde Caminadas Projekt jedoch nicht gerade positiv aufgenommen. Die «Bündner Post» schreibt 1908: «Es ist nicht zu leugnen, dies Projekt ist grossartig; es wird aber noch viel Wasser den Rhein hinunterfliessen, bis das nötige Baukapital zusammengebracht und der Kanal gebaut sein wird. Die jetzige Generation wird dies kaum mehr erleben. Uns wäre besser gedient, wenn die Italiener sich einmal energisch aufraffen und fest erklären würden, wir geben so und so viele Millionen an die [von Chur nach Chiavenna geplante] Splügenbahn.»
In Italien stiess Caminadas Idee einer «via d’acqua transalpina» auf Wohlwollen. König Vittorio Emanuele III. empfing den 42-jährigen Ingenieur am 3. Januar 1908 zu einer Privataudienz, um sich persönlich das Projekt erläutern zu lassen. Die Sache muss recht günstig ausgefallen sein, denn der Monarch erklärte abschliessend: «Wenn ich schon längst vergessen sein werde, wird man immer noch von Ihnen reden.»
Gab es überhaupt wirtschaftliche und politische Interessen an Caminadas Bauvorhaben? Die damalige Stimmungslage war für eine industrielle Entwicklung in Italien günstig. Im «Schweizer Baublatt» lesen wir in derselben Ausgabe: «Selbstverständlich ist die Durchführung des Projektes für Italien von grösster wirtschaftlicher Bedeutung. Genua ist nur in geringem Umfang Ausfuhr- und Transithafen. Während seine Lage ihm eigentlich den Transportdienst für einen Teil Mitteleuropas sichern sollte, ist eine Verringerung statt eine Vermehrung des diesbezüglichen Verkehrs wahrzunehmen. In der Schweiz dominieren die Häfen Antwerpen und Rotterdam.» Deshalb wolle Caminadas Kanal die auf dem Meere ankommenden Waren in die Schweiz bringen und Italien Kohle und Metalle aus Mitteleuropa zuführen. Trotz diesen guten Voraussetzungen ist Pietro Caminadas Projekt nie umgesetzt worden. Einerseits fehlte es an politischer Unterstützung, andererseits verhinderten Kriege eine rasche Verwirklichung: 1911/12 eroberte und annektierte Italien Gebiete Libyens, und 1915 – 1918 nahm es am 1. Weltkrieg teil.

«Ein brennender Vesuv mit Schnee auf dem Gipfel»

Pietro Caminada und sein Werk sind in Vergessenheit geraten. Auf eindrückliche Weise gewürdigt wurde er von einem anderen prominenten Vriner Bürger, von Christian Caminada, damals Dompfarrer, später Bischof von Chur, in einem 1923 im «Bündner Tagblatt» veröffentlichten Nachruf. Pietro Caminada sei durch seine Pläne zur Schiffbarmachung aller Flüsse Europas und deren Verbindung über die Alpen hinweg weltbekannt geworden. «An allen Hochschulen bildet das Schleusensystem Caminadas eines der grossartigsten Probleme. Die Ausführung seines genialen Werkes würde Italien zum Mittelpunkt der gesamten Weltschifffahrt machen. Unserem Kanton Graubünden hatte er eine grosse Rolle zugedacht.» 
Gerne wäre Pietro Caminada im Sommer 1923 in seinen Heimatort zurückgekehrt, um die Schiffbarmachung der Bergflüsse zu studieren. Dazu ist es nicht mehr gekommen, aber «der Tod des genialen Mannes könne vielleicht dazu beitragen, dass man sich wieder intensiver mit seinen Plänen beschäftigt, die eine vollständige Umwälzung aller Verkehrsmittel in Europa bringen müsste. Es wäre für die Bahn eine Konkurrenz ohnegleichen, wenn man bedenkt, dass die Flussläufe zur gleichen Zeit die Triebkraft und die Schienen ersetzen würden. Die Ausrechnungen bewiesen, dass Warenbeförderungen im Verhältnis zu den Bahnen unbegreiflich wohlfeil würden.»
Pietro Caminada habe gewusst, dass die Ausführung seiner Pläne auf sich warten liesse. Für solche Pläne brauche es grosse Idealisten, schreibt Christian Caminada weiter in seinem Nachruf: «Er war ein Feuerkopf mit langem weissem Bart und Haar bis auf die Schultern, ein brennender Vesuv mit Schnee auf dem Gipfel.» Dieweil er im Januar 1923 in der Ewigen Stadt zur Grabesruhe bestattet wurde, hätten im «kleinen Vrin trauernd die Glocken geläutet, weil einer der Ihrigen gestorben ist, auf den sie stolz sein dürfen». 

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