«Die op­ti­ma­le zeit­ge­mäs­se Fas­sa­de ist ein Kom­pro­miss»

Die Fassade entwickelt sich zunehmend zu einem hoch­komplexen, multifunktionalen Bauteil. Was macht eine gute Lösung aus? Prof. Dr. Andreas Luible sprach mit uns über aktuelle Entwicklungen in Forschung und Praxis.

Publikationsdatum
15-07-2022

espazium: Herr Luible, welche funktionalen Anforderungen muss eine heutige Fassade erfüllen?

Andreas Luible: Immer mehr! Zu den herkömmlichen Anforderungen kamen in den letzten Jahrzehnten laufend neue Aspekte hinzu – etwa die Energieproduktion und -effizienz im Betrieb, der sommerliche Wärmeschutz oder die Versorgung mit natürlichem Licht. Auch der Brandschutz und die Schalldämmung haben an Bedeutung gewonnen. Und die Nachhaltigkeit der Materialien – wie überall gilt: Es sind Materialien zu bevorzugen, die mit wenig Energie- und CO2-Aufwand produziert wurden, mengenmässig effizient eingesetzt werden können und punkto Lebensdauer, Dauerhaftigkeit und Rückbaubarkeit auf die mit ihnen verbundenen Komponenten abgestimmt sind; und sie sollen kreislauffähig sein. Gerade die Rückbaubarkeit hat man früher zu wenig beachtet. Es darf nicht mehr sein, dass Fassadenmaterialien dereinst zu Sonderabfällen werden.

Das gilt für die Fassade selbst. Diese hat aber auch Auswirkungen auf ihre Umgebung.

Ja, und diese Auswirkungen sind nicht nur ästhetisch oder städtebaulich, sie betreffen auch das Stadtklima. Im urbanen Raum mit einem grossen Anteil an versiegelten Flächen und grossflächig reflektierenden Fassaden kommt es zu Hitzeinseleffekten. Die lassen sich aber mindern – zum Beispiel durch die Verschattung oder Verdunstungskühlung mit begrünten Fassaden.

In der Fassade kommen sich viele Ansprüche zusammen, die manchmal im Widerspruch zueinander stehen. Wie lassen sich alle in Einklang bringen?

Häufige Zielkonflikte sind etwa das Bedürfnis nach sommerlichem Wärmeschutz und natürlichem Tageslicht oder der Wunsch nach einer klassischen Fassade, die gleichzeitig Energie produziert. Ein Standardrezept gibt es nicht. Es ist die Kunst der Planung, diese Ansprüche zu erfassen, sie gegeneinander abzuwägen – und eine gute Kompromisslösung zu finden. Die optimale zeitgemässe Fassade ist ein Kompromiss.

Das beginnt damit, den Standort einzubeziehen. Heute fokussiert man zu sehr auf die Ästhetik – die Lage, die Setzung, die Geometrie, die Ausrichtung des Gebäudes und die energetischen Anforderungen sollten viel mehr Gewicht erhalten. Genau genommen dürfte eine nach Süden ausgerichtete Fassade nicht gleich sein wie eine nach Norden. Trotzdem sind bei vielen Bürobauten alle Ansichten identisch, was aus energetischer Sicht wenig Sinn ergibt. Ich glaube, viele Bauherrschaften wären grundsätzlich offen für Veränderungen – Energieeinträge oder Tageslichteinfall kann man heutzutage gut im Vorfeld simulieren.

Die unterschiedlichen Anforderungen führen zu einer Vielzahl von Spezialisten. Wer soll sie koordinieren? Welchen Stellenwert hat die interdisziplinäre Zusammenarbeit?

Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist extrem wichtig. Eine Fachdisziplin allein kann gar nicht alle Ansprüche bewältigen; die Folge sind zahlreiche Schnittstellen. Es braucht daher Spezialisten, die sich damit auskennen: Fassadeningenieurinnen und Fassadeningenieure mit konstruktivem und gestalterischem Wissen, Materialkenntnissen, bauphysikalischem Verständnis und Erfahrung mit energeftischen Themen. An der HSLU bieten wir im Studiengang Bauingenieurwesen die Studienrichtung «Gebäudehülle» an, die solche Kompetenzen vermittelt. Derart ausgebildete Berufsleute sprechen die gleiche Sprache wie die übrigen Fachplaner – beispielsweise Gebäudetechniker, Tragwerksplaner oder Gestalter – und können auf Augenhöhe mit ihnen diskutieren. Die zentrale Koordinationsaufgabe sehe ich bei den Architektinnen und Architekten – zusammen mit Fassadenspezialisten, die als ihre rechte Hand und als technische Berater wirken.

Welche Technologien und Materialien wurden oder werden neu entwickelt, um all die Ansprüche zu erfüllen?

Die Forschung findet auf mehreren Gebieten statt. Sehr weit fortgeschritten ist die Glastechnologie, die schon zahlreiche praxisreife Entwicklungen hervorgebracht hat; etwa die DreifachIsolierverglasung, hochselektive Glasbeschichtungen oder schaltbare Gläser. Da wird auch weiterhin geforscht; solche Technologien können beispielsweise mechanische Verschattungssysteme ersetzen.

Auch an Dämmsystemen wird geforscht; im Fokus stehen hauptsächlich hochdämmende, natürliche Materialien, um Kunststoffe und andere rohstoffintensive oder schwer rezyklierbare Materialien zu ersetzen.

Gleichzeitig bietet die Gebäudeautomation immer neue Möglichkeiten: Verschattungssysteme, die auf das Energiekonzept des Gebäudes abgestimmt sind und im Einklang mit der Gebäudetechnik funktionieren, oder ganz generell adaptive Gebäudehüllen, die sich den Umgebungsbedingungen und den Nutzerbedürfnissen anpassen können.

Auch die Digitalisierung bietet enorme Chancen – mit Bauteil- und Gebäudesimulation, für thermische Simulationen oder Lichtsimulationen, oder in Bezug auf additive Fertigungsverfahren.

Gibt es andere Branchen oder Wissenschaftszweige, die der Entwicklung der Gebäudehülle interessante Impulse geben?

Vor allem der Maschinenbau oder die Automobilbranche liefern viel Inspiration – nicht nur für Metallfassaden, sondern auch, wenn es um Verbindungsdetails oder Abdichtungen geht. In Fassadendetails steckt oft mehr Maschinenbau als Bauingenieurwesen. Diese Branchen sind uns weit voraus, davon können wir profitieren.

Für adaptive Gebäudehüllen kommen wichtige Impulse aus der Biologie: In der Natur passt sich jedes Tier, jede Pflanze
der Umgebung an. Auch Gebäude könnten das leisten. Die Bionik analysiert, ob sich solche Fähigkeiten auf ein künstliches System übertragen lassen. Meist stellt sich dabei ein äusserst komplexes Skalierungsproblem, wenn man Effekte, die im Winzigkleinen funktionieren, auf eine ganze Fassade zu transferieren versucht.

Aus meiner Sicht sollte der Fokus ohnehin auf einfachen Systemen liegen. Schliesslich wollen wir keine «Rocket Science» betreiben, keine hochtechnologischen Systeme entwickeln, die grossen Aufwand im Betrieb und Unterhalt erfordern. Das Ziel sollten dauerhafte und unterhaltsarme Systeme sein.

Wie schnell greift die Baubranche neue Trends auf und setzt sie um?

Wir dürfen uns nichts vormachen: Die Baubranche reagiert vergleichsweise vorsichtig, um nicht zu sagen träge auf neue Trends. Gründe dafür gibt es viele. Einerseits ist ein Gebäude gewissermassen immer ein Prototyp. Andererseits bergen Bauprojekte hohe Risiken: Gebäude müssen mehrere Jahrzehnte funktionieren; die mit Innovation verbundenen Risiken vermag in der Regel weder der Hersteller noch der Bauherr zu tragen. Auch Regulatorien wirken hemmend, obwohl gerade die Schweizer Normen eigentlich relativ innovationsfreundlich sind. Nicht zuletzt fehlen der Bauindustrie die finanziellen Mittel, die man in Forschung und Entwicklung investieren müsste.

Trotzdem hält die Bauindustrie immer wieder tolle Lösungen bereit, doch sie kommt damit nur schwer an den Markt. Nehmen wir das Beispiel der elektrochromen Gläser. Sie sind in verschiedener Hinsicht ein «Game Changer», unter anderem ändern sie das Erscheinungsbild einer Fassade komplett; wenn sie eingesetzt werden, muss schon im Entwurf klar sein, dass es kein normales Verschattungssystem mehr braucht. Um sich auf eine solche Neuerung einzulassen, müssen Planende und Bauherrschaft davon überzeugt sein. Innovation spielt sich oft nur auf Projektebene ab: Man versucht, sich von einem Projekt zum nächsten ein wenig zu verbessern, ein bisschen Innovation zu betreiben – ein grosses Umdenken gibt es so nicht. Eine weitere grundlegende strukturelle Hürde ist, dass Fassadenhersteller zu spät in Projekte involviert werden.

Wie beeinflusst die Digitalisierung die Planung und Realisierung von Fassaden?

Die Fassadenplanung, insbesondere von Metallfassaden, ist traditionell mit der Maschinentechnik verbunden und der Baubranche deshalb punkto Digitalisierung wohl um einige Jahre voraus. Auch hier zeigt sich der Einfluss der Automobilbranche, die schon früh digitale Werkzeuge wie 3-D-Plattformen oder Konstruktionsprogramme zum Kollisionscheck benutzte. Heutzutage bieten digitale Werkzeuge ganz neue Möglichkeiten, von der Planung bis hin zu beinahe unbegrenzten Fertigungsmöglichkeiten. Der Schritt in Richtung industrialisierte Bauweise mit Vorfertigung und parametrisierten Bauteilen ist ohne Weiteres möglich. Zum Beispiel könnte jedes einzelne Fassadenelement individuell geplant und gefertigt werden, und dennoch wäre eine solche Fassade weder komplexer noch teurer.

Dieser Artikel ist erschienen in «Fassaden | Façades | FacciateZeitgenössische Bauten in der Schweiz».

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Ausgezeichnete Fassaden

PRIXFORIX
Der alle drei Jahre verliehene PRIXFORIX würdigt die besten und innovativsten Glas-Metall-Fassaden der Schweiz – und die Fachleute aus Architektur, Fassadenplanung, Ingenieurwesen und Fassadenbau, die sie realisiert haben. Die 2021 zum fünften Mal überreichte Auszeichnung fokussiert sich auf die Qualität, die Nachhaltigkeit und die Schönheit der Gebäudehülle. Die Fachjury zeichnet drei herausragende Bauten aus, als vierter Award kommt der Publikumspreis hinzu; die Übergabe erfolgt im Rahmen einer Galaveranstaltung mit rund 600 Gästen aus der ganzen Branche. Die Anmeldung für die nächste Austragung folgt im Februar 2023, die Award Night findet im Herbst 2024 statt.

 

Schweizer Preis für Putz und Farbe
Der Schweizer Preis für Putz und Farbe würdigt Bauten und Projekte, die von einem qualitätsvollen Umgang mit Putz und Farbe und einem kohärenten Zusammenspiel von Architektur und Material zeugen. Prämiert werden interdisziplinäre Teams aus Planung und Handwerk. Die Fachjury zeichnet in zwei Kategorien je Bauten und Raumkonzepte aus, die einen differenzierten und nachhaltigen Umgang mit Putz und Farbe zeigen; ein Online-Voting bestimmt den Publikumspreis. Der nächste Award ist ausgeschrieben (Abgabe 20. Oktober 2022) und wird am 9. Februar 2023 im Rahmen des Architektur­symposiums an der Messe appli-tech verliehen.

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