«Wir ent­deck­ten die an­de­re Hälf­te der Welt»

Von der Lehre zur Praxis

In der Lehre entwickelte die Analoge Architektur pointierte Positionen. Doch wie sieht ihre Umsetzung in der Praxis aus? Die fünf Architekten, deren Studentenarbeiten in TEC37/2015 zu sehen waren, reflektieren im Gespräch, wie Theorie und Praxis aufeinandertrafen. Alle fünf diplomierten zwischen 1987 und 1989 an der ETH Zürich bei Prof. Fabio Reinhart (Assistenz: Miroslav Šik).

Publikationsdatum
21-09-2015
Revision
22-11-2015

TEC21: Wie war Ihr Start nach dem Studium? Konnten Sie die Prinzipien der Analogen Architektur gleich umsetzen?
Conradin Clavuot: Bei den ersten Wettbewerben hatte ich mit «analogen» Entwürfen keine Chance. Das war damals wohl noch zu sehr 19. Jahrhundert. Die Projekte mussten so weit runtergekocht werden, bis die Jury sich noch auf den Entwurf einlassen wollte und ihre eigenen Vorstellungen darin projizieren konnte.
Alberto Dell’Antonio: Je nachdem hat es sogar eine Abwehrhaltung provoziert, wenn die Juroren die Analoge Architektur bereits gekannt haben.
Joseph Smolenicky: Was Conradin sagt, stimmt genau – und es hatte Auswirkungen auf unsere Praxis: Mit den ersten beiden Wettbewerben kriegst du einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf. Und in einem vorauseilenden Darwinismus verwässerst und trimmst du deine Projekte, damit du wenigstens durch den Wettbewerb kommst. Wir mussten uns aber auch klar werden, dass wir mit vielen Realitäten umgehen mussten.

TEC21: Inwiefern?
Smolenicky: Mein erstes Projekt war 1992 ein Coiffuresalon – total farbig, so in Richtung Pop-Art. Ich hatte die Analoge Architektur immer so verstanden, dass man als Architekt fähig sein muss, in eine fremde Welt einzutauchen. Auch wenn diese Welt eine hippe, poppige, verspielte, latent kitschige Welt ist. Mit dieser Interpretation war Miroslav Šik (vgl. Interview) sicher nicht einverstanden.
Quintus Miller: Bei der Brücke in Sevelen von 1989, einer der ersten Arbeiten von Paola und mir, die wir später zusammen mit Christoph Mathys haben realisieren können, haben wir es genau so gemacht, wie wir es bei Miroslav gerlernt hatten: Schritt für Schritt. Und es hat funktioniert. Wir hatten ein Thema und eine Vorstellung, die wir wie eine Geschichte über den Ort erzählen konnten. Damit gelang es auch, die Denkmalpflege zu gewinnen. Das ist eine Erfahrung, die mich bis heute prägt. Ich will meine Auftraggeber auf eine Reise mitnehmen. Dabei erfahren sie eine Geschichte, die sie verstehen und nachvollziehen können.
Peter Joos: Ich glaube, wir funktionieren noch nach derselben Methode, die wir als Studenten gelernt und über die Jahre verfeinert haben. Wir fragen uns im Büro ja immer, was das Gebäude am jeweiligen Ort soll. Wie machen wir die Eingriffe, damit aus einer einfachen Aufgabe etwas Spezifisches wird? Manchmal erkennt man das erst auf den zweiten Blick.

TEC21: War dies das Besondere am Studium bei Fabio Reinhart und Miroslav Šik?
Joos: Sie haben uns gezeigt, dass alles vor Ort vorhanden ist. Man muss nicht alles über Renaissancepaläste wissen, wenn man in Zürich Riesbach baut. Der Fundus in der Umgebung genügt, um das Projekt zu entwickeln. Natürlich ist es gut, wenn man die Geschichte kennt, aber primär ist es wichtig, dass man vor Ort Bescheid weiss: Wo geht das Trottoir durch? Wie steht das Haus zur Strasse? Wie baut man in Riesbach? Was sind die Materialien?
Clavuot: Und du musst kein Künstler sein, um mit der Arbeit beginnen zu können.
Dell’Antonio: Der Bezug zum Metier und zum kulturellen Kontext war sehr präsent. Ich lernte, dass auch das Umfeld einen Einfluss auf meine Entwürfe haben kann. Das war eine Bewusstseinssteigerung im dem Sinn, dass die Alltagsarchitektur viel breiter wurde als das, was bis dahin den Rahmen bildete. Der Blick wurde plötzlich verfeinert. Man lernte, das zu lesen, was in der Nähe ist.
Clavuot: Ich denke, das sind die Wurzeln des «analogen» Denkens. Ich muss mich fragen: Wie kann ich so entwerfen, dass die Leute verstehen, was ich meine?
Miller: Nach den ersten vier Semestern an der ETH war mir nicht klar, weshalb ich 400 Meter lange Schlitten mit Bandfenstern und runden Stützen machen sollte. Warum gab es nur diese eine modernistische Sprache? Mit Fabio, Miroslav und Luca waren endlich Leute da, die uns erklären konnten, was uns Dinge sagen und was die Bedeutung dessen war, was wir taten.
Smolenicky: In dem Moment, als ich die ersten Versuche der «Analogen» gesehen habe, merkte ich: Das ist lebendig! Das hat mit der Welt zu tun! Wir gehen raus und entdecken, was es da alles gibt: Sinnlichkeit, Materialität, Formen, Identität. Und all dies in irgendwelchen Hinterhöfen. Alles, was die akademische Welt eines Mario Campi damals an der ETH nicht gekannt hat, ist auf einmal greifbar geworden. Mir haben sich die anderen 50 % der Welt erschlossen, von denen niemand sonst gesprochen hatte.
Joos: Zudem war auch die anonyme Architektur gültig. Es mussten nicht mehr die Werke der Klassik herangezogen werden. Man konnte sich vor Ort orientieren.
Clavuot: Und es wurde viel räumlicher als bei den Postmodernen. Es ging nicht mehr nur um Zeichen und die Fassaden, sondern man wollte konsistente Welten kreieren.

TEC21: Daneben wurden auch unentdeckte Archive durchforstet.
Miller: Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Im Atelier hat man geschaut, was da für neue Bücher im Umlauf waren. Auch Miroslav hat sich immer dafür interessiert. Wir waren wie Schwämme und haben alles aufgesogen. Wir waren immer in dem Teil der Bibliothek unterwegs, für den sich sonst niemand interessierte.Smolenicky: Es herrschte Goldgräberstimmung bei unseren Streifzügen durch die Bibliothek. Davon hat auch Miroslav profitiert – in einem Ausmass, wie es eine Einzelperson gar nicht schaffen kann. Während wir die Grundlagen zusammengetragen haben, hat er daraus gleichzeitig die Prinzipien der Analogen Architektur formuliert.
Dell’Antonio: Darin lag für mich die grösste Faszination. Ich war als Student an einer Schlusskritik, und die Diskussionen dort waren unglaublich engagiert. Da habe ich gemerkt: Da ist echtes Interesse dahinter! Dort wird nach etwas gesucht und experimentiert. Es hatte eine grosse Anziehungskraft, dass die Gruppe gemeinsam geforscht und gesucht hat.
Miller: Wir haben dann mit den Jaxon-Bildern angefangen. Erst wusste niemand so recht, wie man das macht. Ich bin in die Stadt gefahren und habe das Vogue-Magazin gekauft. Ich wollte verstehen, wie Licht und Schatten auf guten Bildern funktionieren, wie Materialien wirken. Was ich bei Miroslav gelernt habe, ist, ganz genau hinzuschauen. Die Dinge genau zu hinterfragen, um danach zu wissen: Was willst du, und wie kannst du das erreichen?
Smolenicky: Genau! Das war eine Wahrnehmungsschule. Wir haben mit dieser Form der Darstellung architektonische Primärerfahrungen gemacht in Bezug auf sinnliche Phänomene, die die Architektur bestimmen: Licht, Schatten, Oberflächen, Material. Doch die «Analogen» sind immer über die Form diskutiert worden, nie über ihre konzeptionelle Relevanz, nie über ihre Inhalte und ihre Untersuchungen zur Wahrnehmung. Das kommt in der Diskussion immer zu kurz.

TEC21: Und genau diese Art von Formensprache taucht nun vermehrt in aktuellen Wettbewerben auf.
Miller: Du kannst heute in Deutschland Renderings machen lassen, die den Jaxon-Perspektiven von damals sehr ähnlich sehen. Sie sind auf hohem technischem Niveau gemacht, ihr Charakter ist aber einem anderen Zusammenhang entlehnt und nicht mehr kongruent zum Projekt.
Joos: Früher konntest du nicht einfach ein Rendering bestellen, da mussten wir noch voneinander abschauen, wie das gemacht wird. Aber es ist sehr einfach geworden, Bilder mit ein bisschen abartigen Dächern zu erzeugen. Doch es ist nicht mehr aus der Konstruktion oder aus der Funktion heraus abgeleitet, sondern nur vom Bild her gedacht.
Dell’Antonio: Vielleicht müssen wir da schon von Manierismus sprechen. Dies ist ja immer wieder Teil einer Bewegung, und das hat wenig mit den spezifischen Inhalten zu tun. Selbst wenn die Bilder ähnlich sind, transportieren sie aber eine vollkommen andere Botschaft als damals.
Miller: Wir haben eine vergleichbare gesellschaftliche Entwicklung heute wie im späten 19. Jahrhundert. Man ist sehr bild- und formgläubig. Der Inhalt erfährt nicht die notwendige Wertschätzung. Form und Inhalt klaffen meist weit auseinander. Wir leben in einer Zeit, in der die Vermittlung von Inhalt über ein fahles Abbild genügt, weil der Weg vom Inhalt zur Form nicht interessiert.

TEC21: Läuft man da nicht Gefahr, dass es nun überall auf der Welt gleich aussieht, wenn diese Bilderflut globale Ausmasse annimmt?
Smolenicky: Genau das macht die Analoge Architektur relevant. In einer Welt, die dazu tendiert, die Hypes einfach mal kreuz und quer über den ganzen Globus zu reproduzieren, ist es immer mehr die Aufgabe eines Architekten, eine spezifische Identität zu erzeugen. Ich gehe nach Dänemark und finde mich in Zürich Oerlikon wieder. Ich gehe nach New York und finde mich in Zürich Oerlikon wieder. Ich bin ständig in Zürich Oerlikon, wenn ich irgendwo neue Wohnbauten anschauen gehe.
Miller: Es gibt viele Dinge, die sind überall zu finden. Und es gibt ganz viele Sachen, die sind nicht überall. Wenn du reist, dann realisierst du, dass die kulturellen Unterschiede enorm gross sind. Die Globalisierung dauert eher noch tausend als hundert Jahre, bis sie sich global vollzogen hat.
Smolenicky: Es gibt aber auch grosse Veränderungen bei uns. Wir betrachten erst seit ein paar Jahren unser Land auch als urbanes Phänomen. Damals hatte die Analoge Architektur überhaupt keine Antworten darauf. Sie liebte diese kleinen Welten.
Clavuot: Ich glaube, das war nie das Ziel. Die Stadt war einer der Feinde aus der Welt der Moderne. Beim Diplom hat niemand ein städtisches Thema gewählt, alle haben sich immer für das Objekt entschieden. Miroslav konnte da auch nicht besonders weiterhelfen. Ich glaube, das hat ihn nicht interessiert.

TEC21: Es gibt tatsächlich keine grösseren Planungen der Analogen Architektur. Kann man mit der Methode nicht auf Ebene der Stadt operieren?
Joos: Ich glaube, man kann mit den Methoden der «Analogen» keinen klassischen Städtebau in grossen Dimensionen machen. Wenn alles gleichzeitig erstellt werden soll, widerspricht das ihren Prinzipien.
Clavuot: Wir haben aber immer wieder Quartierplanungen wie die Bernoulli-Siedlung in Zürich besprochen. Aber die «tabula rasa» war kein Thema, und wir haben nie eine chinesische Neugründung für 400 000 Menschen diskutiert. Da gäbe es nichts, worauf man sich beziehen könnte.
Miller: Ich glaube schon, dass es möglich ist. Wir konnten den Beweis nicht antreten, aber das Projekt für Andermatt wäre ein gutes Siedlungskonzept geworden. Miroslav und wir waren auf dem ersten Platz, und wir konnten zusammen einen dichten Masterplan entwickeln. Aber den wollten sie nicht wirklich, und so sind wir nach anderthalb Jahren aus dem Projekt ausgestiegen.
Joos: Das ist genau das, was ich meine. Analoge Architektur im grossen Massstab ist nicht investorentauglich. Wir schaffen über Wettbewerbe kleinere Einzelbauten, Schulen, öffentliche Bauten. Aber sobald es gross wird, dann sind wir mit unserem Ansatz zu widerspenstig. Das wird nicht akzeptiert.

TEC21: Hat sich deshalb die Analoge Architektur nie auf breiter Basis durchgesetzt?
Smolenicky: Ich glaube, wir hatten nie eine Lobby. Der Modernismus hatte immer Leute wie Herzog & de Meuron, Diener oder Hotz, die ihre begabten Leute unterstützt haben. Bei den «Analogen» hat sich nie eine Kultur entwickelt, in der man sich gegenseitig hätte beschützen können. Bei den grossen Projekten haben sich immer nur Moderne durchgesetzt.
Joos: Beim Bauen gibt es viele Akteure. Da hörst du einzelne Figuren wie die Vertreter der Analogen Architektur gar nicht. Ausser es gibt einen Multiplikator, der diese Positionen mitträgt. Den gibt es aber nicht, und so ist jeder von uns einfach ein Einzelkämpfer.
Clavuot: Dafür hat sich die Methode in der Lehre etabliert. In jeder Schule präsentieren die Studenten zunächst eine Analyse des Orts mit Stimmung, Identität und spezifischen Faktoren. Das hat sich in der ganzen Breite durchgesetzt und stabilisiert. Früher waren das soziologische Studien und funktionelle Nutzungsschemata. Heute wird der Ortsbezug schon fast übertrieben, und alle behaupten, dass nur genau dieses Projekt hier stehen kann.
Smolenicky: Methodisch ist das «Analoge» ein Erfolgsmodell. Das referenzielle Arbeiten ist an vielen Lehrstühlen inzwischen eine verankerte, aber auch inzwischen stark differenzierte und erweiterte Entwurfsmethode geworden.

TEC21: Wenn sich die Methode an den Schulen durchgesetzt hat, dann müssten doch eigentlich die Anliegen der «Analogen» und deren entwerferischer Furor gegenwärtig eine grosse Verbreitung finden?
Dell’Antonio: Ein Teil dieses Schwungs, den wir durch das Studium erhalten haben, war dem manifestartigen Charakter zu verdanken. Das hatte eine Kraft, auch wenn es überspitzt und plakativ war. Doch die Zeiten sind heute ganz anders. Es war früher viel einfacher, eine Antithese zu formulieren.
Miller: Zürich hat nach der Jahrtausendwende mit der internationalen Öffnung der Märkte und der S-Bahn einen grossen Entwicklungsschub erfahren. Wir hatten keine Gelegenheit, daran aktiv teilzuhaben. Ich glaube aber nicht, dass es am «analogen» Ansatz lag, denn der hat für mich seinen Wert nicht im Formalen, sondern in der Vermittlung von Inhalten. Es lag eher darin, dass wir in Zürich nicht so vernetzt waren. Hingegen haben wir in Basel an verschiedenen städtebaulichen Fragestellungen mitgearbeitet, die nun kurz vor der Realisierung stehen: Charakter und Stimmung sind sehr wohl städtebauliche relevante Argumente.
Joos: Oder man schafft es einfach nicht, an diese Projekte heranzukommen mit einer «analogen» Strategie. Was Conradin über die Wettbewerbe gesagt hat, gilt wohl immer noch.

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