For­men aus Kräf­ten und Span­nun­gen

Sergio Musmecis Tragwerke

Der Name des Ingenieurs Sergio Musmeci (1926––1981) wird in erster Linie mit der Brücke über den Fluss Basento in Potenza (1967––1976) assoziiert – zweifellos sein Capolavoro. Doch stellt sie ein vielfältiges, über ganz Italien verstreutes Werk in den Schatten, das vom Regierungssitz über Sporthallen, Kinos, Markthallen, Kirchen, Firmensitze, Forschungszentren und Villen reicht. Breit gefächert waren auch die Tragwerkssysteme: Falttragwerke, Membranen, Gitterstrukturen und Seilkonstruktionen.

Data di pubblicazione
26-04-2012
Revision
25-08-2015

Als wolle er sein Meisterstück abliefern, zog Sergio Musmeci gleich zu Beginn seiner Selbständigkeit 1954 alle Register des Stahlbetonbaus und zwar für das von Adalberto Libera entworfene Projekt des Palazzo della Regione, dem Sitz der Regionalregierung in Trient. Libera gliederte den 1954–1962 realisierten Bau entsprechend der unterschiedlichen Funktionen in drei Volumina: Giunta (Präsidium), Assessorati (Ämter) und Consiglio (Rat/Parlament). Die je eigene Gestalt der Baukörper fand ihren Widerhall in Musmecis Tragwerkskonzepten.

Palazzo della Regione: Rotationshyperboloid und Kegelstumpf

Das auffälligste Gebäude des Komplexes ist das des Consiglio, das aus dem von den anderen beiden Baukörpern gebildeten Innenhof aufragt. Das Untergeschoss ist als Tambour konzipiert, das Erdgeschoss gleicht einem umgekehrten Kegelstumpf. Hier sind der Sitzungssaal des Regionalrates und ein grosser Tagungssaal untergebracht. Das Gebäude ruht auf vier innen hohlen Pfeilern (Aussendurchmesser 1.20m, Innendurchmesser 0.70m). Das leicht angehobene Dach besteht aus einem filigranen Radial-Metallgitterrost. Blickfang des Gebäudes der Assessorati, in dem die Verwaltung untergebracht ist, sind die zwölf gedrungenen vierarmigen Pfeiler (1.40m), auf denen das Bauvolumen im Erdgeschoss aufliegt und die entlang der Strasse eine Arkade bilden. Sie verzweigen sich unter der Decke des Erdgeschosses zu 48 Stützenachsen in den Obergeschossen, die in einem quadratischen Raster von 12.80m angeordnet sind.

Charakteristisch für den sich über dem rechteckigen Grundriss (72×16m) erhebenden Bau der Giunta, in dem sich die Präsidiumsämter von Regionalregierung und -rat befinden, sind die beiden markanten, mit einer Rustika ornamentierten Piloti. Trotz ihrer starken Dimensionierung (Querschnitt min. 150 /260cm, max. 200 /400cm) verleiht ihnen ihre Ausbildung als Rotationshyperboloide Eleganz. Sie tragen – im Abstand von 40m positioniert und unterstützt von zwei Rundstützen (50cm) zur Querstabilisierung – den in einem Stützenraster von 8m aufgelösten Baukörper. Bei diesem handelt es sich konstruktiv um einen zwei Geschosse hohen Doppel-T-Träger in Stahlbeton mit einem 50cm starken Steg und einer seitlichen Auskragung von je 16m. Der obere Flansch ist im Querschnitt flügel­förmig. Der untere Flansch ist das als Kasten ausgebildete 1.  Obergeschoss.

Dadurch werden die von den Schrägstützen in den Boden des 1. Obergeschosses einge­leiteten Stabilisierungskräfte in den Steg des Doppel-T-Trägers umgelenkt. «Während das Gebäude der Sala Consiliare von einer unmittelbar einleuchtenden und unzweideutigen, konstruktiven Logik [...] [ist]»1, eröffnen sich bei den Bauten Assessorati und Giunta verschiedene Lesarten. Ihre konstruktiven Elemente können als Vierendeel- und Doppel-T-­Träger, als A-Stütze und Rahmen, als Pendelstütze und Hänger (Giunta) / bzw. als Ober- und Unterzüge (Assessorati) interpretiert werden. Es sind ingeniöse Vexierbilder.

Nationales Leichtathletik-Zentrum: Faltungen

Das erste Faltdach, das Musmeci projektierte, war das des Centro di Atletica Leggera in Formia (LT) – einer weitläufigen Sportanlage, die 1955 nach einem Entwurf von Annibale Vitellozzi (1906 –1954) gebaut wurde. Das komplett aus Stahlbeton bestehende Tragwerk des jungen Sergio Musmeci dominiert die 19.80m breite und 35m lange Sporthalle, die durch ein 10cm starkes Faltdach charakterisiert wird. Dieses ist in Querrichtung auf zwei rechteckigen Rahmen abgestützt. Sie verteilen die gesamte Last, auch die der Mauerausfachungen, auf vier Auflagepunkte an den Ecken der Turnhalle. In konstruktiver Hinsicht sind die Versteifungs-Zuganker an den Enden der Träger, die ähnlich wie eine externe Vorspannung wirken, von besonderem Interesse.

1955 entwarf er für das von Carlo Ammannati gestaltete Kino Araldo in Rom ein Dach, das als Übergangsform zwischen Gewölbe und Faltung bezeichnet werden kann. Mit dem Dach des 1956 von Leo Calini und Eugenio Montuori projektierten Raffo-Gebäudes für die Marmorbearbeitung in Pietrasanta geht Musmeci einen Schritt weiter: Das 1000m2 grosse Dach ruht auf 24 Auflagepunkten. In den Faltungen des Daches, das an Muster von Maurits Cornelius Escher oder an ein Origami erinnert, wiederholen sich 13 Elemente. Weitere Beispiele sind das Dach des Kinos von Montecchio von 1957 und der mit Sergio Ortolani und Antonio Cattaneo geplante Entwurf für die Eisenbahnerkapelle in Vicenza (VI). 1966–73 griff Musmeci noch einmal auf diese Konstruktionsart zurück, als er mit Carlo Mollino und Carlo Graffi Bühnenrampen und Dach des Foyers des Teatro Regio in Turin plante.

Brücke über den Fluss Astico: Membranen

Seine erste Erfahrung im Bereich der Membrandächer machte Musmeci 1953 mit Giuseppe Vaccaro, als er das Dach für den Markt von Tressanti (FG) aus parabolischen Gewölben ­entwarf. 1956 übertrug er das Prinzip erstmals auf eine Brücke, und zwar im Entwurf für die Überquerung des Flusses Astico auf der Provinzstrasse zwischen Vicenza und Asiago. ­Diesen erarbeitete Musmeci 1956 gemeinsam mit seinen Partnern aus Vicenza, dem Architekten Sergio Ortolani und dem Ingenieur Antonio Cattaneo.

Die Gesamtlänge von 200m wird von einem zentralen Bogen mit 77m lichter Weite und sechs unterschiedlich langen Randfeldern überspannt. Die Hauptöffnung des 9m breiten Stahlbeton-Tragwerks ist als Viergelenkbogen ausgebildet, der durch die Verbindung mit den Rahmen der Randfelder stabilisiert wird. Um eine Membrantragwirkung zu erzielen, sind die Querschnitte der Bogen bombiert. Der durch Querträger unterteilte Kastenträger des Überbaus ist auf den Scheiteln der 35–45cm starken Bogenträger der einzelnen Felder aufgelegt. Die Bogen sind nicht kreisförmig, um die maximale Biegefestigkeit zu erzielen.

Die maximale Stützweite zwischen diesen Elementen beträgt 20m. Die an Brücken von Robert Maillart erinnernde Silhouette wird ohne Kreisbogen durch eine hyperstatische Struktur ­(statisch unbestimmtes System ersten Grades) erzielt. 1959 schloss er in der Planung für die Tiber-Brücke in Tor di Quinto in Rom mit Ugo Luccichenti daran an. Über die Mercati Generali in Rom, 1960 mit Annibale Vitellozzi, Massimo Castellazzi und Giulio Dall'Anese projektiert, legt sich das Dach wie eine im Wind ausgeschüttelte Decke. Es ist ein uniform druckbeanspruchtes dreidimensionales Gewölbe, ­dessen Tiefpunkte als Stützen ausgebildet sind.

Brücke über den Lao: Von der Membran zum Maschengeflecht

Musmecis Entwurf für die Brücke über den Fluss Lao bei Cosenza (CS) auf der Autobahn Salerno-Reggio Calabria, für den er 1964 mit dem 2. Preis ex aequo IN / ARCH-Domosic ausgezeichnet wurde2, ist ein strukturelles Kontinuum ohne erkennbare Übergänge zwischen Brückenüberbau, ­Pfeilern und Baugrund.
Die Tragkonstruktion geht auf seine frühen Experimente mit Membranen (Minimalflächen) ­zurück, die er mit Hilfe einer Seifenlösung aufspannte (vgl. «Stahlbeton, Seifenblasen und Modelle»). Aus diesen Versuchen leitete sich zum Beispiel die dreidimensional gekrümmte Form der Tragkonstruktion der Basento-Brücke ab. Für den Entwurf der Brücke über den Lao ging Musmeci einen Schritt weiter und löste die gekrümmten Flächen seiner früheren Betonbrücken-Entwürfe in dreidimensional angeordnete kurze lineare Elemente (Stäbe) auf, die ein fast beliebig formbares Maschendrahtgewebe bilden. In dieser Konstruktion werden die Stäbe nur durch uniform verteilte Druckspannungen beansprucht. Damit nahm Musmeci die Computermodellierung komplexer Geometrien mit Finiten Elementen (FE) vorweg. Für die Stäbe (Streben) des Tragwerks wollte Musmeci mit Beton ausgegossene, aus zwei Halbschalen zusammengesetzte Metallrohre verwenden, die sich für die Vorfabrikation eignen; auch die Knoten sollten in dieser gemischten Bauweise ausgebildet werden.

Tempel für die Wissenschaft und die Religion: Netze

Ganz vom Gitternetz her gedacht ist das Tragwerk des Nuklearzentrums von Bombay (Mumbai), das er 1960 mit Leo Calini und Eugenio Montuori plante. Er projektierte für den im Grundriss sechseckigen Bau ein pyramidales, von Rippen in Dreiecksform gegliedertes Dach. Dieses lagert auf enormen vom Boden abgehobenen Wandträgern, die auf sechs Eckpfeilern abgestützt sind.

Von anderer Funktion, aber vergleichbarem Zuschnitt ist die Kirche von Monte Grisa in Triest, die auf ein Gelübde zurückgeht, das der Bischof von Triest, Antonio Santini, am 30. April 1945 ablegte. Zum Dank dafür, dass Triest vor den Schrecken des Krieges bewahrt worden war, gelobte er, eine Kirche zu Ehren der Gottesmutter errichten zu lassen. Doch erst als 1959 das heilige Bild der Fatima nach Italien gebracht wurde, fanden sich die Mittel, und die Planung wurde dem Architekten Umberto Nordio anvertraut, damals ein bekannter Dozent der Architekturfakultät Triest. Am endgültigen Entwurf war auch Sergio Musmeci beteiligt. Es handelte sich um ein Gebäude an einem Hang des Monte Grisa auf 335m ü. M. in einem Karstgebiet mit Höhlen und starkem Wind (200km/h), in dem erhebliche Temperaturschwankungen auftreten. Der Bau erfolgte erst 1963––1966 nach Modellversuchen im Istituto Sperimentale Modelli e Strutture (ISMES) in Bergamo und in der Windgalerie des Luftfahrt­instituts der Technischen Universität Turin.

Der 45m hohe, sich über kreuzförmigem Grundriss (60m × 60m) erhebende monumentale Stahlbetonbau besteht aus drei riesigen Prismen, die auf einer gemeinsamen Basis ­stehen und in denen zwei in der Form eines griechischen Kreuzes übereinander liegende Kirchen untergebracht sind. Die Schau-Fassaden sind in ein Masswerk aus gleichschenkligen Dreiecken aufgelöst. Umgekehrt ist die 1961––1962 errichtete Kirche des Villaggio del Sole in Vicenza nach demselben Konstruktionsprinzip aufgebaut, aus dem Musmeci aber eine leichte, zeltartige Form generierte. Sie ist in der Mitte des Villaggio del Sole in Vicenza platziert – einem im Rahmen des staatlichen Wohnbauförderungsprogramms INA CASA errichteten Stadtviertel, das von dem Architekten Sergio Ortolani errichtet wurde und 1962 mit dem IN-ARCH-Preis ausgezeichnet wurde.

Das Dach des von der Spira mirabilis3 inspirierten Baus schwingt sich über die sich schneckenfömig «aufrollenden» Mauern wie ein (Spiel-)Kreisel. Fundamente und Mauern sind aus Stahlbeton und folgen dem im Grundriss spiralförmigen Verlauf der Rippen des Dachs. Dieses liegt auf kurzen Stahlbetonpfeilern, die auf den ­Mauern stehen. Der Meridianschnitt des Daches hat annäherungsweise die Form einer logarithmischen Spirale, deren Asymptote die Vertikale im Zentrum der Kirche ist. In statischer Hinsicht verhält sich die Dachkonstruktion im zentralen Bereich anders als in den Randbereichen. Zum fast kegelförmigen Zentrum hin herrschen Membranspannungen (dreidimensional), die zum Rand hin in Biegespannungen (zweidimensional) übergehen, bis an der Peripherie nur noch Schnittkräfte übrig bleiben. Die graduelle Erhöhung der tragenden Querschnitte reicht aus, um den Spannungen in der Dachkonstruktion standzuhalten.

Meerenge von Messina

Ein ganz anderes Feld – eine Kombination aus Hänge- und Schrägseilbrücke – spannt er 1969 mit dem Projekt für die Querung der Meerenge von Messina auf. Musmeci greift die Idee des Jawerthschen Trägers auf, um die grösstmögliche Stabilität zu erreichen. Es ist eines der zahlreichen Projekte, für die er ex aequo mit dem 1. Preis ausgezeichnet wird.

Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 18/2012 Sergio Musmeci.

Anmerkungen
1 Jürg Conzett, Das Zusammenspiel technischer und architektonischer Aspekte am Beispiel des Palazzo della Regione in Trento (I). Vgl. auch: Jürg Conzett, Le strutture portanti del palazzo della Regione ed il contributo dell'ing. Sergio Musumeci, in: Marco Pogacnik et. al (Hg.) Il Palazzo della Regione a Trento di Adalberto Libera e Sergio Musmeci, Nicolodi, Rovereto (Tn) 2007, S. 105–136, hier: S. 95

2 IN / ARCH: Das 1960 als Stiftung gegründete Istituto Nazionale di Architettura hat u.a. zum Ziel, die architektonische Qualität zu erhöhen und den Austausch zwischen Baufachleuten zu fördern, indem sie Ausstellungen organisiert, Debatten anstösst und Preise ausschreibt wie IN / ARCH-Domosic, IN / ARCH-Finsider, IN / ARCH-Sir, IN / ARCH-Aniacap. Siegreich in der Konkurrenz um die Brücke war der Entwurf der Gruppe um Carlo Cestelli Guidi und Fabrizio De Miranda, der 1964–70 realisiert wurde.

3 Wegen der «wundersamen» Eigenschaften der logarithmischen Spirale – z. B. umkreist sie den Ursprung unendlich oft, ohne ihn zu erreichen – bezeichnete der Mathematiker Jakob Bernoulli sie als «spira mirabilis». Es handelt sich um eine Spirale, die mit jeder Umdrehung den Abstand von ihrem Mittelpunkt, dem Pol, um den gleichen Faktor vergrössert. In umgekehrter Drehrichtung schlingt sich die Kurve mit abnehmendem Radius immer enger um den Pol.

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