«Es ge­ht um al­les glei­ch­zei­tig»

Ende 2023 hat der Bundesrat den neuen Aktionsplan Baukultur verabschiedet, um die Qualität der Schweizer Planungs- und Bauprozesse zu heben. Oliver Martin vom Bundesamt für Kultur erläutert im Gespräch, warum es das braucht und weshalb Baukultur mehr umfasst als schöne Vorzeigebauten.

Data di pubblicazione
08-04-2024


Judit Solt: Herr Martin, in wenigen Worten: Was ist unter Baukultur zu verstehen? Und unter hoher Baukultur?

Oliver Martin: Bauen gilt gemeinhin als technische Aktivität mit ökonomischen Konsequenzen. Es ist aber auch ein kultureller Akt: Was und wie wir bauen, vom Entstehungsprozess bis zum Ergebnis, wo wir bauen und wo nicht – all das ist Ausdruck unserer Baukultur. Eine hohe Baukultur bedeutet das Streben nach einer guten, angemessenen Qualität für jeden Ort.


Um eine hohe Baukultur zu fördern, hat der Bund eine Strategie erarbeitet und einen Aktionsplan lanciert. War das nötig? Die Schweizer Architektur ist bekannt für ihre hohe Qualität, auch international.

Baukultur ist mehr als Architektur, sie umfasst den ganzen gestalteten Lebensraum und dessen Entstehung. Im Fokus stehen denn auch nicht architektonische Leuchtturmprojekte, sondern die grosse Masse des Gewöhnlichen: die Peripherie, der Speckgürtel, die Agglomeration – all die Siedlungsräume überall in der Schweiz, die in Bezug auf baukulturelle Qualität leider grosse Defizite aufweisen. Diese gilt es aufzuwerten. Eine hohe Baukultur ermöglicht Identifikation, Geborgenheit, Heimatgefühl – und sie findet Antworten auf Herausforderungen wie Klimawandel, Ressourcenknappheit oder Biodiversitätsverlust. Diese umfassende Qualität lässt sich nur erreichen, wenn alle Beteiligten besser zusammenarbeiten, systemischer denken, das Sektorendenken überwinden. Dazu will der Bund mit seiner Strategie beitragen.


Der Bund begründet sein Engagement für eine hohe Baukultur auch damit, dass diese der Schlüssel sei für die Transformation zu einer nachhaltigen, ressourcenschonenden und inklusiven Gesellschaft. Warum ist das so?

Weil die Definition der baukulturellen Qualität ganzheitlich ist. Das Davos Qualitätssystem für Baukultur nennt acht Kriterien – Gouvernanz, Funktionalität, Umwelt, Wirtschaft, Vielfalt, Kontext, Genius Loci und Schönheit – und bildet alle Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung ab. Bei Verdichtungsprojekten beispielsweise geht es nicht nur um ästhetische oder technische Fragen, sondern auch um Vielfalt, soziale Durchmischung, Verträglichkeit, Klimaziele, Finanzierung und vieles mehr. Es geht um alles gleichzeitig. Die Qualitätskriterien für eine hohe Baukultur stellen ein Denkraster dar, um in dieser Komplexität zu navigieren.


Vielen kleineren Gemeinden fehlen die Ressourcen, um eine Entwicklungsstrategie in hoher baukultureller Qualität zu entwerfen. Wie kann der Bund sie unterstützen?

Vor einigen Jahren haben wir untersucht, ob überhaupt ein Bedürfnis nach Unterstützung besteht. In den Kantonen und Regionen existieren schon viele Beratungsmöglichkeiten. Doch kleineren Gemeinden gelingt es nicht immer, den Zugang zu diesen Angeboten zu finden. Deshalb gibt es jetzt eine Plattform mit sämtlichen Beratungsangeboten.


Die Schweizer Bevölkerung wächst, in vielen Regionen herrscht Wohnungsknappheit, die Bautätigkeit kann nicht mithalten. Doch qualitätssichernde Prozesse brauchen Zeit und werden gelegentlich als unnötige Hemmnisse dargestellt, zum Beispiel nach Interventionen des Natur- oder Heimatschutzes.

Anstatt möglichst schnell möglichst viel bauen zu wollen, sollten wir uns fragen: Wie entwickelt sich dieser Ort in Zukunft? Welche Kompetenzen braucht es dafür? Was erhöht die Qualität des Ganzen, was dient lediglich Partikularinteressen? Gerade wenn die Bevölkerungsdichte zunimmt, ist es besonders wichtig, mit dem wertvollen Lebensraum sorgfältig umzugehen. Es reicht nicht, alle funktionalen Anforderungen zu erfüllen, um am Ende, quasi als Beigabe, eine hohe Baukultur zu erhalten. Hohe Baukultur hat den Anspruch, für jeden Ort auf die beste Weise die beste Lösung zu finden. Wenn die Nachfrage steigt, das Bauland knapp wird und viele Randbedingungen zu berücksichtigen sind, gelingt das nur mit umsichtigen Verfahren. In einer komplexen Welt gibt es keine einfachen Antworten. Eine seriöse Auseinandersetzung mag anstrengend und langwierig sein, aber wenn man sie richtig nutzt, erleichtert sie schliesslich die Realisierung: Weil die Akzeptanz höher ist, gibt es weniger Einsprachen und das Ergebnis ist langlebiger.


Für Bauvorschriften sind die Kantone und Gemeinden zuständig. Welches Interesse haben sie daran, eine hohe Baukultur behördlich einzufordern?

Wenn eine Gemeinschaft sich damit auseinandersetzt, was hohe Baukultur ausmacht und wie sie erreicht werden soll, entsteht ein Mehrwert für alle: Im Zentrum steht immer die Qualität des Lebensraums als Ganzes, die Schaffung von Orten, die über die reine Zweckerfüllung hinausgehen und Identität stiften. Unter anderem erhöht das auch die Standortqualität, stellt also einen wirtschaftspolitischen Vorteil dar.

Und was bringt eine hohe Baukultur privaten Bauherrschaften und Investoren?

Wenn ein Ort eine hohe Lebensqualität aufweist, erhöht das den Wert jeder einzelnen Liegenschaft. Umgekehrt lohnt es sich, Projekte in hoher Qualität zu schaffen: Eine Studie der London School of Economics hat gezeigt, dass private Investoren damit mittel- und langfristig höhere Renditen erzielen. Die Kriterien für eine hohe Baukultur können dabei helfen, klare Vorgaben, Regeln und Ziele zu definieren. Hinzu kommen einfachere Verfahren und oft auch Unterstützung durch die Behörden, zum Beispiel in Form einer Beratung oder eines Ausnützungsbonus. Am Ende haben alle mehr davon. Quality sells!

Weiterführende Links

 

Baukultur Konzept, Strategie und Massnahmen

 

Baukulturelle Beratung für Gemeinden

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