Die Reich­hal­ti­g­keit des Be­ste­hen­den

Auf dem Areal «Lysbüchel Süd» in Basel geht es für einen Industriebau, der kurz als Weinlager und danach lange Zeit als Verteilzentrum diente, in die dritte Runde. Mit Präzision wandeln Esch Sintzel Architekten das überformte Gebäude in ein Wohnhaus um. Für die neue Identität spielt die Farbgestaltung eine entscheidende Rolle.

Data di pubblicazione
10-11-2023

Was haben Sardinenbüchsen mit Alpenseglern zu tun? Eine ganze Menge – doch dafür müssen wir etwas ausholen. Das heutige Areal «Volta Nord» im Basler Quartier St. Johann ist ein Ort des Umbruchs. Wo einst der städtische Galgen stand, entwickelte sich die unwirtliche Gegend zu einem begehrten Industriestandort. Nach dem Abriss der Stadtmauer breitete sich das Basler Siedlungsgebiet weiter aus, bis sich Wohnen und Industrie auf der Höhe der heutigen Voltastrasse miteinander verwoben.

Doch wie in vielen Städten tritt die Industrie auch in Basel den Rückzug an. Statt Tabula rasa zu machen wird im «Volta Nord» Fragment für Fragment ersetzt oder umgenutzt. Einer dieser Stadtbausteine ist das Baufeld «Lysbüchel Süd», das zwischen Blockrandbauten aus der Gründerzeit und der neuen innerstädtischen Brache vermittelt. Sichern konnte sich das Grundstück die Stiftung Habitat, die mit der Aufteilung des Areals in kleine Parzellen die Diversität förderte. Noch besetzt ein Parkhaus den zukünftigen «Lysbüchelplatz», den neuen Mittelpunkt des Quartiers. Zwischen dem umgenutzten Schulhaus und dem Kultur- und Gewerbehaus ELYS sowie dem fertigen Baufeld «Lys­büchel Süd» klafft eine grosse Lücke. «Dootestill» ist es hier aber nicht, im Gegenteil. Das Café zum Beckenweg brummt, ein Cargo Bike reiht sich an das nächste.

Antwort auf Vergangenheit und Zukunft

Einen grossen Beitrag dazu leistet ein wahrer Gestaltenwandler: Die ehemalige Weinfabrik von 1955 – ein gut gegliederter, durchfensterter Industriebau mit ­Betonbrüstungen und Klinkerfassade – wurde keine zwei Jahrzehnte später in ein Verteilzentrum umgebaut. Das flache Walmdach fiel 1974 einer fensterlosen Auf­stockung zum Opfer, die Fassade erhielt ein neues ­Gewand aus braunen Trapezblechen. 50 Jahre lang war die «Blechkiste» Teil des trostlosen Quartierausdrucks, bis der Grossverteiler Coop 2017 keine Verwendung mehr für den Bau hatte.

Mehr zum Thema Putz und Farbe finden Sie in unserem E-Dossier.

Mit der Umnutzung in ein Wohnhaus begann für den Bau ein neues Kapitel – von den Architekten liebevoll das «dritte ­Leben» genannt. Die geerbte Identität erhoben Esch Sintzel Architekten im Entwurf zum zentralen Thema. Während das Innere mit einem Wald aus Stützen auf das erste Leben als Weinlager Bezug nimmt, spielt die Aussenhülle auf das zweite Leben als Lagerhaus an. Die neuen Trapezbleche bieten in einem Quartier, in dem sich alles ändert, etwas Vertrautes. Im Umgang mit der hermetisch geschlossenen Kiste stellte sich die Frage: Was passiert, wenn wir die Sardinenbüchse aufdrehen? Sie aufschneiden, aufklappen und hochrollen? Die Antwort ist eine Fassade, die eine neue Leichtigkeit vermittelt und das Schneiden von dünnem Metall erlebbar macht. Ohne die Identität zu verlieren, erweckt die Hülle den Eindruck von Beweglichkeit.

Neben der Baugeschichte ist die neue Fassade auch von der Erdbebenthematik geprägt: Im Vergleich zu Zürich wirken in Basel im Erdbebenfall zehnmal höhere Horizontalkräfte auf ein Gebäude ein. Kräfte, gegen die die alte Struktur aus Stützen und Platten machtlos gewesen wäre. Zur Aussteifung docken die Planenden zwei «dicke Backen» wie Buchstützen an die Kurzseiten an – oder zurren den Bau vielmehr wie im Schraubstock zusammen. Im unteren Wandbereich, wo im Ernstfall höhere Kräfte einwirken würden, sind die Zangen dicker. Wie bei einer mittelalterlichen Kathedrale verjüngen sich die Wände gegen oben und erlaubten so den Architektinnen, die Fassade mehr und mehr zu öffnen. Die Hülle macht ihre Funktion, nämlich das alte Haus zu retten, sichtbar und schenkt dem Bau gegen Osten und Westen ein neues Gesicht.

Von Farben und Kreisen

Am Saum der Blockrandbebauung wirkt das Haus wie ein Katalysator für die weitere Entwicklung. Im Entwurfsprozess tunken die Architekten den ganzen Baukörper in einen roten Farbtopf – eine Hommage an das alte Postreitergebäude, den «Rostbalken» am Bahnhof SBB (vgl. Wettbewerb Nauentor). Das dunkle Rot erzeugt aber eine Schwere, die im Widerspruch zu den leichten Aluminiumblechen steht – auch eine monochrome Umsetzung war damit vom Tisch. In einem weiteren Schritt prüfen die Architektinnen und Architekten naturblanke Bleche, die im Gegensatz zur eloxierten Variante über eine warme Farbe mit Patina verfügen. Die starken Reflexionen verhindern aber den gross­flächigen Einsatz der blanken Elemente.

Rot und Grün ist eine beliebte Farbkombination von Esch Sintzel Architekten, die auch beim Weinlager zum Zug kommt. Auf der Suche nach dem idealen Grün schlug die Farbgestalterin Andrea Burkhard das Re­seda-­Grün vor. In den Siebzigerjahren kam die Farbe für die meisten Maschinen zum Einsatz. Die Schuppen aus Trapezblechen gliedern die Kopfbauten durch eine Bänderung. Im unteren Bereich sind rote und naturblanke Elemente im Wechsel verlegt, im oberen Teil grüne statt rote. Die Unterteilung nimmt dem Bau die Höhe und vermittelt im Quartier einen harmonischen Massstab. Ein Untergerüst führt vom Sockel bis zum Dachrand, damit die Begrünung im Lauf der Zeit ­emporklettern kann.

Lesen Sie auch: «Far­be ist wie Mu­sik» – Im Gespräch mit TEC21 beleuchten die Kunsthistorikerin Stefanie Wettstein und die Farbgestalterin Marcella Wenger vom Haus der Farbe die Bedeutung von Farbe in der Architektur.

Postmodern inspiriert sei der Entwurf aber trotz der sprechenden Fassade und den ausgefallenen Details nicht, so Marco Rickenbacher, Projektverantwortlicher und Partner. Beim Weinlager komme der Antrieb für die Gestaltung aus der Auseinandersetzung mit dem Bestand. So hat das Trapezblech beispielsweise mit dem Erbe des Hauses zu tun und erzählt dessen Geschichte.

Auch sind die roten Kreise in den dreieckigen Seitenansichten der aufgeklappten Fassaden nicht die Gelenke einer geheimen Mechanik, sondern ausgeklügelte Nistplätze für geschützte Vogelarten. Damit Feder­tiere, wie der Alpen- und Mauersegler, wieder mehr Platz in der Stadt finden, bekommen die Luft­akrobaten im Normalfall gleich unter der Traufe eine banale Box – nicht so bei Esch Sintzel Architekten.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in 37/2023 «Wenn Farben Wellen schlagen»

Umnutzung «Wohnen im ehemaligen Weinlager», Basel

 

Bauherrschaft
Stiftung Habitat, Basel

 

Architektur
Esch Sintzel Architekten, Zürich

 

Baumanagement und Bauleitung
Proplaning, Basel

 

Landschaftsarchitektur
Stauffer Roesch, Basel

 

Tragwerksplanung
Aerni + Aerni Ingenieure, Zürich; Aegerter & Bosshardt, Basel

 

Fassadenplanung
Christoph Etter Fassadenplanungen, Basel

 

Bauphysik + Akustik
Gartenmann Engineering, Basel

 

HLK-Planung + Fachkoordination
Bogenschütz, Basel

 

Sanitärplanung
Technik im Bau, Luzern

 

Elektroplanung
Edeco, Aesch

 

Brandschutz
Aegerter & Bosshardt, Basel

 

BIM-Koordination
Kaulquappe, Zürich

 

Signaletik
Büro Berrel Gschwind, Basel

 

Farbberatung
Archfarbe, Andrea Burkhard, Zürich

 

Geschossfläche
12 630 m2

 

Baukosten
BKP 1–9 inkl. Mwst. 40.9 Mio. Fr.

 

Mietkosten
3.5-Zimmer-Wohnung, 83 m2, 2070 Fr.

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