Céline Weber: Rückblick auf ein Jahr als Nationalrätin
Knapp ein Jahr nach dem Einzug ins Bundeshaus schildert Céline Weber, Ingenieurin und Präsidentin der Zentralkommission für Normen des SIA, die Höhepunkte ihrer Tätigkeit. Und sagt, welche der im Parlament behandelten Geschäfte für die Planungsbranche relevant sind.
SIA: Frau Weber, Sie sind Ingenieurin ETH/SIA, Präsidentin der Zentralkommission für Normen (ZN) des SIA, Nationalrätin (GLP/VD), Vizepräsidentin des Forum Climatique de la Côte (FCLC), Mitglied des Akademischen Rats der HEPIA und Vorstandsvorsitzende der Conférence romande de la formation continue (CRFC). Was verbindet diese Tätigkeiten miteinander?
Céline Weber: Ich glaube nicht, dass sich meine verschiedenen Tätigkeiten miteinander verknüpfen lassen. Aber wenn ich zwei Gemeinsamkeiten nennen müsste, dann wären das die nachhaltige Ingenieurwissenschaft und die Forschung. Ich hatte in meinem Berufsleben immer mit Forschung und der akademischen Welt zu tun. Es freut mich, diese Erfahrungen nun in die Politik einbringen zu können, insbesondere dadurch, dass ich in meiner Funktion als Parlamentarierin Mitglied der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) bin.
Ihr Terminkalender bietet wenig Spiel für Improvisation. Wie bringen Sie Ihre verschiedenen Verpflichtungen unter einen Hut?
Abgesehen vom Nationalrat nimmt mich die Arbeit bei der ZN am meisten in Anspruch. Als Ingenieurin wollte ich aktiv dazu beitragen, ein besseres Verständnis für den Erarbeitungsprozess von SIA-Normen zu entwickeln. Zwei Tage, nachdem ich dem SIA mein Interesse an dem Mandat bekundet hatte, bekam ich einen Anruf von Isabelle Chevalley. Sie informierte mich über ihren Rücktritt aus dem Nationalrat und sagte mir, ich sei die nächste auf der Liste. Selbstverständlich war ich begeistert. Für mich war das die Gelegenheit, Politik von innen heraus mitzugestalten und dabei meine Kompetenzen als Ingenieurin einzubringen: Pragmatismus, Bereitschaft zur Bewältigung komplexer Angelegenheiten und Genauigkeit. Ich habe das Glück, schon seit Beginn meiner ZN-Präsidentschaft im Frühjahr 2021 auf die wertvolle Unterstützung von Giuseppe Martino, Leiter Fachbereich Normen, zählen zu können. Meine berufliche Tätigkeit musste ich allerdings zurückschrauben.
Was hat Sie bei Ihrem Einzug ins Parlament am meisten beeindruckt?
Die Vielfalt der behandelten Themen. Am selben Tag beschäftigt man sich mit Agrarpolitik, der AHV, den Bedingungen zur Aufnahme für ukrainische Geflüchtete, der Armee – da kommt keine Langeweile auf. Ich brauche Veränderungen. Und beim SIA wie auch im Parlament treibt mich der Wunsch an, Brücken zwischen der Westschweiz und der Deutschschweiz zu bauen.
Sie haben Ihre vierte parlamentarische Session abgeschlossen. Was waren in diesem Jahr Ihre Highlights?
Der Austausch mit den anderen Parlamentarierinnen und Parlamentariern. Ich fühle mich dort wie in einer grossen Familie. Es herrscht eine überaus angenehme Atmosphäre. Als ich in der Wintersession 2021 anfing, durften Lobbyisten – wenn ich mich recht erinnere mit Ausnahme derjenigen, die über eine permanente Akkreditierung verfügten – das Parlamentsgebäude nicht mehr betreten. In der Sommersession war die Wandelhalle dann voll besetzt. Die Tatsache, dass Lobbyistinnen und Lobbyisten sowie Besuchergruppen wieder Zutritt haben, belebt den Betrieb enorm.
Wo wir gerade von Lobbyisten sprechen: Wie nehmen Sie deren Tätigkeit wahr?
Manchmal bedaure ich, dass Lobbying ein negatives Image hat. Aus meiner Sicht ist Lobbyarbeit wertvoll. Natürlich verfolgen die Lobbyistinnen und Lobbyisten die Interessen einer bestimmten Organisation oder Branche. Sie sind sich jedoch darüber im Klaren, dass sie nur von einer oder einem Abgeordneten die Zutrittsberechtigung zum Parlament bekommen. Also haben sie ein Interesse daran, uns reinen Wein einzuschenken und gut aufbereitete Informationen zu liefern, damit wir Abgeordneten fundierte Entscheide treffen können. Ohne die Lobbyisten wäre unsere Arbeit sehr viel komplizierter. Andererseits fällt es auch in unsere Verantwortung, die Dinge im Zweifelsfall richtig einzuordnen.
Inwiefern unterscheidet sich die Lobbyarbeit des SIA von anderen? Und wie kann er seine Lobbyarbeit verbessern?
Aus meiner Sicht ist der SIA sehr zurückhaltend. Er hat keine permanent aktiven Lobbyistinnen oder Lobbyisten im Parlament. Zudem arbeiten nur wenige Abgeordnete in einem Ingenieurberuf. Wenn Gesetzesentwürfe verhandelt werden, die mit Planung oder Ingenieurwesen zu tun haben, dann sollte sich der SIA verstärkt an die Parlamentarierinnen und Parlamentarier wenden und dabei die Ingenieure als Türöffner nutzen.
Sie haben gerade von den Ingenieuren gesprochen: Woran liegt es, dass diese Branche im Parlament unterrepräsentiert ist?
Der Alltag einer Parlamentarierin oder eines Parlamentariers lässt sich nicht unbedingt mit einer Anstellung in einem Ingenieurbüro vereinbaren. Was mich betrifft, so hätte ich nicht in den Nationalrat eintreten können, wenn ich nicht selbstständig gearbeitet hätte. Auf der anderen Seite ist bekannt, dass Ingenieurinnen und Ingenieure – im Gegensatz zu Vertretern anderer Berufe – mehrheitlich nicht gern vor Publikum sprechen. Ausserdem muss man sehen, dass das Ingenieurwesen als solches nicht zu den Hauptthemen des Parlaments gehört, anders als etwa Landwirtschaft oder Gesundheit. Letztlich ist es für Personen, die bereits im juristischen Bereich tätig sind, wahrscheinlich naheliegender, an der Ausarbeitung von Gesetzen mitzuwirken, als für Menschen aus einer anderen Branche. Vielleicht fühlen sich Ingenieurinnen und Ingenieure davon weniger angesprochen oder gar etwas fehl am Platz. Es ist schwierig, einen bestimmten Grund zu nennen.
Im Hinblick auf die Geschäfte, die für die SIA-Mitglieder relevant sind und derzeit im Parlament behandelt werden: Was können Sie über den Stand zur Biodiversitätsinitiative und zum indirekten Gegenvorschlag sagen?
Im Zusammenhang mit der Initiative hatte die WBK-N einen Mitbericht verfasst. Für dieses Dossier ist die Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie (Urek) zuständig, aber die WBK-N hat darauf hingewiesen, dass der Respekt vor der Baukultur die Energiewende nicht verhindern darf. Natürlich wäre das Dach von Schloss Chillon nicht gerade meine erste Wahl, um Photovoltaikmodule anzubringen, aber man kann auch nicht alles übermässig schützen. Es gibt zum Beispiel durchaus ästhetische Solarziegel, die sich gut für Gebäude eignen, die ihr ursprüngliches Aussehen behalten sollen.
Seit dem 1. Januar 2021 gilt das neue Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB): Der Zuschlag einer Ausschreibung geht nicht mehr an das «wirtschaftlichste», sondern an das «vorteilhafteste» Angebot. Sind Sie als Ingenieurin zufrieden, wie sich dieser Wandel im Beschaffungswesen auf Ihre berufliche Tätigkeit auswirkt? Was bleibt noch zu tun, und wie kann der SIA dabei unterstützen?
Der Richtungswechsel in der Vergabekultur ist ein grosser Schritt nach vorn. Derzeit findet dazu übrigens die Vernehmlassung in den Kantonsparlamenten statt. Dennoch stelle ich fest: Im Hinblick auf das neue Paradigma muss noch bei einigen öffentlichen Körperschaften Aufklärungsarbeit geleistet werden. Ihnen muss verdeutlicht werden, dass dieses Gesetz verbindlich ist, und sie müssen darauf aufmerksam gemacht werden, dass ein Bieter durchaus berechtigt wäre, Klage einzureichen, wenn sie den Faktor Qualität nicht berücksichtigen. Abgesehen von einer solchen Sensibilisierungskampagne könnte der SIA auch eine Mitgliederumfrage lancieren: Gibt es grosse Büros, die an einer oder mehreren Ausschreibungen des Bundes teilgenommen und den Zuschlag wegen des Preises nicht erhalten haben? Anhand der Antworten könnte man analysieren, ob und wie dieser Paradigmenwechsel in der Praxis angekommen ist.