Wol­ffs Som­mer­mär­chen

Unter Leitung des abtretenden Stadtrats und Stadtentwicklungsforschers Richard Wolff führte das Tiefbauamt der Stadt Zürich im Sommer 2021 die Aktion «Brings uf d’Strass!» durch. Was das Amt im Rückblick gesamthaft als Erfolg wertet und wodurch es sich zur erneuten Durchführung motiviert sieht, hinterliess bei den betroffenen Quartiervereinen jedoch ein durchzogenes Bild.

Data di pubblicazione
03-05-2022

Ein Leben in der Stadt bietet gewiss Vorzüge gegenüber dem Dorfleben. Die Möglichkeit auf ein Gartenbeet direkt vor der Haustüre, Kinderkreidezeichnungen auf dem Asphalt und verkehrsberuhigte Quartierstrassen gehören aber in der Regel nicht dazu. Ausser, wenn das Tiefbauamt der Stadt Zürich die Regie ergreift, auf ausgewählten Strassenzügen den motorisierten Individualverkehr weitgehend des gewohnten Terrains verweist und den gewonnenen Raum für andersartige Nutzungen freigibt.

So geschehen vergangenes Jahr während fünf Sommerferienwochen im Rahmen der Pilotaktion «Brings uf d’Strass!». In den Zürcher Quartieren Wiedikon, Aussersihl und Industrie wurden unterschiedliche Leitideen umgesetzt, und der Strassenraum wurde zum bespielbaren Freiraum für die Quartierbewohner. Die Fritschistrasse wurde zu einem «gemeinschaftlichen Vorgarten», die Rotwandstrasse zu einer «nachbarschaftlichen Verweiltribüne» und die Konradstrasse zu einer «langen Spielstrasse».

Bobby Car statt Auto

Mit dem Erlass einer temporären Verkehrsvorschrift für insgesamt sieben Wochen (fünf Wochen für die Aktion plus je eine Woche für den Auf- und Abbau) wurden die genannten Strassen für den Autoverkehr gesperrt. Die Zufahrt blieb einzig für Private zu ihren eigenen Parkplätzen, Zubringerdienste, Fahrzeuge für den Güterumschlag und Blaulichtorganisationen möglich. Die öffentlichen Parkplätze wurden ebenfalls temporär aufgehoben. Während der Dauer der Aktion bestimmten sodann Sitz- und Gartenmöbel, Grillausrüstungen, Pétanquebahnen, Spielzeuge, Pingpongtische oder unterschiedliche Pflanzbeete das Strassenbild.

Die Kosten für die Aktion beliefen sich auf gut 300'000 Franken – vollumfänglich mit öffentlichen Geldern finanziert. Doch nicht etwa wegen dieser Kosten, sondern vielmehr aufgrund eines fehlenden, vorzeitigen Einbezugs von Betroffenen polarisierte das Projekt bereits im Vorfeld. Die «Neue Zürcher Zeitung» etwa sprach von einem «paternalistischen Top-down-Ansatz» bei der Planung und Umsetzung des Projekts und machte sich den Sommer hindurch regelmässig für die Quartierläden stark, die aufgrund der verringerten Erreichbarkeit mit dem motorisierten Verkehr und dem Alternativtreiben auf den Strassen Umsatzeinbussen befürchteten und schliesslich auch beklagten. Gegenwind erhielt die Aktion auch an zwei eigentlich noch zusätzlich geplanten Standorten. Anwohner und Gewerbetreibende, die eine Zunahme der Lärmbelastungen und Erschwernisse bei An- und Zufahrten befürchteten, rekurrierten deswegen erfolgreich bei der Publikation der temporären Verkehrsvorschrift im Amtsblatt.

Rückblick aus Sicht der Quartiervereine

Tatsächlich stellte auch das Tiefbauamt in seinem zwischenzeitlich veröffentlichten Schlussbericht trotz positiver Gesamtbeurteilung fest, dass der Zeitplan ambitioniert war und der Einbezug der Quartiere bei einem derart partizipativen Projekt früher geschehen muss. So will es gemäss «Acht Punkten für die Praxis» – quasi den aus dem Pilotprojekt gewonnenen Erkenntnissen für eine weitere Durchführung – die Wahl der Standorte im Dialog mit den Quartierakteuren ermitteln, stärker auf lokales Wissen zugreifen und dadurch die Bedürfnisse und Bedenken angemessen berücksichtigen. In Anbetracht des Fazits in den betroffenen Quartieren scheint die Einlösung dieses Vorsatzes denn auch Pflicht. So beurteilt Urs Rauber, der Präsident des Quartiervereins Wiedikon, das durchgeführte Projekt auf Nachfrage von TEC21 wie folgt:

«Die durchgeführte Aktion erachten wir – im Unterschied zur amtsinternen Einschätzung – als gescheitert. Es ist ein Beispiel dafür, wie ein solches Projekt nicht geplant, vorbereitet, durchgeführt und bilanziert werden soll. Eine Mehrheit der direkten Anwohner stand der Aktion von Beginn an kritisch bis ablehnend gegenüber und wurde nicht beziehungsweise viel zu spät einbezogen. Die vom Quartierverein eingebrachten Wünsche nahm das Tiefbauamt zwar höflich zur Kenntnis und bezeichnete sie als wertvolle Inputs, beherzigte sie aber in keiner Weise oder setzte sie gar um. Ein persönlicher Augenschein vor Ort zwischen Stadtrat Richard Wolff und mir im Juni 2021 änderte nichts am aufgegleisten Projekt. Dies bringt uns zur Feststellung, dass die öffentlich plakatierte Partizipation der Quartierbevölkerung eine Alibiübung war. Der Quartierverein hatte mehrfach schriftlichen und mündlichen Kontakt mit Vertretern des Tiefbauamts, mit Projektverantwortlichen, mit Personen des zur Durchführung beauftragten Planungsbüros sowie dem dafür engagierten Animationsteam. Die meisten erklärten, nur Ausführendezu sein, die keine Befugnis für wichtige Änderungen oder gar einen Stopp des Versuchs hätten.

In der sehr einseitigen Auswertung des Projekts durch das Tiefbauamt ist von einer erfolgreichen Umsetzungdie Rede. Der Quartierverein hat ein eigenes Fazit dazu aus einer schriftlichen Umfrage unter allen Anwohnenden sowie aus persönlichen Gesprächen vor Ort gebildet. Nur eine Minderheit der Befragten sowie Bewohnerinnen und Bewohner umliegender Quartierstrassen befürworteten die Idee. Während der fünfwöchigen Umsetzung wurde die Fritschistrasse meist wenig oder gar nicht besucht, was auch Fotomaterial belegt. Über eine rege Nutzung im Sinne des Vorhabens haben wir im Quartier jedenfalls keine Kenntnis. Nach der Durchführung waren insbesondere Geschäftstreibende, Handwerkerinnen und Handwerker sowie Anwohnende, die auf ein Auto angewiesen sind, froh, die eigentlich vorhandenen Parkplätze mit ihren Anwohnerkarten wieder benutzen zu können.

Dem Ganzen setzt die zwischenzeitlich vom Gemeinderat beschlossene Wiederholung für 2022 als politisch motivierte Anti-Auto-Aktion die Krone auf. Da wir nach unseren sehr negativen Erfahrungen mit dem Tiefbauamt unter dem ausscheidenden Stadtrat Richard Wolff das Vertrauen in die politische Führung des Amts verloren haben, lehnen wir eine Neuauflage dieses Versuchs im Kreis 3 strikt ab. Das gilt auch für Strassen, auf denen die Voraussetzungen für eine Durchführung besser wären als an der Fritschistrasse. Dem Gespräch mit einem neuen Departementsvorsteher oder neuen Verantwortlichen beim Tiefbauamt würden wir uns aber selbstverständlich nicht verweigern. Das Quartier Wiedikon und der Quartierverein Wiedikon sind immer bereit, eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung und dem Stadtrat zu pflegen. Dies praktizieren wir bei anderen Themen sowie in Zusammenarbeit mit anderen Ämtern seit vielen Jahrzehnten. Nur: Eine Alibipartizipationsübung wie im vorliegenden Fall werden wir auch in Zukunft ablehnen.»

Auch Alex Goetz, Präsident des Quartiervereins Industrie, stimmt seinem Amtskollegen Rauber bezüglich Involvierung des Quartiervereins in das Projekt grösstenteils zu, gelangt aber zu einem gesamthaft positiveren Schluss:

«Leider wurde der Quartierverein nie proaktiv über das Projekt informiert. Zum ersten Mal vernahmen wir davon aus den Medien, als das Tiefbauamt öffentlich informierte. Auch bezüglich der Strassenwahl erhielten wir und andere Quartierorganisationen keinerlei Informationen. Erste direkte Informationen kamen erst rund acht Wochen vor Projektstart. So war es für uns und die anderen Quartierorganisationen trotz letztlich engem Kontakt mit dem beauftragten Planungsbüro schwierig, noch eigene Aktionen zu planen. Gesamthaft erlebten wir die Einbindung der Betroffenen als eher marginal.

Der Quartierverein stand und steht aber dem Projekt grundsätzlich positiv gegenüber. Auch bekamen wir aus Gesprächen mit Anwohnenden mehrheitlich positive Rückmeldungen. An zwei Abenden setzte der Quartierverein eigene Aktionen um, und gegen Ende des Projekts gab es Initiativen aus dem Kreis der Anwohnenden. Negative Reaktionen aus der Bevölkerung wurden nicht direkt an uns gerichtet – bei Gesprächen zu anderen Themen wurden aber beispielsweise die fehlenden Parkplätze und Ähnliches angesprochen.

Je länger das Projekt dauerte, desto mehr Stimmung war auf der Strasse wahrzunehmen. Die anfängliche Flaute lässt sich wohl ebenfalls mit den fehlenden Informationen über das Projekt erklären. So still das Projekt startete – es gab ja keine offiziellen Anlässe oder Ähnliches –, so still endete es mit dem Abbau aber auch wieder.

Obschon die direkten Rückmeldungen während unserer Anwesenheit durchwegs positiv waren, wünschen wir uns bei einer kommenden Durchführung gewisse Verbesserungen. An erster Stelle sollten der Quartierverein und die Quartierbevölkerung früher und aktiver einbezogen werden. Informationen müssten wir nach Möglichkeiten bereits Anfang Jahr vom Tiefbauamt erhalten, und die Wahl der Strassen sollte im Dialog mit uns erfolgen. Diesbezüglich wünschen wir uns einen Bottom up-Ansatz, bei dem wir auch punkto Länge der gesperrten Strassenabschnitte und Dauer der Sperrungen mitsprechen dürfen.»

Der Quartierverein des ebenfalls betroffenen Quartiers Aussersihl unterliess eine Reaktion auf die Anfrage von TEC21. Die Projektverantwortlichen und der Kommunikationsbeauftragte des Tiefbauamts stützten in einem Gespräch die Erkenntnisse des Schlussberichts. Sie erachteten die erstmalige Durchführung des Projekts als komplexe Aufgabe, die aufgrund der knappen Fristen durchaus grosse Herausforderungen an den Einbezug der Quartiere und an die Kommunikation und Umsetzung der Leitideen stellte.

Unbestrittenes Bedürfnis nach Freiräumen in der Stadt

Nun lässt sich kaum bestreiten, dass das Leben in den Städten zunehmend anonymer wird und der Raum ausserhalb der Parzellen immer weniger Aufenthalts- und Begegnungsqualitäten bietet. Auch stellen die wachsende Bevölkerungszahl, die Innenentwicklung und der Klimawandel die Stadt Zürich vor Herausforderungen: Der Stadtraum muss aufgewertet und die zunehmenden Mobilitätsbedürfnisse müssen effizient und klimaneutral befriedigt werden. Dazu macht die Gemeindeordnung klare Vorgaben: Der Fuss- und Veloverkehr sowie der öffentliche Verkehr sollen gefördert und deren Angebote ausgebaut werden. Eine Erhöhung der Kapazitäten des Strassennetzes für den motorisierten Individualverkehr ist nicht zulässig. Mit dem Projekt «Brings uf d’Strass!» will das Tiefbauamt das wachsende Bedürfnis nach zusätzlichen Frei- und Aufenthaltsräumen in der Nähe des eigenen Wohnorts temporär befriedigen. Gleichzeitig kann es vielfältige Nutzungsmöglichkeiten von Quartierstrassen im realen Raum erproben und so neue Erkenntnisse gewinnen. «Brings uf d’Strass!» erachtet das Tiefbauamt entsprechend als Projektions- und Kommunikationsinstrument für die künftige Stadtentwicklung.

Das verdeutlicht auch der zuständige Stadtrat Richard Wolff:

«Wir müssen die Stadt an die Klimaerwärmung anpassen und die Lebensqualität der wachsenden Stadt erhalten. Dazu braucht es mehr Platz, um sich zu Fuss und mit dem Velo fortzubewegen sowie um Freiräume in der Wohnumgebung nutzen zu können. Auch das Auto hat seine Berechtigung in der Stadt, es kann einfach keine Vorherrschaft mehr beanspruchen.

Mit Brings uf d’Strass!können wir den Menschen im Quartier während der warmen Jahreszeit neue Aufenthaltsräume zur Verfügung stellen. Vor ihrer Haustüre mitten in der Stadt. Die Sommerferien sind dafür am geeignetsten, dann ist das Verkehrsaufkommen in der Stadt nachweislich geringer, auch die Nachfrage nach Parkplätzen lässt jeweils nach. Das Bedürfnis nach Orten für den Aufenthalt und für die Begegnung dagegen ist gross, gerade in dicht besiedelten Gebieten.

Während der letzten Sommerferien habe ich regelmässig vorbeigeschaut und war immer wieder von der speziellen Atmosphäre beeindruckt. Zum Beispiel an einem Abend in der Konradstrasse: Wo sonst Parkplätze sind, grillierten nun Anwohnerinnen und Anwohner miteinander, spielten Kinder Federball und genossen Leute den Feierabend zum Teil auf Möbeln, die sie selber in der Werkstatt, dem Studio Konrad, geschreinert hatten.

Neben den vielen Ideen, die auf die Strasse gebracht wurden, hat es mich gefreut, dass die Menschen aufeinander Rücksicht genommen haben. So gab es etwa keine Lärm- oder Littering-Probleme. Es ist schon interessant, wie im Vorfeld der grosse Rummel prophezeit wurde, und danach bekamen wir zu hören, es sei zu wenig los gewesen.

Brings uf d’Strass!haben wir im Sommer 2021 zum ersten Mal durchgeführt, da läuft natürlich nicht alles perfekt. Wir lernen daraus und machen es dieses Jahr besser.»

Nicht nur Strömungen, sondern auch Bedürfnisse berücksichtigen

Auch andere Schweizer Städte stehen vor ähnlichen Herausforderungen wie Zürich. Laut Tiefbauamt besuchten während des Projekts Vertreterinnen und Vertreter anderer Städte die Strassen, um von den ersten Erfahrungen der Stadt Zürich zu lernen. Zum Beispiel interessierte sie, wie man die temporäre Umnutzung von Quartierstrassen planen und durchführen kann, welche Punkte beachtet werden müssen und welche Herausforderungen es zu bewältigen gilt.

Derartige Aktionen treffen also unbestritten den Geist der Zeit. Auch bieten sie demjenigen Teil der Bevölkerung, der sich über den motorisierten Verkehr und Strassenbaustellen in den Quartieren ärgert, einen willkommenen Ausgleich. In Letzterem sehen die Projektverantwortlichen des Tiefbauamts denn auch die Motivation für die Wiederholung des Projekts: Sie wollen der dichte- und verkehrsgeplagten Stadtbevölkerung etwas zurückgeben. Andererseits wollen sie mit solchen Aktionen Pläne zur schrittweisen Verlegung des Durchgangsverkehrs aus den Quartieren erproben. Das sei aber nicht politisch motiviert, sondern entspreche den Ergebnissen aus dem partizipativen Prozess «Mitwirkung Stadträume und Mobilität» aus dem vergangenen Jahr. Auch wünscht sich laut Tiefbauamt eine Mehrheit der befragten Bevölkerung eine Wiederholung des Projekts – das unterstreiche die Vielzahl an unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten der Strasse und deren einzigartige Freiraumqualität für Interaktion und Kommunikation.

Vor diesem Hintergrund scheint es umso wichtiger, dass die tatsächlichen Bedürfnisse der Quartierbevölkerung und -organisationen einbezogen werden und diese nicht zu Statisten bei der Umsetzung einer verkehrspolitischen Agenda verkommen. Jedenfalls plant das Tiefbauamt bereits die erneute Durchführung. Für diesen Sommer vorgesehen sind die Entlisberg- (Wollishofen), die Hellmut- (Aussersihl) und die Zschokkestrasse (Wipkingen). Ob eine proaktive Gestaltung zusammen mit der Bevölkerung, aber auch mit den Quartierorganisationen gelingt, wird sich bis zu den Sommerferien zeigen.

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