Die Er­ste ih­res Fa­chs

Hela von Tscharner schloss 1933 als erste Schweizerin ihr Bauingenieurstudium an der ETH Zürich ab. Spuren, die mehr über sie erzählen, sind rar. Mit Geduld lassen sich einige Fragmente zusammentragen.

Data di pubblicazione
21-12-2021

Hela (Helena) von Tscharner (1908–1973) gilt als erste Schweizer Bauingenieurin. Sie war die Tochter des Künstlerpaars Johannes Wilhelm von Tscharner und Ilona von Tscharner (Spiegelhalter). Ihre Familie entstammte einem alten Bündner Geschlecht und war im 19. Jahrhundert nach Russland ausgewandert. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Verlust des ­Familienvermögens zog die Familie wieder in die Schweiz und liess sich in Zürich nieder. Hela von Tscharner studierte von 1929 bis 1933 als erste Schweizerin Bauingenieurwesen an der ETH Zürich. Der Versuch, mehr über ihr Leben, ihre Arbeit und ihre Sicht auf die Dinge in Erfahrung zu bringen, endet allzu oft in einer Sackgasse. Die Schatzsuche, bei der vergessen wurde, die Hinweise zu platzieren, lässt einen wiederholt ratlos zurück. Wer war diese unsichtbare Frau?

1932: Plan Zumbach, Köniz

Folgt man der Chronologie, stösst man erstmals im Zusammenhang mit dem sogenannten Plan Zumbach auf den Namen Hela von Tscharner. Der 4.50 m × 1.50 m grosse Plan dokumentiert eine mögliche, aber nicht realisierte Siedlungsentwicklung. Das auf den 15. Januar 1932 datierte Bebauungsprojekt betrifft das Land zwischen Bellevue- und Seelandstrasse in Köniz. Auf dem «Land am Gurten» sollten Ein- und Zweifamilienhäuser entstehen, ­wobei diese stilistisch vom Riegelbau bis hin zum hochmodernen Flachdachhaus sehr verschieden waren. Am rechten Blattrand steht kaum mehr lesbar ­«Architekt: von Tscharner». Der Plan wurde 2015 restauriert. Zeitgleich hat Sybille Walther, die ehemalige Leiterin der Ortsgeschichlichen Sammlung Köniz, mithilfe von Telefonbüchern, Adressverzeichnissen und Bauzeitschriften herausgefunden, dass es sich um Hela von Tscharner handeln muss. Wie die junge Frau zum Auftrag der Zumbachs kam, ist aber völlig unklar.

1939: Eröffnung des eigenen Büros

1939 gründete Hela von Tscharner ihr eigenes Ingenieur­büro in Zürich. Eine absolute Pionierin in dieser Hinsicht war die Architektin Lux Guyer, die schon 1924 wagte, ein eigenes Büro zu eröffnen.

Ebenfalls 1939 erschien in der Festgabe «Wir Schweizerfrauen – Unser Leben und Wirken in Wort und Bild» zur Schweizerischen Landesausstellung in Zürich ein Text mit dem Titel «Das Haus, Einiges über das Bauen» von Hela von Tscharner.1 Im Rückblick auf ihr Studium sagt sie: «Was ich zurückblickend auf meine Studentenzeit erwähnen möchte, ist die Tatsache, dass mir, trotzdem ich scheints die erste Studentin an der Ingenieurabteilung war, keinerlei Schwierigkeiten gemacht wurden. Natürlich gibt es kleinere Widerwärtigkeiten, die aber in der Natur des Einzelgängertums begründet sind.» Zu Beginn ihrer Selbstständigkeit ging es natürlich auch darum, sich als Frau gegen die männliche Konkurrenz durchzusetzen. In den 1930er-Jahren kein leichtes Unterfangen. Von Tscharner nahm den Konkurrenzkampf scheinbar sportlich: «Sucht man Arbeit, […] kann man gelegentlich einiges Unangenehme über berufstätige Frauen hören. Aber auch in solchen Fällen gibt es eine ausgleichende Gerechtigkeit; hat man nämlich die Arbeit bekommen, so lässt einen jegliches Schimpfen als das Natürlichste in der Welt kalt, hat man die Arbeit nicht bekommen, so schimpft auch kein Mensch auf die arbeitenden Frauen.»

Zur Geschlechterfrage äussert sie sich recht nüchtern: «Die Hauptsorge von Kollegen und sogar einiger Vorgesetzten ist meist die Frage der Autorität: Eine Frau habe nicht die gleiche Autorität bei den Arbeitern wie ein Mann. Der Arbeiter, der eine Stelle sucht und verdienen will, leistet die Arbeit dort, wo sie ihm zu normalen Bedingungen geboten wird, ohne sich über Geschlecht oder Eigenschaften des Arbeitgebers den Kopf zu zerbrechen. Die Frage der Autorität ist also bei den heutigen Arbeitsverhältnissen keine Frage des Geschlechts, ja genau genommen nicht einmal eine solche der Intelligenz, sondern lediglich eine Frage der Veranlagung.»

1941: Wohn- und Geschäftshaus, Zürich

Die Schweizerische Bauzeitung berichtete in ihrer Ausgabe vom 10. 4. 1941 über das Wohn- und Geschäftshaus «Schönau».2 Leider sieht man dem Gebäude von Frey & Schindler Architekten in der Dolderstrasse in Zürich nicht an, dass das Tragwerk von der ersten Schweizer Bauingenieurin berechnet wurde. Über das Tragwerk ist im Text leider nichts zu lesen. Es geht in erster Linie um die Architektur und um einige technische Daten. Das Haus steht heute äusserlich weitgehend unverändert in Zürich.

1950: Gleichstellung der Frauen

Die Stellung der Schweizer Frauen war nach dem Zweiten Weltkrieg noch schwach. Ohne Stimm- und Wahlrecht hatten sie keine Möglichkeit, in Politik und Justiz aktiv mitzuwirken, und auch ein Aufstieg in eine berufliche Kaderposition war trotz Hochschulbildung selten. Einige Frauen, denen dies dennoch gelang, wurden zu Wegbereiterinnen der Frauenbewegung, die sich für die Gleichstellung der Frau im politischen und wirtschaftlichen Leben engagierten. Die Gründung (1950) des Clubs Soroptimist4, Ortsgruppe Zürich, der sich für diese Ziele einsetzt, geht auf einen Kreis um die Bauingenieurin Hela von Tscharner zurück, heisst es auf der Homepage des Clubs.

Der Zusammenhalt unter den Gründerinnen und den ersten Mitgliedern sei, bedingt durch ihre kleine Zahl, in jener Zeit sehr eng gewesen. Leider gibt es unter den heutigen Mitgliedern niemanden mehr, der Hela von Tscharner kannte oder Informationen über sie hat, wie der Club mitteilte.

1958: Saffa 58, Zürich

Eine weitere Spur führt zur Saffa 58, der Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit.3Hela von Tscharner betreute hier Bauten wie den Wohnturm, die ­Sesselbahnstation oder das Haus der Kantone. «Hela von Tscharner hatte eine prominente Rolle in der Vorbereitung der Saffa 58», sagt Dr. Eliana Perotti, die das Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) zur Saffa 58 leitet.

«Trotzdem ist es erstaunlich, wie wenig sie in Erscheinung trat. Auf den Gruppenfotos ist sie eine durchaus beeindruckende Gestalt. Von Tscharner scheint sich in ihrer Ghostbuilding-Rolle eingefunden zu haben.» Obwohl den Ingenieurinnen und Ingenieuren eine gewisse Zurückhaltung nachgesagt wird, ist diese Unsichtbarkeit von Hela von Tscharner ganz und gar untypisch für diese Zeit, weiss Eliana Perotti: «Es ist frappierend, wie bedeutend das Ingenieurwesen in der Nachkriegszeit war. Es gibt massenhaft männliche Figuren, die grosse Staudämme oder Eisenbahnstrecken im In- und Ausland planten. Sie galten nahezu als ­Idealbürger. Für Frauen galt das allerdings nicht.»

Die spärlichen biografischen Daten der Protagonistinnen der Saffa 58 sollen nun wissenschaftlich aufgearbeitet werden. «Wir jagen Nachlässen nach und versuchen, mit den wenigen noch lebenden Beteiligten zu sprechen. Man glaubt immer, die Schweizer Bauwelt sei so klein, und die Architektinnen und Gestalterinnen der damaligen Zeit würden sich kennen. Das trifft aber nur auf wenige zu. Viele lebten und arbeiteten sehr isoliert», sagt Eliana Perotti.

Gemeinsam puzzeln

Hela von Tscharner arbeitete als Lehrerin am Abendtechnikum Zürich.2 Dieses Engagement ist eines der Teilchen, die im grossen von Tscharner-Puzzle noch fehlen. Im besten Fall schlummern Informationen dazu derzeit noch in den Archiven und sind nicht unwiederbringlich verloren.

Besitzen Sie noch Puzzleteile? Historische Fotos, Zeichnungen, Schriftstücke oder persönliche Erinnerungen an die erste Schweizer Bauingenieurin? Können Sie helfen, das Puzzle zu vervollständigen?

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 40/2021 «Dünn gesät».

Anmerkungen

 

1 Wir Schweizerfrauen. Unser Leben und Wirken in Wort und Bild. Eine Festgabe für die Schweizerische Landesausstellung 1939 in Zürich.

 

2 «Wohn- und Geschäftshaus Schönau» in: Schweizerische Bauzeitung, Band 117/118, 1941.

 

3 Annemarie Hubacher-Constam: «SAFFA 1958, Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit in Zürich» in: Schweizerische Bauzeitung Band 76, 1958.

 

4 Soroptimist International ist ein internationaler Club für berufstätige Frauen, der sich für Frauenrechte, Bildung, Gleichberechtigung und Frieden zum Wohl von Frauen einsetzt. Gründung 1921.

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