Vom For­schung­spa­vil­lon zum Ma­ster­stu­dien­gang

Architektur, Tragwerk, Material und digitale Fabrikation: Diese vier Aspekte spielen bei den Stuttgarter Forschungspavillons seit jeher eine zentrale Rolle. Das nun vorliegende Buch beleuchtet Geschichte, Gegenwart und Zukunftsperspektiven dieses Projekts für Experten ebenso wie für Interessierte ohne grosses Vorwissen.

Data di pubblicazione
17-11-2021

Ein Projekt, das 2010 mit einem als studentische Arbeit entworfenen Pavillon begann, entwickelte sich in den letzten zehn Jahren zu einem weltweit beachteten Forschungsvorhaben und mündete in einen eigenen Masterstudiengang. Die Rede ist von den Forschungspavillons des Instituts für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD) sowie des Instituts für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) der Universität Stuttgart. Mit diesem Projekt unter der Leitung von Achim Menges und Jan Knippers beschritten die beiden Institute völlig neue Wege des Entwerfens.

Radikaler Wandel nötig

Ziel ist es, «die ökologische Effizienz der Bauprozesse und Bausysteme drastisch zu verbessern», wie Menges, Gründer des ICD, und Knippers, Initiator der experimentellen Forschungstätigkeit am ITKE, in der Einführung schreiben. Dafür bedarf es eines fundamentalen Wandels des Entwerfens und Bauens, der nicht nur als rein technische Entwicklung gesehen werden darf, sondern als signifikante kulturelle Veränderung.

Es wird also nicht nur digital entworfen und dann mit herkömmlichen Mitteln gebaut – wie es bis heute die Regel ist –, sondern mit konstruktiver Effektivität verbunden. Erste Möglichkeiten auf dem Weg zu diesem hochgesteckten Ziel zeigen die verschiedenen Forschungspavillons und Bauwerke, die in den vergangenen zehn Jahren in Zusammenarbeit der beiden Institute und weiterer Beteiligter entstanden sind. Dabei werden etablierte architektonische und konstruktive Konventionen hinterfragt und konkrete Ideen verfolgt, die sich auf «reale» Architektur übertragen lassen.

Für Experten und Interessierte

Die nun vorliegende Publikation bietet einen gelungenen und tiefgehenden Überblick vom Start im Jahr 2010 bis zu den Pavillons der Bundesgartenschau in Heilbronn und dem Urbach-Turm von 2019 und richtet sich dabei sowohl an jene, die sich erstmals mit den Projekten beschäftigen, als auch alle, die die Entwicklung über die Jahre mitverfolgt haben.

Zum Auftakt führen Menges und Knippers in die Arbeit des ICD und des ITKE ein und stellen sowohl die kooperativen Arbeiten beider Institute als auch Forschungsbereiche vor, an die in beiden mit unterschiedlichem Ansatz gearbeitet und geforscht wird. Es folgen die drei namensgebenden Kapitel mit «Architektur neu denken», «integrative Forschung», «experimentelles Bauen» und anschliessend ein Ausblick auf die möglichen und gleichzeitig nötigen positiven Folgen für die architektonische Praxis. Denn dass sich das Bauen mit seinem immensen Energie- und Ressourcenverbrauch dringend wandeln muss, ist unbestritten.

Sichtbare Weiterentwicklung

Im ersten Kapitel beschreiben das Vorwort und vier kurze Texte zu «Architektur digital anders denken» oder «Forschendes Bauen und bauendes Forschen», welche Aspekte bei dieser Art des Entwerfens und Bauen besonders wichtig sind und worauf es dem Stuttgarter Team ankommt. Den Abschluss bildet eine komplexe und gleichzeitig gut verständliche Übersichtsdoppelseite zu allen im Buch vorgestellten Pavillons und dem Urbach-Turm mit Hinweis auf Material, Fertigungsprozess und vielem mehr.

Das Kapitel der Forschung wird anhand von sechs verschiedenen Themen behandelt, wie «Bionik als Wissen» und «Vom Experiment zur anerkannten Bauweise», in deren Kontext die jeweils dazugehörenden Forschungspavillons besprochen und die Weiterentwicklungen dargestellt werden. Den Hauptteil nimmt das Kapitel «Bauen» ein. Jede der detaillierten Projektvorstellungen umfasst mindestens zehn Seiten mit kurzen Texten, Bildern – auch aus der Bauzeit – und computergenerierten Zeichnungen. Sie vermitteln als visuelle Ergänzung zum Schriftlichen noch einmal die spezifischen Besonderheiten. Eine kleine Bautafel informiert über die wichtigsten Projektdaten wie Grundfläche, Entwurfsmethodik und Fertigung, und greift dabei die Symbole der chronologischen Übersichtsseite auf.

Die teils grossformatigen und oftmals sehr stimmungsvollen Fotografien machen noch einmal den Ansatz von Menges, Knippers und ihren Teams deutlich: Trotz all der Technik, die vom Entwerfen bis zum Bauen zum Einsatz kommt, soll ästhetische Architektur entstehen, die die Menschen anspricht und ihre Komplexität in den Hintergrund stellt.

Blicke von Aussen

Zwischen die einzelnen Projektvorstellungen sind kurze, als «Positionen» bezeichnete Aufsätze eingeschoben, in denen externe Autoren sich kurz und gleichzeitig intensiv eines speziellen Sujets widmen, beispielsweise «Materialkultur» und «Explorative Lehre», sowie die Forschung und das Experimentelle im aktuellen Architekturdiskurs verankern.

Etwas aufdringlich wirken die in Fettdruck hervorgehobenen Passagen in den einzelnen Beiträgen, die dadurch als besonders wichtig gekennzeichnet werden. Diese Wahl hätte lieber den Leserinnen und Lesern überlassen werden sollen. Sehr inkonsequent wirkt auch der Umgang mit der gegenderten Sprache. Neutrale Begriffe oder eine Doppelnennung kommen so selten vor, dass es besser gewesen wäre, komplett darauf zu verzichten. Über diese beiden Kritikpunkte sieht man bei diesem ansonsten sehr gelungenen Buch allerdings gerne hinweg, und denkt viel mehr darüber nach, wohin der Weg in den nächsten zehn Jahren wohl führen mag.

Achim Menges, Jan Knippers: Architektur Forschung Bauen. ICD/ITKE 2010–2020, Birkhäuser Verlag, Basel 2021. 208 S., 210 farb. Abbildungen, 22 × 28 cm, gebunden, ISBN 978-3-0356-2036-8, Fr. 71.90

 

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