An un­se­rer Ster­bli­ch­keit Mass neh­men

Architektur für den Menschen

Juhani Pallasmaa und die geistig-emotionale Auszehrung der zeitgenössischen westlichen Architektur.

Data di pubblicazione
10-03-2016
Revision
10-03-2016

Der zeitgenössischen westlichen Architektur wird von verschiedenen Seiten eine Art geistig-emotionale Auszehrung attestiert. So diagnostiziert etwa der finnische Architekturtheoretiker Juhani Pallasmaa den Planern Blindheit für die Kernaufgabe des Bauens: Menschen zu behausen, und zwar den «ganzen Menschen». Die Mehrzahl der heutigen Architekten – so Pallasmaa – leidet an Atrophie, was ihre Sensibilität für «die unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmungen des einzelnen Menschen in seiner Lebenswelt» anlange. Ihre Bauten, bar jeder Empathie und Vorstellungskraft, seien unfähig, «Menschen in existenzieller Weise zu berühren»; sklavisch frönten sie dem Zeitgeist mit seiner Instrumentalisierung des Menschen im Dienst der Leistungs- und Konsumgesellschaft.1 Die zeitgenössische Architektur – so auch der Philosoph und Literaturwissenschaftler Robert Pogue Harrison – sei Ausdruck unserer «Verwirrung» in Bezug auf «die Kernfrage menschlicher Existenz: Die Frage, wer wir sind und wo wir uns befinden, insofern wir Menschen sind».2

Eine fatale Spaltung

Nach Pallasmaa ist die «Fragmentierung des Menschen» durch die Architektur der Neigung vieler heutiger Architekten zuzuschreiben, ganz selbstverständlich von der «Cartesianischen Prämisse einer Spaltung zwischen ‹intellektuell› und ‹existenziell› auszugehen».3 Die Annahme einer solchen Spaltung beruht auf der nicht reflektierten Übernahme und Verzerrung eines Weltbilds, das auf die Anfänge der modernen Wissenschaft zurückgeht; für Denker wie Descartes, Bacon und Boyle war klar: Zwischen Bewusstsein und Materie, Fühlen und Denken klafft ein Abgrund. Ein Blick in die wissenschaftliche Literatur des 17. Jahrhunderts zeigt, dass das Abspalten der Sinnlichkeit und des Gefühls vom Verstand nicht wissenschaftlichen, sondern ideellen Motiven zuzuschreiben ist. Denn den wissenschaftlichen Denkern der frühen Moderne war die aristotelische Tradition mit ihrer Haltung des schauenden Staunens und der Ehrfurcht der Natur gegenüber ein Dorn im Auge.

«To make her your slave»

An die Stelle der kontemplativen Betrachtung der Natur sollte jetzt ihre Beherrschung durch das souveräne Subjekt treten. Denn die «Passivität» der aristotelischen Lebenshaltung – so etwa Francis Bacon – stehe «impotent before Nature», unfähig «to lay hold of her and capture her». Was die Haltung des modernen Wissenschaftlers auszeichne, sei sein Wille, «to bind her [nature] to your service and make her your slave». In den Naturmetaphern der Schriften Francis Bacons, Descartes’ und Robert Boyels’ manifestiert sich der männlich-souveräne Wille zur Eroberung, Zähmung und Unterwerfung der Natur, die als ein verführerisches und zugleich störrisches weibliches Wesen dargestellt wird. Solche Bilder waren nicht etwa die Hirngespinste einiger weniger Frauenhasser, noch sind sie von modernen Feministinnen erfunden worden; vielmehr gehörten sie zum normalen wissenschaftlichen Diskurs des 17. Jahrhunderts und wirkten weit in die folgenden Jahrhunderte hinein.4 «The last two centuries», so fasst der Wissenschaftler James Lovelock die geistige Situation der Zeit lakonisch zusammen, «have seen the slow development of a cultural dementia characterized by a fragmentation of thought as well as by the dogma of the superiority of reason over nature.»5

«Der Fundamentalismus des omnipotenten Ich»

Die Kulturwissenschaftlerin und Filmschaffende Christina von Braun6 macht darauf aufmerksam, dass der «Fundamentalismus des omnipotenten Ich» mit der «Nichtwahrnehmung des Anderen» einhergeht, wobei mit dem «Anderen» nicht nur der andere Mensch gemeint ist, sondern ganz allgemein das «Andere als das Selbst». Ein Ich, das sich omnipotent wähnt, kann diesen Wahn nur unter Ausblendung alles dessen aufrechterhalten, was seinem inflationären Selbstbild widerspricht.

Zum «Hauptfeind» der megalomanischen Verstiegenheiten der Moderne wird folgerichtig alles, was an die ür den Menschen konstitutive Verletzlichkeit, seine Fragilität, Irrtumsanfälligkeit, Natalität und Sterblichkeit gemahnt: Das Weibliche, weil es nicht Souveräne Selbste gebiert, sondern hilflose, schleimverschmierte Winzlinge; die Sinne, weil sie uns nicht nur Lust, sondern auch Schmerz, Verwirrung und das unabweisbare Gefühl der Abhängigkeit bescheren; die Emotionen, weil der Verstand ihnen oft nicht beizukommen vermag; die «ungebärdige Natur» schliesslich, weil sie uns hervorgebracht hat und nicht wir sie, und weil sie uns an den grossen Zusammenhang gemahnt, in den wir gehören.

Ein «sterbliches, weltformendes Geschöpf»7

Pallasmaas und Harrisons Kritik beruht auf dem Gedanken, dass der Architektur eine zivilisationsgeschichtlich zentrale Rolle zukommt. Bauten sind mehr als Schutz vor Wind und Wetter: Sie sind immer und vor allem Manifestationen der Weltbilder eines Wesens, das nicht nur «existiert», das sich vielmehr zu seiner Existenz verhält, indem es sich ein Bild von sich selbst und seinem Platz in der Welt macht; eines Wesens also, das seinem Wohnen in der Welt Bedeutung verleiht. Die Weltdeutungen verschiedener Kulturen und Epochen mögen sich noch so sehr voneinander unterscheiden: Immer sind sie Ausdruck eines «konstitutiv endlichen Geschöpfs», das um seine Endlichkeit weiss und dessen Wahrnehmung deshalb «ihrem Wesen nach temporal» ist.

Die Zeit «bestimmt nicht nur unsere Wahrnehmung der Aussenwelt, sie bestimmt auch den unmittelbar erfahrenen Fluss unseres inneren Lebens».8 Eben weil «menschliche Weltlichkeit vor allem durch die Zeit definiert ist, selbst unsere Wahrnehmung des Raums»9, besteht Pallasmaa zufolge der «moralische Imperativ» der Architektur darin, «das Erleben von Zeit zu strukturieren, Orientierung im Raum zu bieten» und so «unser Verhältnis zu Welt, Leben und Tod» auf tief greifende Weise zu formen.10 Die «weltschaffende» und orientierende Kapazität der Architektur liegt in ihrer schöpferischen Kraft, die indifferent ablaufende «geologische Zeit in menschliche Zeit» zu verwandeln.11

Wohnen in der Welt

Nach Vitruv12, dem ersten Theoretiker des Hauses, ist der Bau von Häusern untrennbar damit verbunden, dass Menschen ein Bewusstsein für ihr Wohnen in der Welt gewannen. Ein Bewusstsein für ihr «Wohnen in der Welt» jedoch wurde aus zivilisationsgeschichtlicher Sicht erst möglich, als die Menschen ihre Toten nicht mehr nur als verwesende Leichname, sondern als ihre Vorfahren wahrnahmen und ihnen Grabstätten – «Wohnungen» – zu errichten begannen. Dieser Vorgang markierte das Ende der ziellosen Wanderschaft des vorgeschichtlichen Menschen: «Kultur entsteht, wo sich die Lebenden ihrer Toten erinnern.»13 «Die Totenstadt», so der Anthropologe Lewis Mumford, ist «älter als die Stadt der Lebenden. Ja, die Totenstadt ist der Vorläufer oder gar der Kern jeder lebendigen Stadt.»14 Auch Adolf Loos weiss, dass alle Architektur mit dem archaischen Grab beginnt: «Wenn wir im Wald einen Hügel finden, sechs Schuh lang und drei Schuh breit, mit der Schaufel pyramidenförmig aufgerichtet, dann werden wir ernst, und es sagt etwas in uns: Hier liegt jemand begraben. – Das ist Architektur!»15

«Was ist ein Haus?»

Wenn es stimmt, dass es «nichts gibt, was in einer wesentlicheren Beziehung zu unserem Sein stünde als die Praktiken unseres Bauens»16, wird die heutige Architektur – eine «wirklich zeitgemässe» Architektur für den «ganzen» Menschen, wie Pallasmaa sie fordert – nicht daran vorbei kommen, ihren Fokus erneut auf die alte Frage: «Was ist ein Haus?» zu richten: «Sie [diese Frage] klingt nicht so, aber es mag durchaus sein, dass sie die philosophische Frage unserer Zeit ist – einer Zeit, in der die traditionelle Philosophie, wie man uns jedenfalls erklärt, am Ende ist und uns in Verwirrung über die Frage zurückgelassen hat, wer wir sind und wo wir uns befinden, insofern wir Menschen sind».17

«Behausen», so Harrison, «bedeutet nicht notwendigerweise, etwas in Mauern einzuschliessen»; grundlegender als Schutz vor Hitze und Kälte ist die Eigenschaft des Hauses, «den Ort eines Nachlebens zu öffnen … einen Lebensraum» für sterbliche Wesen, «der unsere Lebenswärme zu bewahren vermag … einen Ort, in dem die Zeit zur menschlichen Zeit» werden kann. Architekten, die eine gewisse Immunität gegenüber dem vorherrschenden Zeitgeist aufrechtzuerhalten imstande sind, werden die Frage nach der «ortschaffenden Funktion der Architektur» – ihrer «schöpferischen Kraft, Materie in Sinn, umzuwandeln»17 – nie aus dem Blick verlieren. Unverzichtbar für ein tieferes Verständnis dieser Frage sind nach Harrison die Stimmen der Dichter.

Dichter – «Experten für menschliche Zeit»

So richtet Harrison «unsere Frage – was ist ein Haus? – an Dichter und Denker und nicht an Hausbauer, Hausbewohner oder Hausentwerfer»; denn «die Dichter sind seit unvordenklichen Zeiten diejenigen, welche am häufigsten die verborgenen Winkel» des menschlichen Wohnens in der Welt «ausfindig machen». Dichter sind «Experten für menschliche Zeit»; in ihrer Zwiesprache mit den Toten, ihrer Erforschung der «verborgenen Winkel» menschlichen Fühlens, wird tote Zeit – «die Zeit in ihrem eingelagerten Charakter» – zur «künftigen Wiedergewinnung» als «Nachleben» befreit und erneuert.19

Dies ist wohl auch der Gedanke hinter Pallasmaas Plädoyer für eine Architektur, die «den ganzen Menschen in existenzieller Weise berührt und das menschliche Dasein mit ihren Metaphern unterbaut». Denn Architektur, so Pallasmaa, «gehört in ein ebenso riesiges wie elastisches Orientierungsnetz», das sich von der Vergangenheit in die Gegenwart bis in die Zukunft spinnt: «Von der Harmonielehre des Pythagoras über die Geschichte der Architektur, die Filme Andrej Tarkowskijs, die Ethnologie und die Psychoanalyse bis hin zu den philosophischen Untersuchungen über die poetische Vorstellungskraft eines Gaston Bachelard.»20

Unsere Sterblichkeit behausen

Wenn heute weite Stadtteile an Nekropolen gemahnen, mag das als Ausdruck einer unbewusssten Kompensation unserer Sterblichkeitsverdrängung gedeutet werden. Antidot gegen diese fatale Abspaltung unserer Endlichkeit wäre eine «Architektur der sieben Sinne», wie Pallasmaa sie vertritt, eine Bauweise, die den Menschen insofern «existenziell berührt», als sie nicht nur seiner äusseren, sondern vor allem auch seiner «inneren Wahrnehmung» entspricht. Und «menschliche Weltlichkeit» ist nun einmal vor allem durch unseren «inneren Zeitsinn definiert, selbst unsere Wahrnehmung des Raums».21

Das heisst, das unser Gefühl für «Weltlichkeit» und Zusammenhang – für ein «Wohnen in der Welt» – von unserem Sinn für Geschichtlichkeit und Endlichkeit nicht zu trennen ist. Nach Pallasmaa gälte es, die «therapeutischen Potenziale der Architektur» ernst zu nehmen, ihre Kraft, den Menschen von den fatalen Fragmentierungen unserer Zivilisation zu «heilen», ihre Abkehr von der Sinnfrage rückgängig zu machen.22 Der herrschenden «Verwirrung» in menschlichen Dingen ist nur beizukommen – so Harrison –, indem man «die Sterblichkeit ins Bewusstsein zurückbringt». Die Architektur müsse «eine neue Ökonomie des Wohnens» erfinden, «die an unserer Sterblichkeit Mass nimmt und nicht an der leeren Weite einer falschen Erhabenheit». Denn «solange wir unsere Häuser lediglich als Orte denken, an denen wir leben, und nicht als Orte, an denen wir sterben, können diese Häuser niemals zu Heimstätten werden».23 Eine wirklich zeitgemässe Architektur baut für Wesen, deren «konstitutive Endlichkeit jederzeit zugänglich» bleibt.

Amor Mundi – so wohl der Grundgedanke Pallasmaas und Harrisons – ist ohne ein Bewusstsein der Vergänglichkeit und «Fragilität aller menschlichen Angelegenheiten» (Hannah Arendt) nicht zu haben. Gerade für die Architektur bleibt zu wünschen, dass es ihr gelingt, «den Fundamentalismus des ‹omnipotenten Ich› durch das Fundament eines ‹verletzlichen Ich› zu ersetzen»24 und «auf diesem Fundament hier und jetzt neu bauen zu können»25.

Anmerkungen

  1. Architektur der sieben Sinne. Der Architekturtheoretiker Juhani Pallasmaa, von Ursula Seibold-Bultmann, NZZ 18.4.2015
  2. Robert Pogue Harrison: Die Herrschaft des Todes, München, Wien 2006
  3. Juhani Pallasmaa, in: Architektur der sieben Sinne. Der Architekturtheoretiker Juhani Pallasmaa, von Ursula Seibold-Bultmann, NZZ 18.4.2015
  4. Zitiert nach Mary Midgley: «The Remarkable Masculine Birth of Time», in: The Essential Mary Midgley, ed. by David Midgley, Oxon 2005
  5. James Lovelock: Foreword to The Essential Mary Midgley, Ed. by David Midgley, Oxon 2005
  6. «Streit der Lesarten», in: Der kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden (Hg. Uwe Justus Wenzel) Frankfurt 2002
  7. Adolf Loos, in: Harrison, Die Herrschaft des Todes
  8. Harrison, ebenda
  9. Harrison, ebenda
  10. Pallasmaa, in: Architektur der sieben Sinne. Der Architekturtheoretiker Juhani Pallasmaa, von Ursula Seibold-Bultmann, NZZ 18.4.2015
  11. Harrison, Die Herrschaft des Todes
  12. Vitruv, Zehn Bücher über Architektur, in: Harrison, ebenda
  13. Mumford, in: Harrison, ebenda
  14. Harrison, ebenda
  15. Harrison, ebenda
  16. Harrison, ebenda
  17. Harrison, ebenda
  18. Harrison, ebenda
  19. Harrison: ebenda
  20. Ursula Seibold-Bultmann über Pallasmaa, NZZ 18.4.2015
  21. Harrison, Die Herrschaft des Todes
  22. Ursula Seibold-Bultmann, NZZ 18.4.2015
  23. ebenda
  24. Christina von Braun: «Streit der Lesarten. Die Intellektuellen und die ‹Religion der Moderne›»; in: Der Kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden, Uwe Justus Wenzel (Hg.), Frankfurt 2002
  25. Harrison, Die Herrschaft des Todes
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