«Ein Pro­to­typ im Wel­tre­kord­masss­tab»

Hängebrücke in Istanbul

Ein Genfer Bauingenieurbüro hat die längste Mischverkehrbrücke der Welt geplant. Der Mitverfasser des Projekts, Jean-François Klein, erläutert sein ­innovatives Tragsystem und die anspruchsvollen Bauarbeiten vor Ort.

Date de publication
21-05-2014
Revision
18-10-2015
Thomas Ekwall
MSc. EPFL Bau-Ing., MAS ETHZ Arch., Korrespondent TEC21

TEC21: Herr Klein, fangen wir mit den Superlativen an: Die dritte Brücke über den Bosporus wird als längste Eisenbahnbrücke der Welt gelten?
Jean-François Klein: Moment, das ist aber nicht der Grund, warum wir sie bauen! Die längste Brücke mit Mischverkehr Bahn-Auto ist aktuell die Tsing-Ma-Brücke mit 1377m. Wir werden 1408m haben.

Sie wird auch als breiteste Hängebrücke der Welt gelten?
Klein: … aus einer einzigen Fahrbahnplatte, ja. Sie wird 58.5m breit, entspricht also einer Brücke in Querrichtung. Wenn Sie unbedingt weitere Superlative wollen: Wir werden auch die höchsten Brückenpylone der Welt erstellen, mit 326m. 

Schlussendlich reden wir auch von der achtgrössten Brückenspannweite. 
Klein: Die Izmit-Brücke, eine reine Hängebrücke für den Strassenverkehr mit einer Spannweite von 1550m, wird zurzeit auch in der Türkei gebaut. Wir werden also die neunte bauen. Versteht man das System als Schrägseilbrücke, werden wir eindeutig die Ersten sein (lacht).

Zurück zu Ihrer ersten Bemerkung: Warum wird diese Brücke denn gebaut?
Klein: Die Bedürfnisse sind enorm, wir verbinden dabei zwei Kontinente! Die Türkei hat nicht viele Bodenschätze, aber politisch ist das Land sehr begehrt, und ökonomisch reden wir hier von 7–8% Wachstum pro Jahr. Der ganze Landverkehr zwischen Europa und Asien muss den Bosporus überqueren. Abgesehen von der Metrolinie, die 2013 eingeweiht wurde, gibt es nur zwei Brücken, die diese Verbindung gewährleisten. Sie befinden sich im Stadtzentrum und verzeichnen bis zu 300.000 Fahrzeuge pro Tag! Istanbul will nun den Transitverkehr an den Stadtrand verlegen und dabei den geplanten grössten Flughafen der Welt erschliessen. Die zwei ersten Brücken werden für den Schwerverkehr geschlossen.

Wie sind Sie zu diesem Auftrag gekommen, und wie ist Ihr Verhältnis zum Brückenbauer Michel Virlogieux?
Klein: Michel und ich kennen uns seit 30 Jahren, wir haben öfter zusammengearbeitet, und dank ihm sind wir in diesem Abenteuer gelandet. Der Konzessionsunternehmer (vgl. Kasten) hat uns gefragt, ob wir ein Brückenprojekt erarbeiten könnten, als Grundlage für seinen Beitrag zum Konzessionswettbewerb. Innerhalb von sieben Wochen mussten wir Pläne, technische Berichte sowie eine verbindliche Stellungnahme zu den Bauvolumen und der fristgerechten Machbarkeit unserer Lösung liefern. Das Risiko war enorm, aber wir haben es gewagt. 

Welche waren die wichtigsten Rahmenbedingungen des Brückenwettbewerbs?
Klein: Die Brücke müsste als Hängebrücke wirken. Zudem sollte sie auf die Architektur der zwei bestehenden Bosporusbrücken Bezug nehmen. 

Diese zwei Bedingungen sind doch deckungsgleich?
Klein: Die zweite ist subtiler als die erste. Die erste Brücke über den Bosporus wurde 1973 errichtet, eine für diese Zeit sehr fortschrittliche Brücke. Wie 1966 bei der Severn- und später bei der Humber-Brücke (1981) ist ihre kassettenartige, aerodynamische Fahrbahn charakteristisch. Man wollte mit dieser Form den Ursachen des Einsturzes der Tacoma-Brücke 1940 entgegenwirken. Die statische Höhe ist minimal, etwa 3.5m über fast 1000m Spannweite, wie ein Band über den Bosporus. Die zweite Brücke (1988) ist im Prinzip eine exakte Kopie der ersten.

Und die anderen Rahmenbedingungen?
Klein: Die Brücke muss den Bahnverkehr tragen, eine technisch einschränkende Bedingung. Ich würde noch eine dazuzählen, die drastischste von allen, nämlich dass die Brücke in 36 Monaten fertiggestellt werden muss, Planungszeit mit einbezogen. Das ist schierer Wahnsinn für einen solchen Kunstbau! In der Regel hätte man mit zwei Jahren Planung und fünf Jahren Ausführung gerechnet. 

«Der unsinnigste Entscheid bei diesem Bau ist der Terminplan.»

Wie erklären Sie den knappen Terminplan?
Klein: Da fragen Sie lieber die Politiker (lacht), es ist ja immer das Gleiche, egal in welchem Land. Sie wollen die Einweihung am Tag der Republik 29. Oktober 2015 feiern, aber diesen Tag gibt es doch jedes Jahr! Spass beiseite, es ist vor allem ein besonderes Anliegen des Ministerpräsidenten. 

Die Lage des Projekts hat viele Umweltaktivisten empört. Inwiefern beeinflussten Sie die Linienführung der Strasse?
Klein: Die Trasse war lange vor dem Wettbewerb festgelegt. Wir hatten einen Handlungsspielraum in der Breite von etwa 50m. 

Sie sind der einzige Teilnehmer, der die Fahrbahn auf einer einzigen Ebene ausbildete. Warum  
Klein: Die Eisenbahn erträgt nur geringe Verformungen, sei es beim Übergang auf die Dehnungsfugen oder beim Anlauf nach einem Stillstand. Fast alle Brücken mit Mischverkehr Bahn-Auto sind deshalb auf zwei Ebenen angeordnet, und zwar die Eisenbahn unten und die Autos oben. Die zweistöckigen Fachwerke tragen wesentlich zur Steifigkeit der Brücke bei. Wir hatten aber die schlanke Architektur der bestehenden Bosporusbrücken im Auge und wollten deshalb auf einer Ebene bleiben. 

«Vergleichen Sie eine zweistöckige Hängebrücke mit unserer Lösung ... Noch Fragen »

Wie haben Sie die niedrige Steifigkeit der Fahrbahn kompensiert?
Klein: Erstens konnten wir mit unserer aerodynamisch profilierten Fahrbahn die Windlasten reduzieren, die bei der Einmündung des Schwarzen Meeres sehr hoch sind. Zweitens haben wir die weiche Fahrbahn durch aussteifende Spannseile im ersten Drittel der grossen Spannweite der Brücke kompensiert, wobei im restlichen Bereich eine reine Hängewirkung entsteht. Das führt zu einem neuen Brückensystem: keine hybride Brücke, sondern eine «Hängebrücke hoher Steifigkeit». 

Musste der Bosporus unbedingt ohne Stützen im Wasser überquert werden?
Klein: Im Programm war ausdrücklich vorgegeben, dass die Schifffahrt nicht beeinträchtigt werden sollte. Die naheliegende Spannweite lag bei 1275m, wobei die Pylone im Bosporus gegründet werden mussten. Damit wären aber ökologische Probleme und langwierige Genehmigungsverfahren verbunden gewesen. Vor allem wäre das Terminrisiko für den Fundamentbau gestiegen. Aus diesen Gründen haben wir uns dagegen entschieden: Wir haben die Pfeiler aus dem Fluss geschoben und die Spannweite auf 1408 m erhöht. Ein kostspieliger, aber auch vorteilhafter Entscheid. 

Haben Sie also den Wettbewerb wegen der imposanten Spannweite gewonnen?
Klein: Nein, es war unser Konzept, ganz ehrlich. Die betrieblichen und ästhetischen Kriterien waren ausschlaggebend. Alle anderen haben klassische, zweistöckige Hängebrücken vorgeschlagen. Vergleichen Sie eine solche Brücke mit unserer Lösung … Noch Fragen  

Kehren wir zu Ihrem Begriff der «Hängebrücke hoher Steifigkeit» zurück. Worin besteht der Unterschied zur Hänge- bzw. hybriden Brücke?
Klein: Die historischen hybriden Brücken von John A. Roebling bei den Niagarafällen (1855, ersetzt 1897) oder in Brooklyn (1883) nützten je zur Hälfte die Hänge- und die Schrägseilwirkung, gemäss der Kapazität des Seilmaterials. In unserem Fall geht es darum, eine differenzierte Hängewirkung in Feldmitte und eine Schrägseilwirkung am Feldrand zu erzeugen. Ein Prototyp im Weltrekordmassstab. 

Welche Vorteile hat sie gegenüber einer traditionellen Hängebrücke?
Klein: Die Steifigkeit des Systems ist viel höher. Eine Hängebrücke ähnlicher Spannweite würde sich horizontal unter Wind um ca. 7–8m verschieben. Bei uns sind es 1.7m. In vertikaler Richtung würde sie sich unter Verkehrslast um 9m durchbiegen. Bei uns sind es 3.2m. Entscheidend ist vor allem, dass wir damit die Bauzeit verkürzen. 

Welche Erfahrungen haben Sie mit diesem Brückentyp bisher gemacht?
Klein: Wir arbeiten seit Langem daran. In meinen jungen Jahren hatten wir mit den Professoren Walther und Schlaich den Wettbewerb für die Williamsburg-Brücke in New York gewonnen, sie wurde aber nie gebaut. Beim Stonecutters-Wettbewerb haben wir das System auch vorgeschlagen. Wir konnten somit die Schwachstellen und die kniffligen Bereiche dieses Brückentyps identifizieren. Beim Bosporus müssen wir sie nun wirklich lösen! 

«Bis wir mit dem Hinweis zum Unternehmer vordringen, ist der Defekt oft schon eingebaut.»

Somit kommen wir zur Planung der Brücke. Welche Leistungen waren Bestandteil Ihres Mandats?
Klein: Unser Mandat war deutlich. Die Planung umfasste … alles: entwerfen, dimensionieren, die Ausführungspläne erstellen und nicht zuletzt sämtliche Annahmen zur Geotechnik, zum Erdbeben und zum Wind definieren! Im Wettbewerb waren noch keine dieser Angaben vorhanden. Wir mussten eine unerhörte Kriegsmaschinerie in Stellung bringen, um diese Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen. Die Bodenbeschaffenheit zu definieren bedeutete 250 Bohrungen in einem Waldgebiet durchzuführen. Für den Wind mussten wir neue Messungen organisieren, weil die benachbarten Wetterwarten unzuverlässig waren und keine Korrelation zum Brückenstandort gaben. Wir haben sofort einen Mast auf der Höhe der künftigen Fahrbahn gestellt. Anhand kontinuierlicher Windmessungen wurden Abweichungen und Phasenverschiebungen gegenüber den Warten identifiziert. Dann haben wir das Gelände digital über mehrere Kilometer modelliert, um die Standorteffekte zu präzisieren. Erst als die Brücke schon detailliert geplant war, haben wir Windkanalversuche am analogen Modell vorgenommen. Bezüglich Erdbeben haben wir Beschleunigungsmesser im Bereich der Pylone verlegt und Korrelationen mit den bestehenden Anlagen hergestellt. Die seismische Aktivität ist hoch, da wir uns 30–40km von der nordanatolischen Verwerfung befinden. Zusammengefasst haben wir die Brücke aufgrund von Annahmen dimensioniert, die erst im Nachhinein endgültig bekannt wurden. 

Wie war das mit den bescheidenen Ressourcen Ihres Büros überhaupt zu bewältigen?
Klein: Zu Spitzenzeiten hatte ich 70 bis 80 Leute auf dem Projekt, davon 30 hier in Genf. Ich habe mir zusätzlich die Dienstleistung von zuverlässigen Partnern eingeholt, mit denen ich bereits zusammengearbeitet hatte. Die Designgruppe war in der Schweiz, in Belgien, Italien, Frankreich, Portugal, Korea und in der Türkei vertreten. Wir hatten ständig Videokonferenzen... 

Und was die Ausführung angeht, wie sind Sie auf dem Bau organisiert?
Klein: Ich bin mindestens alle zwei Wochen auf der Baustelle, und wir haben drei Personen, die den Bau permanent überwachen. Es ist ein hochbeanspruchtes Bauwerk, und wir reizen die Baumaterialien völlig aus. Umso wichtiger ist es, dass die eingesetzten Materialien und Baumethoden mit unseren Projektannahmen übereinstimmen. 

Wie läuft die Zusammenarbeit mit dem Generalunternehmer?
Klein: Das grosse Problem, ja der unsinnigste Entscheid bei diesem Bau ist der Terminplan. Die Brücke in 36 Monaten – davon nur 29 Monate Bauzeit – fertigzustellen gehört zu den Spielregeln, aber es belastet die Konstruktion und die zwischenmenschlichen Beziehungen. Stellen Sie sich vor: Der Unternehmer ist seit einem Jahr im Boot, und schon ragen die Pylone 220m in die Luft! Die Umlenksattel und die Stahlfahrbahn werden gefertigt, mit der Betonfahrbahn wurde längst begonnen, die Ankerblöcke sind zur Hälfte fertiggestellt, die Rückverankerung ist vollendet. Es passiert alles gleichzeitig, dadurch kann der Unternehmer nichts antizipieren. Jedes Mal, wenn wir ein neues Thema ansprechen, bricht er in Panik aus. 

Können Sie Ihrer Rolle als Baukontrolle überhaupt gerecht werden?
Klein: Wenn wir Fehler oder Nachlässigkeiten in der Ausführung beobachten, ist es schwierig zu intervenieren: Bis wir mit dem Hinweis zum Unternehmer vordringen, ist der Defekt oft schon eingebaut. Es ist eine tägliche Betreuung mit einer minutenschnellen Reaktionszeit gefordert.

Welche Handlungsspielräume haben Sie überhaupt?
Klein: Auf solchen Baustellen gibt es immer wieder heftige Auseinandersetzungen. Danach setzen wir uns hin und suchen eine Lösung, mit der alle zurechtkommen. Manchmal müssen wir das Projekt nachträglich ändern. Das Konzessionsunternehmen und die Baufirma haben sich auf eine dermassen hohe Konventionalstrafe geeinigt! Wir können sie nicht zwingen, die Baustelle zu entschleunigen, aber oft merken sie selbst, wenn der hohe Arbeitstakt schädliche Auswirkungen hat. 

Blicken wir in die Zukunft: Haben Sie vor, weitere Megaprojekte zu realisieren, oder ist das ein einmaliger Auftrag?
Klein: Er ist einzigartig, aber nicht unbedingt einmalig. Ein solches Projekt umzusetzen öffnet uns Türen. Auch wenn wir ein kleines Büro sind im Vergleich zu den Riesenbüros aus Grossbritannien, haben wir eine gewisse Glaubwürdigkeit erlangt. 

«Ich habe anderes zu tun, als überall mit diesem Projekt zu werben.»

Thematisiert werden oft Ausländer, die in der Schweiz arbeiten. Sie sind in die andere Richtung gegangen. Mit welchen Problemen sind Sie konfrontiert?
Klein: Natürlich hat das Ergebnis der Masseneinwanderungsinitiative am 9. Februar nicht geholfen. Seit der Schweizer Franken zudem als Zufluchtswährung dient, sind wir weniger konkurrenzfähig. Andererseits haben wir eine Nische gefunden und gelten als eins der wenigen Büros, die sich bei der Ausführung grosser Brückenbauvorhaben beteiligen. Die Brückenbauer in Europa sind fast wie eine Gemeinschaft, wir kennen uns alle. Dennoch wollen nur wenige die Ausführung an die Hand nehmen: Es ist zu kompliziert, zu viel Stress, und grosses Geld verdient man auch nicht. Die Probleme müssen bis ins Detail und mit dem Druck der Baustelle gelöst werden. 

Wie erklären Sie sich, dass die Allgemeinheit von diesem Projekt und Ihrem Mitwirken nichts weiss?
Klein: Die Bautätigkeit interessiert nicht so viele Leute, die Finanzbranche dagegen schon. Dennoch bin ich überrascht, denn eine Verbindung zwischen Europa und Asien zu realisieren ist, für ein Schweizer Büro, ein starkes Symbol! Wir haben ein Renommee in der Uhrenindustrie, in der Biotechnologie – wir haben es auch im Bauwesen. Wir haben Brücken in Marokko, in Äquatorialguinea, in La Réunion usw. gebaut. Aber gut, ich habe anderes zu tun, als überall mit diesem Projekt zu werben. Menschen, die sich täglich damit beschäftigen, wissen schon Bescheid. 

Das Gespräch wurde in französischer Sprache geführt; Übersetzung: Thomas Ekwall

Jean-François Klein ist Dipl. Bauingenieur sowie Doktor der technischen Wissenschaften der EPFL. Seine Dissertation behandelt die Stabilität und das Verhalten von Schrägseil­brücken mit schmaler Fahrbahn. Er ist seit 1995 Teilhaber des Genfer Ingenieurbüros T-ingénierie (ehemals Tremblet S. A. und ursprünglich 1920 vom Brückenbauer Robert Maillart gegründet).

Sur ce sujet