«Ar­chi­tek­tur als Zu­sam­men­wir­ken von Erd­kruste und At­mos­phäre»

Annette Gigon im Gespräch

Der Daylight Award würdigt die Erforschung und Nutzung des Tageslichts. Weshalb ist diese Auszeichnung wichtig? Annette Gigon, Preisträgerin und Jurymitglied, im Gespräch über die vielfältige Rolle des Lichts in der Architektur.

Date de publication
01-09-2025

Annette Gigon, Sie sind Preisträgerin 2012 und bereits zum zweiten Mal Jurymitglied des Daylight Award. Welchen Stellenwert hat das Tageslicht in Ihrer Architektur?

Das Licht der Sonne ist existentiell, es verbindet uns mit dem Kosmos und ist eine der Voraussetzungen für Leben auf der Erde. Natürlich muss es auch in unseren Gebäuden präsent sein. Gleichzeitig besteht eine Aufgabe der Architektur seit jeher darin, vor den Naturkräften zu schützen – auch vor zu viel Sonnenlicht. 

Deshalb kann Architektur weder ganz abgeschlossen noch ganz offen sein. Sie muss dosieren und filtern – eine kluge Balance herstellen zwischen dem, was der Mensch braucht, und dem, was zu viel ist. Ich mag die Vorstellung, dass Architektur, die körperlich ist und mit festen, schweren Materialien operiert, sich dabei gleichsam «aufkräuselt», porös bzw. eben raumhaltig ist, damit die leichten, körperlosen Elemente wie Licht und Luft hineinscheinen und hineinwehen können: Architektur als Zusammenwirken von Erdkruste und Atmosphäre.

«Zwischen zu viel und zu wenig liegt eine architektonische Freiheit, die unsere Arbeit so spannend macht.»


Ihre Architektur operiert mit dem Kontrast von Licht und Schatten, der Baukörper und deren Gliederungen plastisch hervorhebt. Sie lieben aber auch das Brechen des Lichts, das den gegenteiligen Effekt erzeugt: Volumen schimmern, Oberflächen verwischen, Konturen verschwimmen. Bauten verlieren etwas von ihrer physischen Schwere und das Licht wird sichtbar, gleichsam als immaterieller Baustoff, der Körper annimmt. Beispiele sind das Kirchner Museum in Davos, aber auch neuere Projekte wie das Bürogebäude an der Lagerstrasse oder der Andreasturm in Zürich.

Auch das hat mit der Dosierung des Lichts zu tun. In dieser Bandbreite zwischen zu viel und zu wenig liegt eine architektonische Freiheit, die unsere Arbeit als Entwerfende so spannend macht. Heutige Gebäude müssen immer höheren Komfortanforderungen genügen, immer mehr Regelungen gerecht werden, insbesondere auch in Bezug auf ihren Energiekonsum im Betrieb. Deshalb müssen wir sie in mehreren Schichten denken. 

Aus diesem konstruktiven Zwang eine gestalterische Aufgabe zu machen – Schichten aus mehr oder weniger opaken Materialien einzusetzen, um dann mit deren Opazität, Transluzenz, Transparenz, Reflexion, Streuung und Farbe zu operieren – das fasziniert uns. Die unterschiedlichen funktionalen Barrieren, Filter und Grenzen zwischen Innen und Aussen verstehen wir auch als immer wieder neues architektonisches Thema, zu dem wir als Entwerfende einen Beitrag leisten wollen.

«Widersprüche sind zu adressieren.»


Bei dieser Komposition der Schichten gibt es auch Zielkonflikte. Die Minimierung der Heiz- und Kühllasten beispielsweise erfordert ein möglichst kompaktes Volumen, oft mit grosser Bautiefe, was für die Versorgung mit Tageslicht ungünstig ist.

Diese Widersprüche sind zu adressieren. Gebäude sollen ein konstant angenehmes Raumklima garantieren, obwohl sich die Verhältnisse im Verlauf der Jahres- und Tageszeiten dauernd verändern, dabei ressourcenschonend gebaut sein und dazu auch möglichst wenig Energie für Betrieb, Heizung und Kühlung verbrauchen. 

Auf das Tageslicht bezogen, besteht eine zusätzliche Herausforderung darin, natürliches Licht ins Gebäude zu bringen, weil es für unsere Gesundheit unverzichtbar ist, kostenlos zur Verfügung steht und keine Energie verbraucht – dabei aber Überhitzung und Blendung vermeidet, insbesondere bei Büroarbeitsplätzen mit Monitoren. Meist gelingt das nur in Kombination mit Sonnenschutz und Kunstlicht.

Letztlich muss die Kombination der Schichten, aus denen die Hülle besteht, eine präzise, flexible und in jeder Hinsicht nachhaltige Dosierung von Licht, Luft und Energie gemäss den spezifischen Bedürfnissen des Gebäudes ermöglichen. Das Kirchner Museum oder auch die Erweiterung des Kunst Museum Winterthur sind Beispiele, die dieses Feintuning besonders sichtbar machen: Die Form, die Gebäudehülle und die Konstruktion dienen dazu, das Licht zu fächern, zu streuen, diffundieren zu lassen und zu verteilen, bis im Innern jene schattenlosen, gleichmässigen Lichtverhältnisse entstehen, die die Kunstwerke brauchen. Bei Kunstmuseen ist das gerade einmal etwa 1 % des natürlichen Tageslichts.

Le Corbusier schrieb: «L’architecture est le jeu savant, correct et magnifique, des formes assemblées dans la lumière.»

Le Corbusier hat das Licht im Inneren seiner Bauten meisterhaft geführt, aber hier nimmt er die Aussenperspektive ein. Diese beschäftigt uns selbstverständlich auch: Wie wirkt ein Gebäude von aussen, wenn die Fassade offen, geschlossen, opak, durchscheinend ist? Wie äussert sich die Wandelbarkeit der Fassade, die für das Innenleben notwendig ist? Das hängt von der Konstruktion der Hülle ab. 

Gerade die Moderne hat ja die Öffnung und Ausrichtung der Architektur zum Sonnenlicht als Gegenposition zu den tradierten massiven Bauweisen und dem historischen Städtebau propagiert, wo die Häuser dicht an dicht standen und die Fenster noch klein waren. Zu ihren Argumenten gehörte die Vermeidung von gesundheitlichen Schäden bei Kindern, die bei zu wenig Sonnenlicht an Vitamin-D-Mangel litten und an Rachitis erkrankten. 

«Fast alle Häuser wurden zu Energieschleudern.»


Ich mag hier nun aber weder die alten Städte bewerten noch die Moderne, die ich so liebe, kritisieren. Tatsache ist, dass die Moderne die Häuser stark geöffnet hat. Die Fenster waren gross und meist noch einfach verglast, die Konstruktionen aus den neuen Werkstoffen Stahlbeton und Stahl sehr schlank, die Dämmung damals ungenügend. Diese Schlankheit oder Materialeinsparung wurde mit viel Energie für Heizung und bald auch Kühlung kompensiert. Fossile Brennstoffe, Kohle, später Erdöl und Gas deckten den grossen Energiebedarf. 

Aber der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass auch die traditionellen, massiven Gebäude nach dem zweiten Weltkrieg sukzessive mit Zentralheizungen ausgerüstet wurden: Von nun an wurden nicht mehr nur einzelne Räume während weniger Stunden mit kleinen Öfen beheizt, sondern alle Zimmer während 24 Stunden am Tag. Fast alle Häuser wurden nun zu Energieschleudern. Die Folgen kennen wir.

Welche Themen stehen für Sie heute besonders im Vordergrund, wenn Sie sich als Jurorin des Daylight Award engagieren?

Die vielfältige Rolle des Tageslichts für funktionierende Ökosysteme – und insbesondere für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen – ist noch nicht zu Ende erforscht, aber eines hat die Wissenschaft längst bewiesen: Sie ist absolut zentral. Daher ist klar, dass wir Tageslicht in unseren städtebaulichen und architektonischen Planungen thematisieren müssen. Spannend und inspirierend ist die erwähnte Ambivalenz von zu viel und zu wenig, aber darüber hinaus sehe ich ein weiteres wichtiges Thema: Das Tageslicht als Energiequelle.

«Die Nutzung des Sonnenlichts kann helfen, unsere Bauten nachhaltiger zu gestalten.»


Die Nutzung des Sonnenlichts kann helfen, unsere Bauten nachhaltiger, klimagerechter und ressourcenschonender gestalten. Dazu gehört, dass zumindest der Betrieb CO2-minimiert ist. Also müssen wir technische Mittel wie Photovoltaik oder auch Solarthermie nutzen, um Energie zu produzieren, im Zusammenspiel mit guter Dämmung und Wärmepumpen. In Kombination sind sie die beste Annäherung an das Perpetuum mobile. Das klingt jetzt vielleicht nach einem gestalterisch wenig glamourösen, unheroischen Ansatz, aber Architektur kann und soll einen wesentlichen Beitrag leisten zur Minderung der Klimaerwärmung.

Die Technik, die wir benötigen, um unseren enormen und immer noch weiter steigenden Energiebedarf nachhaltig zu decken, müssen wir auch in unsere Gebäude integrieren können. Dies wirft diverse Fragen auf, unter anderem auch gestalterisch: Wie können wir technische Anlagen wie Photovoltaik als Teil unseres Architekturschaffens begreifen, und zwar als eigentliche Baustoffe und Gestaltungsmittel? – Geht das auch ohne ineffiziente Überfärbungen und Dekorationsschichten? Kann das Schule machen?

Der Daylight Award kann einen relevanten Beitrag dazu leisten, gültige Antworten auf diese Fragen zu finden.

Daylight Award


Der Daylight Award würdigt herausragende Beiträge zu Tageslichtforschung und Tageslicht in der Architektur. Die Jury des Daylight Awards vereint renommierte Fachleute aus Wissenschaft und Architektur: thedaylightaward.com/the-jury/ Ab 2026 vergibt ihn die Daylight Academy (DLA) in zwei Kategorien: Forschung (Tageslicht und dessen Bedeutung für das Wohlbefinden und für ausgewogene Ökosysteme) und Architektur (künstlerisch und baulich hochwertige Nutzung von Tageslicht). Neben Ruhm und Ehre erhalten die ausgezeichneten Personen oder Teams ein Preisgeld in Höhe von 100000.– Euro. 


Herausragende Werke gesucht – nominieren Sie!


Für den Award 2026 können Einzelpersonen, Organisationen, Forschende, Architekturschaffende und Fachleuten mit einschlägiger Expertise noch bis 15. September 2025 Nominierungen einreichen. Selbstnominierungen sind nicht zulässig. Reichen Sie Ihre Nominierungen per E-Mail an office [at] daylight.academy (office[at]daylight[dot]academy) ein oder füllen Sie das Nominierungsformular aus. Alle Details finden Sie hier

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