Win­ter-Plu­se­ner­gie­haus Sol’CH

Energiewende ist, wenn die Kraft der Sonne für die eigene Strom- und Wärmeversorgung ausreicht. Im Puschlav beweist ein Wohnhaus, dass die Bilanz an 353 Tagen pro Jahr positiv sein kann.

Date de publication
10-03-2023

Die Fahrt mit der Rhätischen Bahn über Albula und Bernina ist eine Zeitreise in die Zukunft und die Vergangenheit. Letztere bietet spektakuläre und bisweilen schwindelerregende Rückblicke: Über Dutzende von Kehrtunnels, Schlaufen und Kunstbauten schraubt sich der rote Zug ins Pusch­lav. Die Strecke wurde vor über 110 Jahren durch die wilde Berglandschaft gezogen und ist mittlerweile UNESCO-­Kulturgut. An ihrem Ziel beginnt dagegen eine Zukunft, die ihrerseits nicht ohne Volten, Rochaden und Kehrtwenden zu erreichen ist.

Im Bündner Südtal, am äussersten Zipfel der Schweiz, steht ein Bauwerk, das den Dreh in die Zukunft vormacht. Kurz vor Einfahrt in den Bahnhof von Poschi­avo taucht ein dunkles Haus auf, das seit zwei Jahren beweist, wie man selbst im Winter mit eigenem Solarstrom haushalten kann. Das private Zweifamilienhaus steht am Nordhang des Talhauptorts und macht sich schweizweit einen Namen als «Winter-Plusenergiehaus Sol’CH». Analog zur Ingenieurbaukunst der Bahn wird auch seine Machart anerkannt: Das Gebäude mit Solardach und Solarfassaden gewann namhafte Solarpreise in Europa, darunter den Norman-Foster-Award 2022 der Solaragentur Schweiz. Von den Fachjurys wird jeweils die gute Balance zwischen Architektur und Energietechnik gelobt.

Eingebettet und konfiguriert

Wie die Annäherung vor Ort zeigt: Die monolithische Erscheinung aus der Ferne wandelt sich von Nahem betrachtet zu einem fein proportionierten Fassadenbild. Das konstruktive Einbetten der über 400 Solarmodule gelingt, weil nicht alle Ecken und Kanten ausradiert sind. Das längliche Wohnhaus präsentiert sich über­raschend vertraut und abwechslungsreich: Aus dem Giebeldach ragt ein Kamin; gleich daneben weicht die PV-Hülle einer Loggia. Die Fenster sind rundum ruhig und gleichmässig verteilt und kragen leicht aus den Fassaden aus. In Holz gefasste Einbuchtungen bilden die Ein- und Ausgangsbereiche im Erdgeschoss.

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Für Architektin Nadia Vontobel ist es das Erstlingswerk. Und obwohl es ein familieninterner Auftrag ist, war sie eher bei der Technik als bei der Architektur kompromissbereit. Bauherr und Vater Felix Vontobel arbeitet in der Strombranche und wollte eine Gebäudehülle, die neben den herkömmlichen Qualitäten auch –gestalterisch gut eingebettet – Strom erzeugt. Das Resultat wirkt gelungen und funktioniert: Das Gebäude erzeugt nur während einzelner Schlechtwettertage im Jahr weniger Strom als das Heiz- und Warmwasser­system sowie weitere Geräte im Haushalts- und Wohnbereich jeweils verbrauchen.

Energieeffizienz trifft Kraftpaket

Die Ausstattung und das Gebäude selbst sind auf höchste Energieeffizienz getrimmt. Der massive Baukörper ist überdurchschnittlich gedämmt und dicht, was die Anforderungen des Gebäudestandards Minergie-P erfüllt. Die Betonhülle erhielt den Vorzug vor einem Holzbau, weil die offene, flexible Raumaufteilung für spätere Nutzungszyklen wichtig war. Innen ist die ­Materialisierung sichtbar; nach aussen tragen hinterlüftete Fassaden die anthrazitfarbenen Solarmodule zur Schau. Die PV-Hülle, Dach und Fassaden sind zusammen 471 m2 gross, liefern übers Jahr sechsmal so viel Energie, wie lokal benötigt wird.

Mehr zum Thema in TEC21 7/2023 «Energiewende am Kipppunkt».

Selbst in den Wintermonaten wird Überschuss erzeugt. Die Aufzeichnung der Stromzähler ergab für das erste Betriebsjahr: Lediglich an zwölf Tagen konnte das 24-Stundensaldo nicht ausgeglichen werden. Auf eine Batterie zur Überbrückung der Tag-Nacht-Bilanz wird vorest verzichtet; wie üblich gleicht der Netzanschluss temporäre Mindererträge aus.

Unterschiedlich geneigt und ausgerichtet

Zwar umrahmen hohe Gipfel das Puschlav, und die Sonne scheint im Hochwinter weniger als sechs Stunden ins Tal. Doch die nebelfreie Lage reicht, um die Strahlungsenergie durch die sechs unterschiedlich ausgerichteten, geneigten bis vertikalen PV-Flächen zu nutzen. Sie fangen den Sonnenschein zwischen Aufgang und Dämmerung optimal ein: Zuerst liefern die Nord- und Ostfassaden, bevor die Stromproduktion am Süddach beginnt. Letzteres kann mit der Fassade darunter nicht immer mithalten: Im Winter gewinnt die vertikale PV-Fläche mehr Strom aus den Strahlen als das Neigedach mit identischer geografischer Orientierung. Am späten Nachmittag schalten sich die Westseite und abermals die Nordseite zu. Deren Erträge helfen mit, die jeweils steile Mittagskurve eines Solardachs in den Randstunden zuvor und danach zu ergänzen.

Der selbst produzierte Strom wird im Wohnhaus zweiwertig genutzt: das meiste für die Wärmeversorgung und der Rest für die Beleuchtung oder den sonstigen Bedarf zum Wohnen. Im Haushalt fliesst Strom unmittelbar zum Verbraucher. Demgegenüber ist die Energiezufuhr für das Heiz- und Warmwassersystem getaktet: Die Aussenluftwärmepumpe (Leistung: 2.8 kW) läuft nur, wenn Solarstrom produziert wird. Zur Speicherung der umgewandelten Wärme dient ein 3000-l-Tank, der bereits im Vorgängerhaus stand. Dieser Wärmespeicher genügt, um den Bedarf für Warmwasser und Heizwärme auch im tiefen Winter für zwei Tage zu überbrücken. Erzeugen strahlende Sonnen­stunden dagegen mehr Eigenstrom als benötigt, lässt sich das Brauchwarmwasser kurzzeitig zum Schutz vor ­Legionellen aufheizen.

Speicher auf vier Rädern

Eine weitere Option für die zusätzliche Überschussverwertung: Sobald das bestellte Elektroauto ausgeliefert ist, fährt es mit Eigenstrom. Die heutigen Reserven sind zwölfmal grösser als für den eigenen Mobilitätsbedarf von 15 000 Jahreskilometern. Zudem schliesst die Auto­batterie die bisherige Versorgungslücke in der Nacht; ein bidirektionaler Hausanschluss mit dem Fahrzeug ermöglicht die flexible Energiespeicherung. Bauherr Vontobel hat bereits berechnet, wie sorgenfrei dies funktioniert: Um das sparsame Passivhaus zwischen Abenddämmerung und Morgengrauen zu versorgen, würde die Autobatterie genauso wenig Strom verlieren wie für eine Fahrstrecke von 40 km. Und wir lernen daraus: Der Weg ins Puschlav ist mit der Bahn zwar spektakulär, aber auch mit dem Auto bewältigbar. 

Ersatzneubau Wohnhaus Poschiavo GR

 

Bauherrschaft
Familie Vontobel, Poschiavo

 

Architektur / Baumanagement
Nadia Vontobel Architekten, Zürich

 

Elektroplanung / PV-Anlage
Vassella Energie, Poschiavo

 

PV-Montage
Caotec, Brusio GR

 

PV-Modulhersteller
Sunage, Balerna TI

 

Baujahr
2021

 

Energiebezugsfläche EBF
370 m²

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