«Treib­haus­ga­se­mis­sio­nen sind kein Ka­va­liers­de­likt»

Hilft eine CO2-Bilanzierung von Gebäuden dem Klima, oder lassen sich dadurch auch Effekte schönrechnen? Um die Treibhausgasemissionen bei Bau und Betrieb sachgerecht zu erfassen, braucht es Regeln. Rolf Frischknecht gibt Einblicke in die Methodik und die Pflege von Datengrundlagen.

Date de publication
08-04-2022

TEC21: Herr Frischknecht, Sie wirken in nationalen und internationalen Gremien für die Ökobilan­zierung von Gebäuden mit und sind Erstunterzeichner der Monte Verità Declaration. Was will die Deklaration?

Rolf Frischknecht: Sie fordert einen spezifischen Absenkpfad für den Gebäudebereich auf Netto-Null bis 2035. Der Gesetzgeber muss dafür den Treibhausgasausstoss von Gebäuden rechtlich verbindlich limitieren. Es braucht CO2-Grenzwerte für das Errichten, Betreiben und den Rückbau. Eine Bilanzierung der Treibhausgase darf sich also nicht auf standortspezifische Emissionen beschränken, sondern sollte alle Emissionen im Lebensweg eines Gebäudes erfassen. Um die Folgen des Klimawandels zu begrenzen, sind ähnlich tiefgreifende, umwelt­politische Einschnitte nötig wie das Phosphat­verbot oder die Einführung des Katalysators vor rund drei Jahrzehnten. Auch der Baubereich und die Baustoff­industrie behandeln Treibhausgasemissionen aber noch als Kavaliersdelikt.

Sie haben eine Prognose für das Bundesamt für Energie erstellt, wonach die grauen Treibhausgas­emissionen von Gebäuden deutlich gesenkt werden können. Ist die Branche nicht doch gut unterwegs?

Die Ergebnisse lassen tatsächlich hoffen. Die spezifischen Treibhausgasemissionen aus der Produktion von Beton, Stahl oder Holz können halbiert oder auf einen Viertel reduziert werden. Aber das reicht für das Ziel der Klima­neutralität bei Weitem nicht. Eine weitere Krux ist: Die Prognosen basieren auf Angaben, wie sich die Baustoffindus­trie die künftige Fabrikation selbst vorstellt. Ob die dazu erforderlichen Massnahmen umgesetzt werden, ist unsicher und vor allem eine Frage der Finanzierung. Vieles hängt davon ab, wie die Technik zur Abtrennung und permanenten Speicherung von Treibhausgasen verfügbar ist und zum Beispiel in einem Zementwerk installiert wird. Damit sich die Baustoffindustrie bewegt, braucht es andere politische und allenfalls finanzielle Rahmenbedingungen. CO2-Grenzwerte für Gebäude wären dazu hilfreich. Die Teilrevision des nationalen Umweltschutzgesetzes schlägt dies aktuell vor.

Der Baustoffmarkt ist international. In der EU können Umweltauswirkungen und CO2-Emissionen von Bauprodukten mit der Umweltproduktedeklaration ausgewiesen werden. Sind die Angaben auch für Gebäudebilanzierungen in der Schweiz einsetzbar?

Die inländische Branche kann schon lange auf freiwillige Planungsinstrumente und Label­systeme zurückgreifen, um den CO2-Fussabdruck von Gebäuden zu bilanzieren. Der Standard SIA 2040 Effi­zienzpfad Energie legt sogar für den CO2-Ausstoss bei Erstellung und Betrieb Zielwerte fest. Dafür stellt die Koordinationskonferenz der Bau- und Liegenschaftsorgane der öffentlichen Bau­herren (KBOB) zusammen mit dem Verein ecobau und der Interessengemeinschaft privater profes­sio­neller Bau­herren Grundlagendaten zur Verfügung. Per Ende März wurden die Ökobilanzdaten in gewissen Bereichen an die europäischen Regeln angepasst. Die nun verfügbare Version 2022 weist den Gehalt von biogenem Kohlenstoff in Baustoffen genauso aus wie die EU-Norm für die Produkt­deklaration.

Wirtschaft und Politik fordern, dass Baustoffe aus biogenen Quellen, also nachwachsende Rohstoffe, als CO2-Senke berücksichtigt werden. Inwiefern kann man diesen Speichereffekt bilanzieren?

Eine Senke hilft nur, das 1.5°-Klimaziel zu erreichen, wenn biogenes CO2 permanent aus der Atmosphäre entfernt, fixiert und endgelagert wird. Ist es temporär in einem Bauteil oder im Gebäude gebunden, gelangt es früher oder später wieder in die Atmosphäre. Eine Bilanz bildet den relativ kurzen Zeitraum von 60 bis 100 Jahren ab, weshalb der im Baustoff gebundene Kohlenstoff einem Gebäude weder als Gutschrift noch als Negativ­emission angerechnet werden sollte. Einen Vorteil hat die temporäre Speicherung trotzdem: Die Baubranche gewinnt kostbare Zeit. Sie gewinnt Zeit bis zum Rückbau eines Gebäudes, um Technologien für das Abscheiden und Endlagern des darin gespeicherten CO2 marktreif zu entwickeln und zu installieren.

Gibt es keine anderen Möglichkeiten, um solche Speichereffekte gewinnbringend einzusetzen?

Der Klärungsbedarf scheint mir unbestritten. Wenn die Politik Netto-Null verlangt, muss sie Gewissheit haben, wie verbleibende Emissionen dauerhaft und sicher zu neutralisieren sind, unter anderem mit negativen Emissionstechnologien. Vor Kurzem hat EnergieSchweiz eine Studie über das «klimapositive Bauen» veröffentlicht, die den Speichereffekt von Bauprodukten aus nachwachsenden Rohstoffen als negative Treibhausgasemission thematisiert. Eine solche Gutschrift ist risikoreich: Der Effekt ist nur wirksam und anrechenbar, wenn die Speicherung langfristig und rechtlich verbindlich garantiert ist. Zum Beispiel verpflichtet sich ein Hauseigentümer in einem Grundbucheintrag dazu, den gespeicherten biogenen Kohlenstoff nicht wieder in die Atmosphäre freizusetzen. Beim Ersatz von Bauteilen beziehungsweise am Ende des Gebäudelebenszyklus muss er entweder den Baustoff weiterver­wenden oder den Kohlenstoff permanent endlagern. Aber ob temporäre Kohlenstoffsenken massgebend zur Einhaltung des 1.5-Grad-Ziels beitragen, ist aus meiner Sicht sehr unsicher.

Die Grenzen des Bauens
Letzten Herbst haben über 40 Wissenschafterinnen und Wissenschafter aus Europa, Nord- und Südamerika sowie Asien an einem Treffen in Locarno eine gemeinsame Erklärung über das klimaneutrale und umweltgerechte Bauen verabschiedet. Die «Monte Verità Declaration» listet Empfehlungen auf, wie Gebäude und Bauwerke errichtet und betrieben werden können, ohne die planetaren Grenzen zu übertreten. Zu den Forderungen an die Politik gehören rechtlich verbindliche Grenzwerte für Treibhausgase, die beim Errichten, Betreiben und Rückbauen von Gebäuden verursacht werden. Gleichzeitig sollen die Länder ihre bauspezifischen CO2-Emis­sionen bis 2035 auf Netto-Null senken. Die Forscherinnen und Forscher, die sich mit Lebenszyklusanalysen im Bau- und Energiebereich beschäftigen, adressieren ihre Botschaft an Akteure aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung.

 

-> Monte Verità Declaration

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 11/2022 «Die Wette auf das Klima».

Étiquettes

Sur ce sujet