Hong­kong: Kul­tur auf künst­li­chem Grund

Auf der Westseite von Hongkongs Halbinsel West Kowloon entsteht eine Kulturmeile. Das sich im Bau befindende Museum M+ von Herzog & de Meuron, dessen Inneres einen Ausblick auf die Betonröhre des Airport Express umfasst, wird auch eine grosse Schweizer Kunstsammlung beherbergen.

Date de publication
20-09-2019

Noch immer zählt die Fahrt mit der Star Ferry über den Victoria Harbour zu den eindrücklichsten Erlebnissen jedes Aufenthalts in Hongkong. Seit 1972 der erste Strassentunnel eröffnet wurde, gibt es schnellere Verbindungen zwischen Hong Kong Island und der Halbinsel Kowloon; zwei weitere Strassentunnel sind hinzugekommen, und ausserdem queren mehrere Metrolinien den Hafen. Doch wer das eindrucksvolle Stadtpanorama mit dem Victoria Peak und der Kette der Hochhäuser zu seinen Füssen erleben möchte, wählt die siebenminütige Überfahrt mit den doppelgeschossigen weiss-grünen Fähren.

Dort, wo der Boden bebaubar ist, wächst Hongkong in die Höhe. Und da Land eine knappe Ressource ist, wird seit dem 19. Jahrhundert durch Aufschüttungen ständig neue Fläche geschaffen. Der Finanzdistrikt auf Hong Kong Island steht auf Terrain, das in den vergangenen Jahrzehnten dem Meer abgerungen wurde. Und auch die Uferfront von Kowloon verändert derzeit massiv ihr Gesicht. Landaufschüttungen im Westen der Halbinsel waren nötig, als der neu angelegte Flughafen Chek Lap Kok 1998 den alten Kai Tak Airport mit seiner berüchtigten, in den Victoria Harbour ragenden Piste ersetzte.

Platz geschaffen wurde unter anderem für die Kowloon Station des Airport Express und die Flughafenautobahn, die durch den Tunnel der ­Western Harbour Crossing weiter nach Hong Kong Island führt. Die MTR Corporation, Betreiberin des Airport Express und der U-Bahnlinien in Hongkong, war massgeblich an den Infrastrukturprojekten beteiligt – und auch an der kommerziellen Entwicklung. Rund um den Union Square über der Kowloon Station und der Shoppingmall «Elements» ist zwischen 2000 und 2010 ein Hochhauscluster entstanden, dominiert vom International Commerce Centre (ICC), mit 484 m der höchste Wolkenkratzer Hongkongs. Sie sind letztlich eine Folge des neuen Flughafens, denn bis zur Schliessung des Kai Tak Airport galt eine Höhenbegrenzung für Kowloon.

Verbindung zu China

Neben dem ICC eröffnete Ende des letzten Jahres die West Kowloon Station, entworfen von Andrew Bromberg, Design Principal des global agierenden Architekturkonzerns Aedas, der 2007 aus dem Zusammenschluss dreier Architekturbüros aus Grossbritannien und Hongkong entstanden ist. Die West Kowloon Station, Endstation für die Hochgeschwindigkeitszüge aus Festland-China, ist funktional betrachtet ein riesige Abfertigungsmaschinerie, die mit ihren Zonen für Gepäckkontrolle, Zoll und Pass sowie den Boardingbereichen einem Flughafen eher verwandt ist als dem Bild eines traditionellen Bahnhofs – allerdings geht es hier nicht in die Luft, sondern in einen Tunnel, der 25 m unter Erdbodenniveau liegt und durch den man im Zug in 14 Minuten nach Shenzhen gelangt.

So unverzichtbar der Anschluss Hongkongs an das chinesische Hochgeschwindigkeitsnetz auch ist: Die neue Verbindung stösst in der ehemaligen britischen Kronkolonie nicht nur auf Gegenliebe. Wie auch die Ende 2018 eröffnete Hongkong-Zuhai-­Macau-Brücke wird sie von Kritikern als Beispiel dafür gesehen, dass die chinesische Regierung Hongkong mit seinem Sonderstatus immer enger an das Festland anbindet. Eine Befürchtung, die in den aktuellen Protesten gegen die Regierungschefin Ausdruck findet.

Auch wenn die Züge in der untersten Ebene unsichtbar bleiben, gelang es Bromberg, dem Bahnhof zum visuellen Auftritt in der Stadt zu verhelfen. Eine gewaltige Stahl-Glas-Konstruktion wölbt sich über das in den Untergrund eingeschnittene Atrium – mit einem Scheitelpunkt 45 m über der Departure Hall in der Tiefe. 175 m lange Trägerstrukturen bilden das Dachtragwerk; Rampen und Treppen bis auf den höchsten Punkt des Gebäudes, Büsche, Sträucher und sonstige Begrünung bilden einen grossartigen Park, von dessen Spitze aus Hong Kong Island mit seiner imposanten Uferfront in den Blick gerät.

Museum M+ auf Kowloon

Die eigentliche Ikone des Kulturquartiers am Ufer zum Victoria Harbour dürfte das neue, von Herzog & de Meuron entworfene Museum M+ werden. Wenn man mit der Star Ferry von Hong Kong Island nach Kowloon übersetzt, wirkt der Rohbau vor dem Hintergrund des ICC fast bescheiden. Doch aus der Nähe und bei einem Rundgang über die Baustelle werden die gewaltigen Dimensionen des Gebäudes deutlich. Die Nutzfläche umfasst 65 000 m2 und gliedert sich in ein weit ausgreifendes Sockelbauwerk mit Ausstellungsflächen und in eine darüber ­aufragende, 14-geschossige Hochhausscheibe. In dieser finden sich Räume für die Kuratoren und die Verwaltung und zuoberst auf drei Ebenen Restaurants. Zwei weitere Bauten ergänzen den M+-­Komplex: ein weitgehend fensterloses, 59 m hohes Magazingebäude mit Restaurierungsateliers und Labors in den obersten Geschossen; und ein kommerziellen Nutzungen vorbehaltenes, 87 m hohes Volumen, das neben sechs Ebenen für Geschäfte auch zehn Bürogeschosse umfasst.

Der grösste Coup, den M+ bislang in seiner kurzen Geschichte verbuchen konnte, war die Entscheidung von Ueli Sigg, den grössten Teil seiner unvergleichlichen Sammlung zeitgenössischer chinesischer Kunst dem M+ zu schenken, das damit nicht bloss eine Hülle, sondern auch eine Seele bekommen hat. Doch das M+ widmet sich neben der bildenden Kunst auch dem Film, dem Design und der Architektur des 20. und 21. Jahrhunderts. Und dabei richtet sich der Fokus nicht nur auf Asien: Im vergangenen Frühjahr erwarb das Museum für 1.8 Mio. Pfund das Archiv der britischen Architektengruppe Archi­gram. Aktuellen Informationen zufolge verhandelt das M+ derzeit über den Nachlass von Arata Isozaki, dem diesjährigen Pritzker-­Preis­träger. Auch in Japan gibt es kein nationales Architekturmuseum oder -archiv.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 38/2019 «Hongkong zwischen Moderne und Vergangenheit».

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