Ein Wahr­zei­chen wird 50

Lochergut Zürich

Wie keine zweite Wohn- und Geschäfts­überbauung zeugt das Lochergut in Zürich von Modernität und städtebaulichem Aufbruch um 1960. Doch woher stammt die einzigartige Erschliessungs­typologie des «Wohngebirges» – und wer war dessen Architekt Karl Flatz?

Publikationsdatum
25-08-2016
Revision
25-08-2016

Mit seinen 351 Wohnungen und einer Höhe von 62.5 m ist das Lochergut Ausdruck einer neuen Dimension des Wohnungsbaus im Zürich der frühen 1960er-Jahre. Die kommunale Überbauung ist aber weit mehr als ihre charakteristische Silhouette. Sie umfasst ein grosses Areal mit verschiedenen Bauten und Nutzungen, das inselartig abgeschlossen wirkt. Das liegt am Innenhof, der sich mehrere Meter über dem gewachsenen Terrain befindet. Aus heutiger Sicht ist die Abkopplung vom Strassen­niveau ein Nachteil, sie war aber so gewollt, damit eine «Insel der Erholung»1 entsteht.

Insel im Stadtgefüge

Karl Flatz ging 1959 siegreich aus dem Wettbewerb hervor. Mit den ­niedrigeren Bauten im Westen des Areals suchte er in Körnung und Massstäblichkeit eine Annäherung an den Quartiercharakter; die Hochhausscheibe dagegen fungiert als riegelartiger Abschluss der Überbau­ung an der Ostseite. Ihre Zeichenhaftigkeit zeigt sich ins­be­sondere vom Bahneinschnitt aus – das gut 110 m lange Gebäude markiert den Übergang von den Aussenquartieren zur Innenstadt. Der Hauptzugang erfolgt von der Badenerstrasse aus – dort erneuerten pool Architekten 2006 das Geschäftszentrum.

Markant ist insbesondere die Form des Wohnhochhauses. Das bis 22 Geschosse hohe Gebäude überragt die angrenzenden Blockrandbebauungen deutlich. Weil sich keine weiteren Hochhäuser in der Umgebung befinden, wirkt das Lochergut noch immer als singu­läres Monument der Hochhaus­euphorie der 1960er-Jahre in diesem Teil der Stadt. Heute würde an dieser Stelle gemäss Richtlinien des Amts für Städtebau zum Bau von Hochhäusern allenfalls ein 40 m hohes Gebäude toleriert, und auch dies nur dann, wenn es sorgfältig in das Stadt­gefüge eingesetzt würde.2 

Genau dieses Gespür für den richtigen Massstab sprach der Regierungsrat des Kantons Zürich dem Projekt ab und verweigerte zunächst die Ausnahmebewilligung. Erst eine nochmalige Reduktion um drei Geschosse der gegenüber dem Wettbewerb bereits um drei Etagen niedrigeren Baueingabe wurde genehmigt. In der Tagespresse ebenso wie von Fachleuten wurden soziale Bedenken geäussert und die ungewohnt grosse Baumasse kritisiert. Die hohe Ausnützung war im Wettbewerbsprogramm explizit gefordert (Wettbewerb 2.4, Ausführung 1.9), da wegen der Wohnungsnot möglichst dicht gebaut werden sollte.

Einzigartige Typologie

Die Gliederung der Hochhausscheibe zusammen mit der innovativen Wohnungserschliessung machen das Lochergut einzigartig. Bei der Volumetrie handelt es sich um einen hybriden Typ: Sieben Punkthochhäuser unterschiedlicher Höhe sind, im Grundriss gegeneinander versetzt, zu einem durchgängigen Körper zusammengeschoben. Jeweils zwei Punkthäuser teilen sich eine Vertikalerschliessung. So oszilliert das Gebilde zwischen Punkt- und Scheibenhaus, indem es einen dritten Typ etabliert, der treffend als «gebirgähnlich»3 bezeichnet wurde. In der Folge avancierte dieses Motiv zur gängigen Art einer plastischen Gliederung von Grosssiedlungen.

Ein mögliches Vorbild für die Höhenstaffelung stammt von Armin Meili. Unter dem Titel «Braucht Zürich Hochhäuser?» publizierte er 1950 in der NZZ eine dreiteilige, von ihm selbst illustrierte Artikelserie.4 Dabei findet sich in einer Skizze neben gängigen Hochhausformen auch ein treppenförmiges Volumen, das entfernt an das Lochergut erinnert.

Einzigartig ist das Erschlies­sungssystem der Hochhauswohnungen: Jedes dritte Geschoss verfügt über kurze Laubengänge links und rechts von Lift und Treppe. Pro ­Laubengang sind sechs Wohnungseingänge direkt nebeneinander angeordnet. Jeweils drei bilden eine Einheit und bedienen die Wohnung auf der Ebene des Laubengangs beziehungsweise mittels einläufiger Treppe die Wohnung im Geschoss darüber und darunter. Die Anordnung ist ebenso raumsparend wie elegant. Sie verhilft allen Wohnungen zu zweiseitiger Orientierung und den Fassaden zur Seebahnstras­se zu einer abwechslungsreichen Gliederung.

Auch bezüglich Erschlies­sungsprinzip stellt sich die Frage nach Vorbildern. Am wahrscheinlichsten ist, dass Flatz von Johannes Hendrik van den Broeks und Jacob Berend Bakemas Projekt eines Wohn­hochhauses für die Interbau in Berlin 1957 inspiriert worden war, das im Januar desselben Jahres in «Bauen + Wohnen» abgedruckt wurde.6 Dieses Projekt mit seinen zwei mal vier nebeneinander liegenden Wohnungseingängen und zweiseitig belichteten Split-Level-Einheiten wurde von den Zürcher Architekten genau studiert. Davon zeugen auch die Wettbewerbsbeiträge für das Lochergut im 3., 5. und 6. Rang, die dem niederländischen Beispiel sehr nah kommen. 

Karl Flatz, der grosse Unbekannte

So bekannt das Lochergut ist, über seinen Architekten fanden sich bislang kaum Informationen. Dies ist erstaunlich, hat doch Karl Flatz gerade in der Stadt Zürich viel gebaut – etwa das Elektrotechnische Institut der ETH an der Gloriastrasse (ab Mitte 1960er-Jahre) oder das Kirchgemeindehaus Hottingen (1959, Auszeichnung «Gute Bauten»). Flatz wurde am 5. September 1915 in Teufen geboren. Er besuchte in Winter­thur das Technikum und arbeitete anschliessend bei Roland Rohn. Dort lernte er Kurt Zehnder kennen, mit dem er 1941 ein gemeinsames Büro eröffnete.

Nach Zehnders Tod zwei Jahre später führte Flatz das Architekturbüro allein weiter: bis 1978 in Zürich, später in seinem Wohnhaus in Utikon-Waldegg, das er 1942 erbaut und 1969 stark erweitert hatte. Hier starb er kurz nach seinem 80. Geburtstag am 12. Ok­tober 1995.7 Flatz war eine starke ­Persönlich­keit mit grossem Durchsetzungsvermögen. Seine ­Beharrlichkeit zeigte sich beispielsweise darin, dass er in den 1960er-Jahren in Latsch ob Bergün Land kaufte, aber rund 20 Jahre kämpfen musste, bis er die Baubewilligung für sein Ferienhaus erhielt.

Mit der Lochergut-Überbauung ist Karl Flatz ein ebenso prägendes wie kontrovers disku­tiertes Werk gelungen, das bis heute fasziniert. Kein Wunder, gehörte Max Frisch zu den ersten Mietern, hatte er doch 1953 nach seiner Rückkehr aus Amerika geschrieben: «Mit Freude steht der Heimkehrende vor den ersten zürcherischen Hochhäu-­sern; auch wenn man nicht sagen kann, dass sie ragen, so zeigen sie doch bereits, wie viel Himmel es noch gäbe auch über der Schweiz, wenn wir uns nicht ducken würden.»8

Anmerkungen

1 wsp: Die Überbauungsvorschläge für das Lochergut, in: Neue Zürcher Zeitung 21. 7. 1959. 

2 Hochbaudepartement der Stadt Zürich; Amt für Städtebau: Hochhäuser in Zürich. Richtlinien für die Planung und Beurteilung von Hochhausprojekten, Zürich, aktualisierte Neuauflage 2012, S. 5.

3 Wettbewerb für die Ueberbauung des Lochergutes in Zürich-Aussersihl, in: Schweizerische Bauzeitung 36/1959, S. 575.

4 Armin Meili, Braucht Zürich Hochhäuser?, in: Neue Zürcher Zeitung 8., 9., 11. 12. 1950.

5 Flatz war gemäss seiner Tochter langjähriger NZZ-Abonnent, sodass er diese Publikationen wohl kannte.

6 Ernst Zietschmann, Projekt für ein Miethochhaus im Hansaviertel Berlin Interbau 1957, in: Bauen + Wohnen 1/1957, S. 25.

7 Alle Angaben zur Biografie von Ursula Oberholzer, Tochter von Karl Flatz, 3. 2. 2016.

8 Max Frisch, Cum grano salis. Eine kleine Glosse zur schweizerischen Architektur, in: Werk 10/1953, S. 326.

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