«Ein Teil des mensch­li­chen Ha­bi­tats»

Interview mit Anna Heringer und Martin Rauch

Anna Heringer und Martin Rauch sind Honorarprofessoren an der Universität Grenoble, sie haben dort je einen UNESCO-Lehrstuhl für Lehmarchitektur inne¹. Mit dem Material haben sie Projekte unter anderem in Bangladesch und in der Schweiz umgesetzt. TEC21 befragt sie zu der alternativen Bauweise und zu ihren sozialen, politischen und kulturellen Aspekten. Dabei wird deutlich, dass auch Lehmbaubefürworter unterschiedlicher Meinung sein können.

Publikationsdatum
11-07-2013
Revision
30-10-2015

TEC21: In Asien und Afrika werden moderne Bauten nach europäischen Standards erstellt, obwohl sie nicht den lokalen Bedingungen entsprechen und daher klimatisiert werden müssen. Materialien und Techniken werden teuer importiert. Das macht die Bauten in ihrer Umgebung zu Fremdkörpern. Vernakuläre Architektur geht dagegen verloren. Weshalb 
Anna Heringer (A.H.): Der Lehmbau verschwindet, weil sich die Menschen die Bauweise der nördlichen Hemisphäre zum Vorbild nehmen. Folglich geraten die sogenannten Entwicklungsländer in fatale Abhängigkeiten: Sie müssen teure Materialien aus Ländern importieren, in denen das Bauen hochindustrialisiert und kostenintensiv ist. An dieser Misere trifft die Entwicklungszusammenarbeit eine Mitschuld, denn sie blendet die lokale Situation im Baubereich oft aus. Für die Entwicklungshilfe steht meist die Vorhersehbarkeit eines Projekts im Vordergrund: Bauten aus Stahlbeton oder Zementbausteinen sind finanziell kalkulierbar. Das verringert das Risiko, dass etwas schiefgeht. Bei den lokalen, nicht standardisierten Techniken fehlt es dagegen – mittlerweile, so muss man sagen – an Wissen und an Fachkräften. Und dann ist da noch die Frage des Prestiges: Jene, die in Entwicklungsgebieten Wohlstand verkörpern, bauen mit Beton und Stahl. Da ist es naheliegend, dass auch die breite Bevölkerung diese Bauweisen für besser hält als lokale Techniken.

TEC21: In Kairo und seiner Agglomeration gibt es 20 Mio. Einwohner bei einer Verstädterungsrate² von über 4 %. Allein in Ostafrika braucht es hunderttausende Wohnungen. Wäre Lehm für derart grosse Siedlungen eine gute Wahl 
Martin Rauch (M.R.): Es gibt viele interessante Lehmstrukturen in städtischen Gebieten, die bis zu acht Stockwerke hoch sind. In Marokko haben früher auch die Reichen mit Lehm gebaut, Kasbahs3 sind bis zu 20m hoch. Aber man kann nicht einfach Beton durch Lehm ersetzen. Eine moderne Lehmarchitektur würde anders aussehen als die traditionelle und andere städtebauliche Regeln generieren. Natürlich kann man das Rad nicht zurückdrehen und alles mit Lehm bauen. Es wäre aber gerade in Kairo möglich, häufiger mit ungebrannten Ziegeln und in dickeren Dimensionen zu bauen. Das bringt handfeste Vorteile gegenüber Bauten aus Stahlbeton oder Zementbausteinen, die zur Kostenoptimierung mit möglichst dünnen Wänden ausgeführt werden. Dickere Lehmmauern halten die Hitze besser ab, die Räume müssen nicht klimatisiert werden. Eine Klimaanlage können sich ohnehin nur die wenigsten Bewohner leisten.

TEC21: Die Kosten sind ein gutes Stichwort. Lehm ist meist günstig zu beschaffen, aber zum Verhältnis von Maschineneinsatz und Handarbeit gibt es unterschiedliche Positionen. Sie, Herr Rauch, entwickeln Maschinen zur Stampflehmverarbeitung. Das spart Arbeitskraft und ist günstiger, was dem Lehmbau in Mitteleuropa zu Akzeptanz verhelfen könnte. Frau Heringer dagegen plädiert für den Lehmbau von Hand. Wieso 
A. H.: Zunächst ist die gängige Baupraxis qualitativ zu hinterfragen. In Indien und Bangladesch gibt es mehrstöckige Betonbauten, deren Armierungen nach kurzer Zeit rosten, weil der Zement mit ungewaschenem Sand gemischt wurde. Die Bauten stehen schnell, aber es besteht Einsturzgefahr, wie das jüngste Beispiel der Textilfabrik in Bangladesch gezeigt hat. Weiter sind die Ressourcen Arbeitskraft und Zeit in Entwicklungsgebieten ausreichend vorhanden.
Den Rohbau der METI-Schule4 in Bangladesch haben wir in vier Monaten erstellt – mit 30 Personen ohne Maschinen. In Europa würde man das mit Maschinen und sechs Leuten machen. Vergleichen wir die Kosten: Dort hat das Projekt 4500 Euro gekostet, hier wäre es das Zehnfache. Zement kostet in Bangladesch zwar fast gleich viel wie bei uns, aber die Arbeitskraft ist im Vergleich viel billiger. Für den Gegenwert eines Sacks Zement muss ein Facharbeiter in Bangladesch drei Tage arbeiten, einer in der Schweiz dagegen nur ein paar Minuten. Kurz und gut: Ich finde es sinnvoll, auf Handarbeit statt auf Automatisierung zu setzen. Denn für mich ist die Frage der Arbeitskräfte auch eine politische. Ich wage eine These: Ohne Arbeit werden religiöser Fundamentalismus und Aggressionen zunehmen. 
In Entwicklungsgebieten böte die Baubranche ein grosses Beschäftigungspotenzial, wenn sie handwerklich produzieren würde. Überspitzt gesagt: Andernfalls muss man das, was man durch die Automatisierung spart, in Antiterrorprogramme investieren. Die modernen Transportmöglichkeiten begünstigen die weltweite Bevölkerungswanderung. Deshalb müssen wir die Menschen überall auf der Welt fundiert in Handwerksberufen ausbilden. Wenn sie dann wirklich in die Industrieländer auswandern, bringen sie ein reiches Wissen mit, können unsere Häuser handwerklich erstellen und haben Arbeit. Dann schaffen wir es, nachhaltige und qualitativ hochwertige Lebensräume zu bauen. Das ist meine liebste Zukunftsvision.

M. R.: Anna, ich muss da etwas korrigieren: Du hast in Bangladesch auch eine Bohrmaschine gebraucht. Aber darum geht es nicht. Meiner Meinung nach muss man den Lehmbau weiterentwickeln, um Schwerarbeit zu erleichtern. Zudem müssen wir differenzieren, von welchen Orten wir sprechen: Hierzulande sind grosse Lehmbauprojekte nicht ohne Maschinen umsetzbar. Nehmen wir als Beispiel die 29m breite und 111m lange Fabrikhalle für Ricola in Laufen, die wir bauen: Ohne Maschinen müssten dort 5000 Leute beschäftigt werden – und das im Hochpreisland Schweiz.
A. H.: Gut, ich kann mir schon vorstellen, dass die durch Maschinen ersetzte Arbeitskraft Freiräume schafft, um das Handwerk zu entwickeln.

TEC21: Der Lehmbau ist weder in Bangladesch noch in Europa als eigenständige Bauweise anerkannt. An der ETH Zürich setzen sich derzeit nur zwei Lehrstühle mit dem Thema auseinander. Wo liegt das Problem, und was muss sich ändern 
A. H.: Die Verantwortlichen an europäischen Universitäten sagen, dass sie keine Handwerker ausbilden. Aber diese Haltung verkennt, dass Lehm ein Baustoff ist, der praktische Erfahrung erfordert – nicht nur für den Bau, sondern auch für den Entwurf. Wer nur am Computer arbeitet und Material und Bauprozess nicht kennt, entwirft daher anders. Das hängt auch damit zusammen, dass Europäer eine andere Wahrnehmung haben, weil die hochtechnisierte Bauindustrie ihr Bild prägt. Diese trägt viel dazu bei, das ihre Produkte verbaut werden. Der Lehmbau hingegen hat keine Lobby. In Europa halten viele Lehmarchitektur für etwas Romantisches und Exotisches. Dabei lebt die Mehrheit der Menschen auf der Welt in Lehmbauten – nur geht das Wissen um die Technik vielerorts verloren, und die Qualitäten des Materials werden nicht mehr geschätzt. In Bangladesch und anderen südlichen Ländern verbinden die Menschen mit einem Lehmbau eine temporäre, minderwertige Behausung. 
An diesem Sachverhalt muss man arbeiten. Wenn Martin Rauch erzählt, dass er ein Luxushotel mit Lehmwänden baut, dann beeindruckt das die Leute in der breiten Bevölkerung und an den Universitäten. Es entsteht der überraschende Eindruck: Was die Europäer können, das würden wir auch schaffen. So kann sich die Wahrnehmung des Baustoffs wandeln.
M. R.: Beim Ricola-Projekt sind wir 13 Mitarbeiter, vier davon Architekten. Niemand arbeitet dort, weil er einen Job braucht, sondern weil er sich für Lehmbau interessiert. Ich bin überzeugt, dass alle Beteiligten auch in Zukunft mit dem Material bauen werden. Aber ich glaube auch, dass bereits Kinder mit Lehm spielen sollten und Bauhandwerker, Ingenieure und Architekten in ihrer Ausbildung das Thema genauso wie Beton behandeln müssen, damit es in Zukunft ein alltägliches Material wird.

TEC21: Bei Lehm wie bei Holz muss man mit dem Alterungsprozess, dem Verfall leben. In unseren Breiten scheint das oft ein Tabu zu sein – alles soll lange neu und hübsch sauber aussehen. Was entgegnen Sie solchen Bedenken 
M. R.: Ein Gebäude aus Lehm kann einfach mit Lehm repariert werden. Wenn es eines Tages verschwindet, hat es die Umwelt nicht belastet, und an seiner Stelle wachsen später wieder Nahrungsmittel. Es ist Teil des Zyklus des menschlichen Habitats.
A. H.: Viele Häuser reisst man bei uns nach 40 Jahren ab, und trotzdem baut man, als ob sie für die Ewigkeit wären. Lehmbauten sind erstens langlebiger als das, was heute in Mitteleuropa entsteht, und zweitens viel einfacher zu recyceln. Es wäre schön, wenn von einem Haus nichts übrig bliebe als Kompost und das Wissen, wie es gebaut wurde. Meist jedoch bleibt nur Müll für kommende Generationen. Das hat mich in Haiti so schockiert. Dort hat man mit dem Bauschutt nach dem Erdbeben Ebenen aufgeschüttet, auf denen neben den neuen Häusern nichts mehr wächst.

TEC21: Sie sind je Inhaber eines Unesco Chair of Earthen Architecture, also gewissermassen von der Weltgemeinschaft beauftragt, das Baumaterial zu schützen und weiterzudenken5. Wie sehen Sie die Zukunft 
M. R.: Generell steht bei der Unesco mehr Geld für die Renovation der alten, geschützten Bauwerke zur Verfügung als für moderne Forschung. Es fehlen jedoch die Experten für den Erhalt der alten Lehmbauten. Die moderne Entwicklung geht aber aus der traditionellen Technik hervor. Der Lehrstuhl und die Zusammenarbeit mit der Unesco sind für mich deshalb eine Gelegenheit, den Lehmbau weiterzuentwickeln. Nehmen wir den Betonfertigteilbau: Vor rund hundert Jahren begannen innovative Pioniere daran zu forschen, heute ist er Standard. Ich kann mir gut vorstellen, dass es mit dem Lehm in eine ähnliche Richtung geht. Den Weg werden letztlich ökologische und ökonomische Zwänge weisen.

Interviewpartner
Anna Heringer studierte Architektur an der Universität für Kunst und Design in Linz. Sie wurde bekannt durch ihr Diplomprojekt ­METI-School 2004, die sie zwei Jahre später in Radrapur, Bangladesch, zusammen mit der Architektin Eike Roswag realisierte. Für die Schule und das im Artikel abgebildete DESI-Projekt – eine Berufsschule für Elektriker – wurde sie mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. Ihre Zusammenarbeit mit Martin Rauch begann 2006. www.anna-heringer.com
Martin Rauch studierte Keramik an der Universität für angewandte Künste in Wien bei Matteo Thun und Maria Bilger-Perz. Seit 2003 ist er Dozent an der Universität für Kunst und Industriedesign in Linz und begleitet zahlreiche Architekturprojekte als Lehmbauexperte. www.lehmtonerde.at 
Beide Gesprächspartner sind seit 2010 Honorarprofessoren der Unesco für Lehmarchitektur mit Sitz in Grenoble. www.craterre.org

Anmerkungen 
1 CRATerre ist seit 1998 das offizielle Zentrum und der Lehrstuhl für Lehmarchitektur der Unesco an der Universität Grenoble. Gegründet wurde es 1979 durch das französische Kultusmi­niste­rium und die Unesco. Das Zentrum verfolgt drei Ziele: erstens das Studium und den Erhalt des Architekturerbes im Lehmbau, zweitens die Erforschung seiner Ökonomie und Produktion sowie drittens kostengünstiges Wohnen und nachhaltige Siedlungsentwicklung. www.craterre.org
2 Verstädterungsrate: jährlicher Zuwachs des Anteils der Stadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung. Die durchschnittliche Verstädterungsrate betrug 1990 weltweit 4.2 %.
3 Kasbah: eine Wohnfestung, die vor allem von ­reichen politisch engagierten Familienverbänden im arabischen Gebieten gebaut wurde. Viele bemerkenswerte Kasbahs befinden sich in Marokko.
4 Die METI-Schule (Modern Education and ­Training Institute) von Anna Heringer und Eike Roswag in Rudrapur, Bangladesch, gewann 2007 den Aga Khan Award für Architektur.
5 Die Unesco stuft Lehmbauten als bedeutend ein, drei von vier Welterbestätten bestehen aus diesem Material.

 

 

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