«Ein Neu­bau drängt sich nicht auf»

Gespräch über die laufenden Arbeiten

Um den Simplontunnel für die Zukunft fit zu machen, sind hohe Investitionen nötig. Dank der gut erhaltenen Bausubstanz, den beiden richtungsgetrennten Röhren und den bestehenden Querschlägen ist jedoch ein noch viel teurerer Neubau nicht nötig.

Publikationsdatum
03-09-2014
Revision
18-10-2015

TEC21: Sie investieren rund 200 Mio. Franken in einen über 100 Jahre alten Tunnel. Müssen hier die gleichen Normen und Sicherheitsstandards wie bei einem Neubau angewendet werden?
Werner Kradolfer: Für bestehende Tunnel gelten Ausnahmeregelungen. Die Querschnitte sind sehr eng. Deshalb gibt es Mindestvorschriften. Ein seitlicher Gehweg ist zwingend. In einem bestehenden Tunnel muss er 2.20m hoch und 1m breit sein, im Ausnahmefall darf man ihn auf bis zu 60cm verschmälern. Das haben wir gemacht. Zugute kamen uns die gerundeten Seitenwände des Tunnelprofils, wodurch der Handlauf den Gehweg nicht noch zusätzlich schmälert. Als Gehweg wird die Oberfläche des neuen 132-kV-Kabelblocks benutzt, der dazu um einige Zentimeter breiter gebaut wird als technisch notwendig. Das Bundesamt für Verkehr (BAV) hat die Ausnahmeregelungen bewilligt, da die baulichen Massnahmen sonst enorm umfangreich geworden wären. Die Normen zur Beleuchtung der Durchgänge, des Gehwegs und Handlaufs halten wir natürlich ein.

Das Konzept der Selbstrettung basiert auf der Flucht in die parallele Röhre. Dazu braucht es alle 300 bis 500m einen Durchgang. Reichen die vorhandenen Querschläge aus?
Kradolfer: Beim Bau vor mehr als 100 Jahren hatte die Unternehmung ungefähr alle 200m Querverbindungen schräg zur Tunnelachse erstellt, aus logistischen und lüftungstechnischen Gründen. Später wurden viele wieder verschlossen. 35 der noch vorhandenen Verbindungen werden nun als Fluchtwege benutzt. Allerdings können wir die vorgeschriebenen Abmessungen nicht überall einhalten. Die betroffenen Stellen werden entsprechend beleuchtet. Das ist vor allem für das Unterhaltspersonal wichtig. Um die Fluchtwegdistanz zu verringern, werden vier zusätzliche Verbindungen senkrecht zur Tunnelachse gebaut. 
Roland Heinzmann: Unter engsten Platzverhältnissen müssen Nischen für die speziell konstruierten Schiebetüren ausgebrochen werden. Wir haben vorab einen Musterquerschlag ausgebaut. So konnten wir noch in der Bewilligungsphase mit dem BAV das System testen. Bei 39 Querverbindungen lohnte sich der Aufwand für die vorgängige Spezialanfertigung einer der 78 mechanisch selbstschliessenden Brandschutztüren.

Der Tunnel verdankt seine zwei unabhängigen Röhren einem findigen Unternehmer, der diese Variante vorschlug. Ein Glücksfall für die heutigen Arbeiten?
Heinzmann: Das ist für den Betrieb und bezüglich Arbeitssicherheit von Vorteil. Wir können jeweils eine halbe Röhre sperren, um dort zu arbeiten. Die Züge wechseln in der Tunnelmitte in die andere Röhre. 
Kradolfer: Fraglich ist auch, ob man mit einer Röhre die Anforderungen an die Selbstrettung ohne aufwendige Zusatzmassnahmen hätte erreichen können. Es gibt andere, ältere Tunnel, in denen das nicht der Fall ist: Beim Albula- und Bözbergtunnel wird jeweils ein neuer Tunnel gebaut und der bestehende als Fluchtweg genutzt. Diese sind aber wesentlich kürzer als zwanzig Kilometer.

Welche Nachteile haben die zwei Röhren?
Kradolfer: Man hat die doppelte Arbeit bezüglich Unterhalt. Dafür hat man wiederum die Möglichkeit, für Unterhaltsarbeiten eine Röhre zu sperren. Wenn der Unterhalt in einer Röhre unter Betrieb gemacht werden müsste, wäre der Aufwand wahrscheinlich wieder grösser. 
Heinzmann: Ein Nachteil sind die höheren Kosten zum Beispiel für die doppelte Beleuchtung. Für den Betrieb und die Sicherheit gibt es nur Vorteile. Auch die Verfügbarkeit der Anlage im Ereignisfall ist besser.

Dennoch müssen Sie während der derzeitigen Arbeiten teilweise eine Tunnelröhre komplett sperren und während dieser Zeit den Betrieb zwischen Brig und Iselle einspurig führen. Wie wirkt sich das auf den Fahrplan aus?
Heinzmann: Wir wussten schon früh, dass wir Bauphasen haben, in denen es solche Sperrungen braucht. Der Verkehr muss dann teilweise über den Gotthard umgeleitet werden, da die Trassenkapazität auf der Simplonstrecke nicht ausreicht. 

Das ist logistisch tatsächlich möglich?
Kradolfer: Das ist logistisch und zeitlich eingeschränkt möglich und mit vielen Verhandlungen mit den beteiligten Bahnbetreibern verbunden. Eine Einschränkung gibt es: Über den Gotthard gehen nur Containerzüge. Güterzüge mit 4m Eckhöhe kann man nicht umleiten. Sie  müssen durch den Simplontunnel fahren können. 
Heinzmann: Hinzu kommt, dass auch am Gotthard gearbeitet wird. Während 2011 in Luino gebaut wurde, ging ein Teil des Verkehrs über den Simplon. Als wir 2012 mit der Instandsetzung angefangen haben, stellte man dort die Arbeiten ein. Diese Wechselwirkung zwischen der Gotthard- und der Simplonachse gibt uns die terminlichen Rahmenbedingungen vor. 2016 beginnen auf der Gotthardachse erneut intensive Arbeiten, dann müssen wir den Tunnel für den Betrieb komplett freigeben.

«Der Verkehr muss teilweise über den Gotthard umgeleitet werden, da die Trassenkapazität auf der Simplonstrecke nicht ausreicht.» 

Um dieses enge Zeitkorsett einhalten zu können, ist eine gute Bausubstanz hilfreich. Der Tunnel ist auf seiner gesamten Länge von 2 x 20km mit Natursteinen und im Gewölbe streckenweise mit Zementsteinen ausgemauert. Wie war die Ausgangslage für die Instandsetzung?
Kradolfer: Für sein Alter ist er in einem guten Zustand. Der Bau des Simplontunnels war wirklich eine Pionierleistung. Der Vortrieb der ersten Röhre bis zum Durchstich dauerte sieben Jahre. Vom Durchstich bis zur Inbetriebnahme verging nur ein Jahr; eine kurze Zeit für den Einbau der Bahntechnik. Rechnet man den fertigen Bau mit Bahntechnik etc. pro Kilometer, war man damals genauso schnell wie heute am Gotthard. Der Simplontunnel ist insofern schon ein aussergewöhnliches Ingenieurbauwerk. Und man muss bedenken, dass der Tunnel heute Teil einer Alpentransversalen ist – das ist nicht selbstverständlich. Man hat in den letzten Jahrzehnten viel investiert. Ein Grossteil der Arbeiten war aber nicht aufgrund der Bausubstanz nötig, sondern wegen Nutzungsänderungen. Man hat die Fahrbahn ersetzt und die Sohle abgesenkt. Aber der Tunnel hat natürlich auch Schwachstellen.

Handelt es sich dabei um die gleichen Schwachstellen wie vor 100 Jahren? In historischen Berichten liest man von heissen Quellen, Wasserzutritten von mehreren hundert Litern pro Sekunde und einer 40m langen Druckzone, in der der Vortrieb sehr schwierig war. 
Kradolfer: Ja, wir haben es auch heute mit grossen Quellschüttungen mit aggressivem und mineralisiertem Wasser zu tun. Das Wasser zersetzt zum Teil den Beton, und in den Entwässerungsleitungen lagert sich Kalk ab. Auch wenn die Leitungen ihre Lebensdauer noch nicht erreicht haben, werden sie jetzt ausgetauscht.
Heinzmann: Die Platzverhältnisse zwingen uns dazu, auf der Entwässerung einen Kabelrohrblock zu erstellen. Der Zugang zu den Leitungen ist dadurch erschwert, und sie können nicht mehr ohne Weiteres ausgewechselt werden (vgl. «Dauerhafte Speziallösung»).
Kradolfer: Die zweite Schwachstelle ist eine Druckzone, die auch nach 100 Jahren noch immer Deformationen der Tunnelröhre verursacht – bis zu 1mm pro Jahr. Diese Stelle wird periodisch vermessen und geprüft. Man musste in diesem Bereich schon wiederholt Gewölbesteine ersetzen, da der Druck auf die Steinkanten zu gross wurde und es zu Abplatzungen kam. Diese Schwachstelle wird bestehen bleiben. Ansonsten müsste man den Tunnel in diesem Bereich praktisch neu bauen. Aber weder Gebrauchstauglichkeit noch Tragsicherheit sind infrage gestellt. 
Heinzmann: Es ist ein lokales Problem. Wir reden hier von wenigen hundert Metern auf 20km mal zwei Röhren. Die an dieser Stelle regelmässig wiederkehrenden Reparaturen sind auf die gesamte Tunnellänge gesehen verhältnismässig klein.
Kradolfer: Diese Deformationen sind überdies gar keine Besonderheit. Wir kennen das auch von anderen Tunneln. Das Profil des Hauensteintunnels im Jura zum Beispiel verformt sich ebenfalls noch. Oder der wesentlich jüngere Adlertunnel, der durch quellenden Gipskeuper enorm beschädigt wurde. 

«Es ist nicht selbstverständlich, dass dieser Tunnel heute Teil einer Alpentransversalen ist.»

Bei Ihren Ausführungen war die Erweiterung des Lichtraumprofils kein Thema. Wurde dazumal so grosszügig gebaut, dass es den heutigen Anforderungen noch genügt?
Heinzmann: Wir sind am absoluten Minimum. Gegenüber dem neuen Gotthardbasistunnel haben wir hier mit 24m2 etwas mehr als die Hälfte der dortigen lichten Querschnittsfläche von 41m2. Bereits früher wurden spezielle Fahrleitungssysteme mit Konzessionen an die Höhe eingebaut. Die gesamte Stromversorgung brauchte Sonderkonstruktionen der Ausleger und der Fahrleitungstragwerke. Wo es zu eng war, wurden Nischen gebaut, um die Tragwerke unterzubringen.
Kradolfer: Die Sohlenabsenkung für den Huckepackkorridor und die aktuell in der Tunnelstation noch vorzunehmende Absenkung um 20 bis 30cm war das, was man ohne Gewölbeunterfangung gerade noch verantworten konnte. Zum Teil wurden permanente Verankerungen eingebaut. Betreffend Kabelblöcke und Entwässerung ging man Kompromisse ein, um nicht bis direkt an den Fels abspitzen zu müssen. Im Simplontunnel ist die Fahrbahn nicht regelkonform. Die Sohle ist zu hart, die Ausgleichsschicht fehlt. Die elastischen Holzschwellen liegen auf nur 25 bis 30cm Schotter, mit Betonschwellen ginge das gar nicht. Das wirkt sich auf die Fahrdynamik und die Abnutzung aus, und damit steigt der Unterhaltsbedarf.

Hat sich die Sohlenabsenkung auf die historischen und noch originalen Portalbereiche ausgewirkt? Beim Albulatunnel ist das ein grosses Thema.
Kradolfer: Wir haben Glück, dass die Portale nicht voll im Kurvenradius liegen. Die Portalbauwerke sind deshalb im Original erhalten geblieben. Im Anfahrtsbereich waren aufwendige Arbeiten notwendig. Wir mussten uns an die Lage der Gleise ausserhalb des Tunnels anpassen. Und im Tunnelinnern musste man das Gewölbe auf einer Seite massiv aufweiten, weil die Kurvenüberhöhung und die Ausbaugeschwindigkeit nicht mehr ausreichten. 

Aber alles lohnt sich und wird genehmigt, weil die Alternative ein Neubau wäre?
Heinzmann: Ja, und der wäre deutlich teurer. Ein Neubau drängt sich also nicht auf.

TEC21: Die SBB und die Firma Rothpletz, Lienhard + Cie AG sind seit Ende der 1890er-Jahre in das Projekt involviert. Können Sie auf Akten oder Erfahrungen von damals zurückgreifen? Und was bedeutet die jahrzehntelange Beteiligung für Sie 
Heinzmann: Wir haben das Glück, eine Firma als Planer zu haben, die schon beim Bau der Anlage dabei war und seitdem immer wieder Aufträge für uns ausgeführt hat. 
Kradolfer: Es ist etwas Besonderes, wenn man ein Projekt so lang begleiten darf. Wir freuen uns, dass wir bei dieser öffentlichen Ausschreibung den Zuschlag erhalten haben. Natürlich gibt es bei 40km Tunnel auch für uns immer wieder Überraschungen. Wir waren nicht immer dabei, und Wissen von vorgängigen Sanierungen fehlt uns. In den vielen historischen Akten, die uns vorliegen und die wir über die Jahre alle aufbewahrt haben, können wir zum Beispiel die geplante Lage der Rohre sehen, doch direkt auf der Baustelle wurden oft Entscheidungen getroffen, die nicht dokumentiert sind. Das war dazumal nicht anders als heute.

Literatur
Schweizerische Bauzeitung, Band 24, Nr. 18 (S. 123–127), Nr. 19 (S. 128–134), Nr. 20 (S. 137–138), Nr. 21 (S. 144–149), 1894, «Simplon-Tunnel».

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